Tod am Silsersee. Duri Rungger
auf. «Auf was warten Sie? Gehen wir!»
Caminada sah ein, dass es zwecklos war, Einwand gegen diesen berechtigten Anspruch zu erheben.
Sie wollten eben in Caminadas Käfer einsteigen, als ein schwarzer Jaguar auf den Parkplatz einfuhr und neben ihnen anhielt. Der Besitzer des noblen Gefährts, ein Herr Welti, wenn er den Namen richtig verstanden hatte, erkundigte sich bei Frau Brunner teilnahmsvoll, ob es Neuigkeiten zum Verbleib ihres Mannes gebe. Als er erfahren hatte, wohin sie wollte, bestand er darauf, dass sein Chauffeur, Gennaro Esposito, sie und den Herrn Kommissar in seinem Wagen nach Samedan bringe: «Sie können in Ihrem Zustand doch unmöglich in dieser klapprigen Kiste fahren.»
Kurz darauf sassen sie im Fond des Jaguar S, der viel zu schnell über die kurvige Seestrasse Richtung St. Moritz raste. Caminada nahm weder die Geschwindigkeit noch die luxuriösen Lederpolster und Holzverkleidungen des Gefährts wahr. Er ärgerte sich über seine Ungeschicktheit. Kurz nach der Abfahrt hatte er seine Begleiterin gedankenlos gefragt, ob ihr Mann vielleicht ein rotes Halstuch getragen habe. Sie hatte ihn mit offenem Mund angestarrt und schluchzend seine Hand umklammert. Er hätte die verzweifelte Frau gerne getröstet, fand aber nicht die richtigen Worte dafür. So beschränkte er sich darauf, seine Hand auf die ihre zu legen.
Die Identifizierung verlief weniger dramatisch als Caminada befürchtet hatte. Die Leiche lag auf einem weissen Laken, und eine gute Seele hatte einen kleinen Strauss von Feldblumen auf die Brust des Toten gelegt. Die eingeschlagene Schädeldecke war mit einem Tuch abgedeckt und die Kratzer im Gesicht kaum sichtbar. Selina Brunner sah den Toten still an, legte ihm die Hand auf die Stirn und bestätigte leise: «Ja, das ist Martin.» Dann schloss sie die Augen und blieb reglos stehen.
Caminada liess ihr Zeit, den Schock zu verarbeiten. Das gab ihm auch die Gelegenheit, sich die Kratzspuren im Gesicht genauer anzusehen. Auf der linken Wange verliefen sie vom Auge fast senkrecht zum Mundwinkel, auf der rechten hingegen quer von der Nase zum Ohrläppchen. Das allein schloss nicht aus, dass die Kratzer durch Äste verursacht wurden. Der Körper konnte sich während des Sturzes überschlagen haben. Es war hingegen höchst unwahrscheinlich, dass zwei verschiedene Äste derart ähnliche Spuren, bestehend aus vier parallelen Streifen, hinterlassen hätten. Clalünas Misstrauen war durchaus berechtigt.
Erst jetzt bemerkte er, dass Frau Brunner ihn fragend ansah. Er nahm sie beim Arm und führte sie aus dem Raum. Da er noch mit dem Arzt sprechen musste, schlug er ihr vor, sie solle sich vom Chauffeur sofort ins Hotel zurückbringen lassen, er würde später mit dem Postauto nach Sils kommen.
Sie lehnte seinen gutgemeinten Vorschlag strikt ab und zog es vor, sich von Esposito zum Golfplatz fahren zu lassen. Von dort wollte sie einen Spaziergang am Flazbach unternehmen und in etwa zwei Stunden zurück sein.
Eine freundliche Krankenschwester begleitete Caminada zum Büro von Dr. Gianola, der den Toten geborgen und untersucht hatte. Der Arzt fasste sich kurz: «Viel kann ich leider nicht sagen. Der Unfall ist etwa zwanzig Stunden vor dem Auffinden der Leiche passiert, also gestern gegen Mittag. Der Tod wurde durch einen Schlag auf den Kopf herbeigeführt. Das bedeutet nicht unbedingt, dass es sich um Mord handelt, der Mann kann sich den Schädel auch beim Sturz eingeschlagen haben.»
«Die Stelle, wo der Kopf auf einen Stein aufgeschlagen ist, habe ich gefunden», informierte Caminada den Arzt. «Aber es braucht nicht unbedingt einen Schlag auf den Kopf, um jemanden in einen Abgrund zu befördern. Ein Schubs reicht aus und hinterlässt erst noch keine Spuren – ist aber auch Mord. Jedenfalls sehen die Kratzer im Gesicht des Toten nicht so aus, als ob sie im Fallen durch ein Gebüsch verursacht worden wären. Sie müssen ihm vorher beigebracht worden sein.» Caminada hatte Mühe, sich vorzustellen, weshalb ein Mann, der damit beschäftigt war, Gedichte zu schreiben, in ein Handgemenge verwickelt wurde, doch die Kratzer waren nun einmal vorhanden. Trotzdem wollte er nicht den Eindruck erwecken, er glaube an einen kaltblütigen Mord, und fügte an: «Vielleicht gab es ein unschuldiges Gerangel, bei welchem Herr Brunner über die Mauer gestolpert und abgestürzt ist.»
