Ausweitung der Kontingenzzone. Christian Schuldt
oder Wahrheit in der Wissenschaft) sorgen sie auf je eigene Weise dafür, dass auch unwahrscheinliche Kommunikation wahrscheinlich wird.
Das Versprechen der Moderne lautete dabei, dass alle Funktionssysteme für alle Personen zugänglich sind – allerdings immer nur unter partikularen Personenmerkmalen, in bestimmten Rollen, etwa als Politikerin, Verkäufer, Wissenschaftlerin, Künstler oder Angestellter. Die Netzwerkgesellschaft, die nun im 21. Jahrhunderts zunehmend Form annimmt, weicht diese Prämisse auf: Die neue Differenzierungsform schafft in allen Gesellschaftsbereichen neue Schnittstellen, an denen sich neuartige soziale, kulturelle und technologische Phänomene kristallisieren. Mit der gesellschaftlichen Komplexität steigt auch die Kontingenz rapide an und bringt das moderne Inklusionsversprechen ins Wanken.
In der Netzwerkgesellschaft werden die „vernünftigen“, klar konturierten Ordnungen früherer Gesellschaften abgelöst durch eine offene Ökologie: durch die Komplexität überraschender und potenziell flüchtiger Ordnungen. Überall in der Gesellschaft werden traditionelle Grenzen, Strukturen und Hierarchien beweglich und fluide. Unter vernetzten Vorzeichen ist somit eigentlich nur noch eines gewiss: die Ungewissheit. Zum zentralen Bezugsproblem wird damit die Bewältigung von Komplexität – und die Anpassung an eine neue Dimension von Kontingenz.
Von Kausalität zu Kontingenz
Die Systemtheorie fokussiert auf die Entdeckung des Unwahrscheinlichen im Gewöhnlichen, auf die Transformation von Notwendigkeit in Kontingenz. Anders als das Gros der westlichen Philosophen, die meist von einer normativen, rationalen oder „natürlichen“ Grundlage für soziale Realität ausgingen, setzt Luhmann auf das kontingente Auch-anders-möglich-Sein – allerdings nicht als postmodernistisches „anything goes“, sondern als Theorie der Kontingenz.
„Kontingenz“, so Luhmann, „heißt praktisch Enttäuschungsgefahr und Notwendigkeit des Sicheinlassens auf Risiken“ (Luhmann 1987, 31), sie bezeichnet „Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen“ (Luhmann 1984, 152): Nichts, was passiert, ist zwingend. Dies ist die logische Folgerung, wenn die alten mechanistischen Steuerungsideen abgelöst werden durch die wechselseitigen Feedbackeffekte komplexer System-Umwelt-Gefüge. Die Erkenntnis, dass Systeme immer nur verstehbar sind in ihren Umweltkontexten, verabschiedet die Idee klarer kausaler Zusammenhänge und Verbindungen. An die Stelle des Kontrollierbarkeitsglaubens tritt das Operieren mit Wahrscheinlichkeiten.
Unter den Bedingungen der Vernetzung erfordert diese neue kontingente Realität von allen Akteuren der Gesellschaft eine Öffnung für das Unplanbare und Unvorhersehbare, eine Flexibilisierung mentaler und organisationaler Muster und Strukturen. In der Praxis hat sich unsere soziale, emotionale und rationale Intelligenz bereits auf diese neue, fluide Realität eingestellt. Unser Denken und Fühlen jedoch folgt großenteils noch immer den Konzepten vorheriger Epochen, wie es der Soziologe und Luhmann-Schüler Dirk Baecker beschreibt:
„Wir haben es immer noch, wenn nicht zunehmend, mit der Topologie von Stimmen (tribale Gesellschaft 1.0), der Teleologie verschiedener Korporationen und Dynastien (antike Hochkultur 2.0) und der Rationalität unruhiger Funktionssysteme (moderne Gesellschaft 3.0) zu tun. Aber diesen überlagert sich die Komplexität einer neuen Verschaltung von Mensch und Maschine, Körper, Bewusstsein und Gesellschaft, die im Fadenkreuz analoger und digitaler Verrechnung eher freigesetzt als gezähmt wird (nächste Gesellschaft 4.0).“ (Baecker 2015a, S. 15)
Klassische soziale, politische oder ökonomische Modelle sind immer weniger in der Lage, die volatilen, paradoxalen und hochkontingenten Phänomene dieser Netzwerkgesellschaft zu erklären. Um die Komplexität der nächsten Gesellschaft umfänglich erfassen und deuten zu können, braucht es eine holistische, system(theoret)ische Perspektive.
Wie praxistauglich ist die Theorie?
