Stakeholder-Kapitalismus. Klaus Schwab
die Slowakei oder die Tschechische Republik,47 die eine sinkende Ungleichheit erlebten, bleiben die Ausnahme.
Wohlstand, Gesundheit und soziale Mobilität
Die Kuznets-Kurve ist auch bei der Betrachtung anderer Kennzahlen der Ungleichheit widerlegt worden. Die Vermögensungleichheit, die die Ersparnisse, Investitionen und andere Kapitalbestände widerspiegelt, die Einzelpersonen besitzen, ist in vielen Ländern sogar noch ausgeprägter. Und im Gleichschritt mit diesem Wohlstandsgefälle werden private Bildung und hochwertige Gesundheitsversorgung, die große Summen erfordern können, immer mehr zu einem Privileg, das der oberen Mittel- und Oberschicht vorbehalten ist. Das ist vor allem in Ländern ohne geeignete öffentliche Angebote der Fall.
Diese Realität ist vielleicht am stärksten in den Vereinigten Staaten zu spüren, die in dieser Hinsicht eher den Schwellenländern Indien und Mexiko ähneln als der fortgeschrittenen Wirtschaftsnation, die sie sind. Die Ökonomen Emmanuel Saez und Gabriel Zucman haben berechnet, dass das Vermögen, das im Besitz von dem einen Prozent der reichsten Amerikaner ist, von weniger als 15 Prozent in den 1970er-Jahren auf über 40 Prozent Anfang der 2010er-Jahre gestiegen ist.48 Damit ist die Vermögensungleichheit doppelt so hoch wie die Einkommensungleichheit.49
Diese beiden Ungleichheiten – Vermögen und Einkommen – bauen auch aufeinander auf und schaffen einen Teufelskreis.50 Ein Artikel der Financial Times aus dem Jahr 2020 fasst zusammen, dass Ende September 2019 ein Rekordwert von 56 Prozent aller US-Aktien von dem obersten einen Prozent der vermögendsten Haushalte gehalten wurde: 21,4 Billionen Dollar. Halten Sie sich das vor Augen: Das »eine Prozent« besitzt in der Tat mehr als die Hälfte aller Aktien in den USA. Dieser Prozentsatz sei in den letzten drei Jahrzehnten stetig gestiegen, und der Anstieg sei »durch stagnierende Löhne für viele Amerikaner angetrieben worden, was sie davon abhielt, an den Gewinnen des Aktienmarktes im letzten Jahrzehnt teilzuhaben«.
Die 0,1 Prozent haben sogar noch größere Sprünge gemacht. Sie häuften in den 2010er-Jahren weit über ein Fünftel des amerikanischen Vermögens an, ein Anteil, der fast dreimal so hoch ist wie Mitte der 1970er-Jahre. Diejenigen am unteren Ende der Skala hingegen sahen ihren Vermögensanteil und ihre Ersparnisse rapide sinken, bis hin zu dem Punkt, dass sie oft nicht einmal mehr in der Lage waren, für gesundheitliche Notfälle und Bildung aufzukommen,51 wie sich während der Pandemie 2020 schmerzlich gezeigt hat.
Die Folge dieses zunehmenden Wohlstandsgefälles, so der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz, ist, dass die wirtschaftliche Mobilität in den USA zunehmend der Vergangenheit angehört. Selbst ein langes oder gesundes Leben ist für viele unerreichbar. Er beklagt die Situation in seinem 2019 erschienenen Buch People, Power and Profits: Progressive Capitalism for an Age of Discontent (deutsche Ausgabe: Der Preis des Profits: Wir müssen den Kapitalismus vor sich selbst retten!) und in einem früheren Artikel in der Fachzeitschrift Scientific American: »Familien der unteren 50 Prozent haben kaum Bargeldreserven für einen Notfall«, schrieb er. »Die Zeitungen sind voll mit Geschichten über Menschen, für die eine Autopanne oder eine Krankheit eine Abwärtsspirale in Gang setzt, von der sie sich nie wieder erholen. Nicht zuletzt aufgrund der hohen Ungleichheit ist die Lebenserwartung in den USA, noch dazu von einem außergewöhnlich niedrigen Niveau, fortwährend gesunken.«52
Und in der Tat ist das Phänomen, das Anne Case und Angus Deaton als »Tod durch Verzweiflung« bezeichnet haben,53 auf dem Vormarsch in den USA (und zunehmend auch in Großbritannien54). Die Menschen fallen von der wirtschaftlichen Leiter und verarmen oder sterben an einer Drogen-Überdosis, Depressionen oder anderen gesundheitlichen Problemen, die mit ihrer schlechten wirtschaftlichen Lage zusammenhängen.