Gianola wiegte zweifelnd den Kopf. «Clalüna hat mich auf die verdächtigen Kratzer aufmerksam gemacht, und ich habe sie mir inzwischen genau angesehen. Sie sind nicht unmittelbar vor dem Tod entstanden. Wie lange vorher, kann ich leider nicht genau sagen.» Der Arzt rieb sich mit dem Zeigfinger an der Nase und rang sich dann zur Aussage durch: «Mindestens zehn Minuten, höchstens eine Stunde vor dem Tod.»
Caminada dankte dem Arzt für diese wichtige Information und schickte sich an zu gehen.
«Viel Erfolg bei Ihren Nachforschungen», wünschte Gianola, während er dem Kommissar die Hand schüttelte. «Ich hoffe, dass es sich nicht um Mord handelt. Für die junge Witwe ist der Verlust ihres Mannes schon schwer genug zu ertragen. Er war erst vierzig Jahre alt, bester Gesundheit und physisch in beachtlicher Form.» Er schüttelte bedauernd den Kopf. «Aber Unfälle nehmen keine Rücksicht darauf, wie lange das Opfer noch hätte leben können.»
«… Mord leider auch nicht, sonst würden nicht so viele junge Leute umgebracht», fügte Caminada bedauernd bei. Er machte einen Schritt zur Türe, blieb wieder stehen und stammelte verlegen: «Entschuldigen Sie, Herr Doktor. Wäre es vielleicht möglich, etwas zu trinken und ein Stück Brot zu bekommen? Ich habe seit dem Frühstück nur einen Kaffee gehabt».
«Tee, Kaffee, oder Süssmost stehen immer bereit, und Brot, Käse und Trockenfleisch kann ich Ihnen auch offerieren. Tut mir leid, dass ich Ihnen nichts angeboten habe.»
Caminada stürzte das grosse Glas Süssmost, das eine Krankenschwester gebracht hatte, hinunter und verabschiedete sich eilig von Dr. Gianola. Er setzte sich vor das Krankenhaus und verzehrte heisshungrig das grosse belegte Brot. Kaum war er damit fertig, fuhr auch schon der Jaguar vor.
Esposito nahm es auf dem Rückweg gemütlicher als bei der Hinfahrt. Caminada überlegte, wie er der geschockten jungen Frau einige Informationen entlocken könnte, ohne gefühllos zu erscheinen. Er entschloss sich, mit einer unverfänglichen Frage zu beginnen: «Sie wohnen in Zürich, sprechen aber wie jemand von hier, und auch ihr Name, Selina, deutet darauf hin, dass Sie aus dem Engadin stammen.»
«Ich bin in Silvaplana aufgewachsen.» Selina verstummte, und Caminada nahm sich vor, sie in Ruhe zu lassen, doch dann begann sie von sich aus zu erzählen: «Ich habe Martin zufällig beim Skifahren auf Corviglia kennengelernt. Nach einem fürchterlichen Sturz bin ich halb benommen im Tiefschnee liegen geblieben. Martin hat mich ausgebuddelt und wieder auf die Beine gestellt. Zum Glück war ich nicht verletzt, aber meine Ski waren gebrochen. So bin hinten auf die Latten meines Retters gestanden und habe mich an ihn geklammert, bin aber unzählige Male abgerutscht und in den Schnee gepurzelt. Schliesslich hat er mich huckepack getragen, und wir sind heil unten angekommen. In der Konditorei Hanselmann hat Martin mich mit Kuchen und heisser Schokolade aufgepäppelt und nach der dritten Tasse gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, ihn zu heiraten … » Sie schluckte leer und verstummte.
Kurz bevor sie Celerina erreichten, deutete sie über die Ebene auf den flachen, bewaldeten Hügel auf dem eine Kirche mit ruinenartigem Turm stand. «Das ist San Gian. Auf meinem Spaziergang vorhin bin ich auf den Hügel gestiegen und habe das Kirchlein besucht. Martin und ich haben dort geheiratet – vor drei Jahren.» Sie konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.
Als sie ihre Fassung wiedergewonnen hatte, legte sie ihre Hand auf Caminadas Arm. «Danke, dass Sie mich auf der Fahrt hierher so einfühlsam getröstet haben. Ich schäme mich ein wenig, dass ich mich derart an Sie geklammert habe.»
«Ich habe nicht gewusst, wie ich mich verhalten soll. Ich bin nicht geschickt in solchen Dingen.»
«Sie haben genau das Richtige getan.» Sie nickte ihm dankbar zu. Dann fragte sie zögernd: «Darf ich fragen, weshalb Sie mich bei unserm Zusammentreffen so entsetzt angestarrt haben?»
«Keineswegs entsetzt – bloss von Erinnerungen überwältigt. Abgesehen von Ihrem wunderbaren Kraushaar sehen Sie meinem Patenkind Julia unglaublich ähnlich. Sie war etwa gleich alt wie Sie und ist vor Jahren verunfallt. Ich habe geglaubt, sie stehe vor mir.» Jetzt war es Caminadas Stimme, die ins Zittern geriet.