Niklas Luhmann war hinsichtlich der konkreten Anwendbarkeit von Theorien äußerst skeptisch. „Ich habe nicht die Vorstellung, dass es wissenschaftliche Erkenntnisse gibt, die auf die Praxis angewendet werden könnten“, sagte er in einem Interview: „Die Praxis, zum Beispiel ein Ministerium, ist für mich ein nach eigener Logik funktionierendes System“ (Baecker/ Stanitzek 1987, 135). Dieser Praxispessimismus gründet vor allem darin, dass die Systemtheorie im Wissenschaftssystem operiert: Die Theorie beobachtet, wie sich die Gesellschaft selbst beobachtet. Sie liefert also keine Lösungsvorschläge, sondern „nur“ ein distanziertes Beobachtungsinstrumentarium.
Gerade aufgrund ihrer abstrakten Flughöhe hat sich die Systemtheorie aber zugleich als besonders anschlussfähig erwiesen für benachbarte wissenschaftliche Disziplinen – und sogar dezidiert „kritische“ Auslegungen erfahren (vgl. etwa Amstutz/Fischer-Lescano 2013). Ein zentraler Ansatzpunkt liegt dabei im „äquivalenzfunktionalistischen“ Ansatz der Theorie: dem Vergleich verschiedener möglicher systemischer Lösungen für ein und dasselbe Problem – und dem Aufdecken der blinden Flecken anderer Beobachtungen. Die Grundfrage der Systemtheorie (Wie entstehen und evoluieren soziale Systeme?) lässt sich deshalb immer auch ergänzen um die Frage: Welche alternativen Optionen tun sich dabei auf?
Diese komparatistische Komponente macht es auch plausibel, den Beobachtungsapparat der Systemtheorie dezidiert „konstruktiv“ zu nutzen: als analytisches Fundament für eine komplexere Beobachtung – und Gestaltung – möglicher Zukünfte. Dies gilt umso mehr, als dass wir heute in einer „unglaublich gegenwartsorientierten Kultur“ leben, wie der Soziologe und Systemtheoretiker Armin Nassehi sagt: einer Zeit, in der wir uns „enorm schwer“ damit tun, „kollektiv zu handeln und vor allem die Zukunft einzubeziehen“ (vgl. Illinger 2021). Der Soziologe Heinz Bude sieht darin sogar den neuen Auftrag der soziologischen Disziplin: „Die Aufgabe der Soziologie heute ist es, die Zukunft zu öffnen“ (Becker 2020).
Gestaltungsraum Gesellschaft
Leitend ist dabei die Erkenntnis, dass die „nächste Gesellschaft“ nicht einfach passiert – sie ist nicht etwas, auf das man bloß reagieren kann. Nichts anderes impliziert auch Luhmanns Kontingenzverständnis: Kontingenz „setzt die gegebene Welt voraus, bezeichnet also nicht das Mögliche überhaupt, sondern das, was von der Realität aus gesehen anders möglich ist“ (Luhmann 1984, 152). Auch wenn die gegebenen Gesellschaftsstrukturen und -dynamiken also einen evolutionären Rahmen vorgeben: Die Gesellschaft ist und bleibt stets ein Möglichkeits- und Gestaltungsraum.
Das heißt nicht, dass eine Gesellschaft, die in verschiedene selbstferenziell-geschlossene Subsysteme ausdifferenziert ist, nach bestimmten Vorgaben „gestaltbar“ wäre, erst recht nicht im Übergang zum neuen Paradigma einer hyperkomplexen Netzwerkgesellschaft. Dennoch ist und bleibt Gesellschaft immer das, was wir aus ihr machen, indem wir unsere Wünsche und Vorstellungen umsetzen. Und je mehr Menschen, Organisationen und Institutionen eine gemeinsame Idee der zukünftigen Gesellschaft aktiv mitgestalten, umso wahrscheinlicher wird sie.
Gerade in einer Zeit fundamentaler globaler Umbrüche und zunehmender gesellschaftlicher Fragmentierung ist die Kultivierung eines solchen möglichkeits- und gestaltungsorientierten Gesellschafts- und Zukunftsverständnisses wichtig und wertvoll. Die Voraussetzung dafür ist nicht nur eine mentale Offenheit für Veränderungen, sondern vor allem auch ein umfassendes Verständnis der Strukturen und Kulturen der nächsten Gesellschaft – und ihrer möglichen Zukünfte.
Die systemtheoretische Perspektive ermöglicht eine solche Sicht auf die vernetzte Welt im 21. Jahrhundert: komplexitätsaffin, holistisch, possibilistisch. Gerade die nüchterne Analyse der „unordentlichen“ systemischen Dynamiken schärft den Blick für die neuen, komplexen Ordnungsmuster – und damit auch für alternative Möglichkeiten des Zusammenhalts in Zeiten des Kontrollverlusts. Von diesen Kontingenz- und Kohärenzpotenzialen handelt dieses Buch.
An die Stelle sachlicher Rationalität treten heterogene Spannungen, an die Stelle der Vernunft das Kalkül,