Kein Phänomen zeigt den Zusammenhang von »Reichtum und Gesundheit« in Amerika deutlicher als COVID-19, von dem Menschen mit weniger Geld viel stärker betroffen sind als andere. New York City liefert ein eindrucksvolles Beispiel. In den ersten Wochen der Pandemie konnten viele der wohlhabenderen Bewohner Manhattans in einem Anwesen im Norden des Staates oder außerhalb Schutz suchen, sich in einem Privatkrankenhaus behandeln lassen oder sich anderweitig vor dem Virus schützen. Ärmere New Yorker waren dagegen viel stärker gefährdet. Sie arbeiteten und lebten eher in risikoreichen Umgebungen, hatten seltener eine adäquate Gesundheitsversorgung und waren größtenteils nicht in der Lage, an einen anderen Ort zu ziehen. Eine frühe Studie ergab: »Coronavirus-bedingte Krankenhauseinweisungen und Todesfälle waren am höchsten in der Bronx, die den höchsten Anteil (38,3 %) an Afroamerikanern und das niedrigste jährliche mittlere Haushaltseinkommen (38.467 $) sowie den niedrigsten Anteil (20,7 %) an Einwohnern mit mindestens einem Bachelor-Abschluss aufweist.«55 Dieses Muster wiederholte sich auch anderswo in den Vereinigten Staaten – und in Wahrheit auf der ganzen Welt.
Doch trotz des globalen Trends, dass Krankheiten wie COVID ärmere Bevölkerungsschichten härter treffen, sind in anderen fortgeschrittenen Volkswirtschaften die Ungleichheiten im Gesundheitsbereich bisher viel geringer geblieben, und die Lebenserwartung steigt weiter. Dies sollte kaum überraschen, da außerhalb der USA praktisch alle hochentwickelten Volkswirtschaften über eine Form der staatlichen Gesundheitsversorgung verfügen. Unter den 36 Mitgliedsstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hatte beispielsweise nur Mexiko einen geringeren Prozentsatz an versicherten Personen als die USA, und die meisten Länder erreichten eine Versorgungsquote von 100 Prozent,56 entweder durch öffentliche oder private Krankenversicherungen.
Die globale Bilanz zur sozialen und wirtschaftlichen Mobilität ist eher gemischt. Der 2020 Global Social Mobility Index des Weltwirtschaftsforums stellte fest, dass es »nur eine Handvoll Nationen mit den geeigneten Bedingungen zur Förderung der sozialen Mobilität gibt« und dass »die meisten Länder in vier Bereichen unterdurchschnittlich abschneiden: faire Löhne, sozialer Schutz, Arbeitsbedingungen und lebenslanges Lernen«, obwohl das Erreichen eines höheren Niveaus an sozialer Mobilität ein wichtiger Bestandteil der Umsetzung eines Stakeholder-basierten Kapitalismusmodells ist. Konkret heißt es in dem Bericht:
Betrachtet man alle Volkswirtschaften und das durchschnittliche Einkommensniveau, so zeigt sich, dass Kinder, die in weniger wohlhabende Familien hineingeboren werden, normalerweise mit größeren Hindernissen auf dem Weg zum Erfolg konfrontiert sind als ihre wohlhabenderen Altersgenossen. Außerdem steigt die Ungleichheit selbst in Ländern, die ein schnelles Wachstum erlebt haben. In den meisten Ländern sind Menschen aus bestimmten Gruppen historisch benachteiligt, und eine geringe soziale Mobilität erhält und verschärft solche Ungleichheiten. Ungleichheiten dieser Art können wiederum den Zusammenhalt von Volkswirtschaften und Gesellschaften untergraben.57
Andere Studien stellten eine ähnliche Dynamik fest. Ein Bericht der Weltbank aus dem Jahr 2018 zeigt, dass nur 12 Prozent der jungen Erwachsenen in Regionen wie Afrika und Südasien eine höhere Bildung haben als ihre Eltern – oft eine Voraussetzung, um auf der sozioökonomischen Leiter nach oben zu klettern.58 In anderen Regionen, darunter Ostasien, Lateinamerika sowie dem Nahen Osten und Nordafrika, hat sich die durchschnittliche wirtschaftliche Mobilität laut dem Bericht verbessert. Der Bericht warnt aber