Europarecht. Bernhard Kempen
v. Czege (Hrsg.), Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union – Perspektiven und Engpässe, 2000; M. Knauff, Die Erweiterung der Europäischen Union auf Grundlage des Vertrags von Lissabon, DÖV 63 (2010), 631; M. Niedobitek, Völker- und europarechtliche Grundfragen des EU-Beitrittsvertrages, JZ 59 (2004), 369; A. Ott/K. Inglis (Hrsg.), Handbook on European Enlargement – A Commentary on the Enlargement Process, 2002; M. Rötting, Das verfassungsrechtliche Beitrittsverfahren zur Europäischen Union und seine Auswirkungen am Beispiel der Gotovina-Affäre im kroatischen Beitrittsverfahren, 2009; E. Šarèeviæ, EU-Erweiterung nach Art. 49 EUV: Ermessensentscheidung und Beitrittsrecht, EuR 37 (2002), 461; J. Zeh, Recht auf Beitritt – Ansprüche von Kandidatenstaaten gegen die Europäische Union, 2002.
B › Beitritt (zur EU) (Matthias Knauff) › I. Allgemeines
I. Allgemeines
379
Seit ihrer Gründung hat die (heutige) EU die Zahl ihrer Mitgliedstaaten von sechs auf derzeit 28 gesteigert (→ Europäische Union: Geschichte). Obwohl der Beitritt von Staaten zur EU jeweils durch völkerrechtlichen Vertrag erfolgt, ist er seit dem Vertrag von Amsterdam (1997) auch Gegenstand europarechtlicher Regelungen. Art. 49 EUV enthält sowohl Vorgaben für das Beitrittsverfahren (Rn. 380–382) als auch materielle Anforderungen an die Beitrittskandidaten (Rn. 383–392).
B › Beitritt (zur EU) (Matthias Knauff) › II. Beitrittsverfahren
II. Beitrittsverfahren
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Das formelle Beitrittsverfahren beginnt mit dem Antrag des beitrittswilligen Staates auf Aufnahme in die EU. Bereits zuvor findet jedoch zur Vorbereitung ein informelles Verfahren statt, an dem der beitrittswillige Staat, die EU und ihre Mitgliedstaaten beteiligt sind. Dieses zielt auf einen erfolgreichen Beitrittsprozess ab und kann ein → Assoziierungsabkommen als Zwischenschritt enthalten. Insbesondere erfolgt eine erste Bewertung der Erfüllung der materiellen Beitrittskriterien durch den beitrittswilligen Staat, um Anpassungsnotwendigkeiten zu identifizieren und die erforderlichen Änderungen anzustoßen. Mit dem Antrag tritt das Beitrittsverfahren aus seiner rechtlichen Informalität hinaus. Der Antrag auf Mitgliedschaft ist gem. Art. 49 UAbs. 1 S. 3 Hs. 1 EUV an den → Rat (Ministerrat) zu richten. Antragsberechtigt ist nach Art. 49 UAbs. 1 S. 1 EUV „[j]eder europäische Staat, der die in Art. 2 [EUV] genannten Werte achtet und sich für ihre Förderung einsetzt […].“. Die Qualifikation als europäischer Staat setzt seine geografische oder zumindest kulturelle Zugehörigkeit zu Europa voraus, woran 1987 das Beitrittsgesuch Marokkos scheiterte. Über den Antrag sind das → Europäische Parlament und die Parlamente der Mitgliedstaaten gem. Art. 49 UAbs. 1 S. 2 EUV zu unterrichten.
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Der nächste normativ erfasste Schritt ist die Entscheidung über den Antrag durch den Rat. Diese erfolgt gem. Art. 49 UAbs. 1 S. 3 Hs. 2 EUV einstimmig nach Anhörung der → Europäischen Kommission und nach mehrheitlicher Zustimmung des Europäischen Parlaments. Zwischen der Antragstellung und dieser Entscheidung liegen häufig jedoch Jahre intensiver und nicht selten schwieriger Verhandlungen, die nach derzeitiger Praxis vom jeweiligen Vorsitz des Rates mit Unterstützung insbesondere der Kommission geführt werden. In der normativ insoweit nicht überformten Beitrittspraxis ändert sich der Status des beitrittswilligen Staates während dieser Zeit in Abhängigkeit von den erreichten Fortschritten, deren Beurteilung v.a. durch die Kommission erfolgt. Beschließt der Rat, dass ein EU-Beitritt grundsätzlich in Betracht kommt, führt dies zur Qualifikation des beitrittswilligen Staates als potentieller Beitrittskandidat. Dieser Beschluss kann bereits – wie im Falle des Kosovo – vor Stellung des Beitrittsantrags und somit noch in der informellen Phase des Beitrittsverfahrens ergehen. Die weitere Feststellung, dass ein Staat die materiellen Beitrittskriterien erfüllt, hat zur Folge, dass diesem der Kandidatenstatus zuerkannt wird. Diese Unterscheidung ist von erheblicher Bedeutung, da die Statusfrage mit unmittelbaren Konsequenzen verbunden ist, etwa hinsichtlich der finanziellen Unterstützung beitrittswilliger Staaten durch die EU.
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Der Beitritt erfolgt schließlich gem. Art. 49 UAbs. 2 S. 1 EUV durch einen völkerrechtlichen Vertrag, der zwischen den Mitgliedstaaten und dem antragstellenden Staat geschlossen wird. Er enthält die Aufnahmebedingungen und die notwendigen, v.a. institutionellen Änderungen des → Primärrechts. Die EU ist hieran nicht als Vertragspartei beteiligt. Dies entspricht dem Verfahren der → Vertragsänderung und bringt zugleich den Charakter der EU als – wenn auch einzigartige – Internationale Organisation (→ Europäische Union: Strukturprinzipien) zum Ausdruck. Der Beitrittsvertrag bedarf gem. Art. 49 UAbs. 2 S. 2 EUV der Ratifikation durch alle EU-Mitgliedstaaten gemäß ihren jeweiligen Verfassungsvorschriften. Mit Inkrafttreten des Beitrittsvertrags wird der Beitrittskandidat zum vollwertigen EU-Mitgliedstaat.
B › Beitritt (zur EU) (Matthias Knauff) › III. Materielle Beitrittsvoraussetzungen
III. Materielle Beitrittsvoraussetzungen
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Hinsichtlich der materiellen Beitrittsvoraussetzungen nimmt Art. 49 UAbs. 1 S. 1 EUV die in Art. 2 EUV genannten Werte in Bezug (Rn. 385–388). Darüber hinaus verweist Art. 49 UAbs. 1 S. 4 EUV auf die vom → Europäischen Rat vereinbarten Kriterien (Rn. 389–391). Hinzu kommt die Übernahme des acquis communautaire (Rn. 392). Mangels Differenzierung sind von den Beitrittskandidaten alle Kriterien kumulativ zu erfüllen; die EU leistet diesbezüglich vielfältige Hilfestellungen. Defizite in einzelnen Bereichen haben sich dennoch bislang nicht notwendig negativ auf den Beitritt zur EU ausgewirkt.
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Die Erfüllung der materiellen Beitrittsvoraussetzungen vermittelt einem beitrittswilligen Staat keinen Anspruch auf den Beitritt. Hieraus folgt die Möglichkeit der Blockade der Erweiterung durch einzelne Mitgliedstaaten aus politischen Gründen – so sind etwa die Beitrittsverhandlungen mit Mazedonien wegen des Namensstreits mit Griechenland ausgesetzt.
1. Werte des Art. 2 EUV
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Die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Minderheitenrechte