Carl Schmitts Gegenrevolution. Reinhard Mehring

Carl Schmitts Gegenrevolution - Reinhard Mehring


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drapiert sich mit einem überkonfessionellen Begriff von Religiosität, wie er damals etwa von Rudolf Otto (1869–1937) mit der Rede vom „Numinosen“ entwickelt wurde.19 Schmitt ärgert es, dass Binder das „Apriorische“ naiv reklamiert und Rechtspositivismus mit Rechtsphilosophie verwechselt; er sieht Stammler wie Binder „auf dem schmalen Weg des Transzendentalismus“ scheitern, macht mit seinen eigenen Überlegungen aber selbst nicht ganz klar, wie er die Unterscheidung von Macht und Recht sichern und den Transzendentalismus gegen die Gebildeten unter seinen Beschwörern retten möchte. Sein phänomenologischer Hinweis auf die faktische Anerkennung verbleibt eigentlich seinerseits im Horizont der „Machttheorie“.

       4. Positionierung zu Kaufmanns Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie

      An einer Stelle seiner Binder-Rezension deutet Schmitt an, dass Kelsen der naiven Verwechselung von Macht und Recht, Sein und Sollen entgangen sei. Schmitt lobt die „Konsequenz, mit der z.B. Kelsen die Jurisprudenz als normative Wissenschaft den soziologisch explikativen Wissenschaften gegenüberstellt“ (SS 178). Stammler wie Binder verwechselten ihren Rechtspositivismus dagegen mit transzendentaler Rechtsphilosophie. Schon früh sieht Schmitt also Kelsens Schritt vom Positivismus zum Normativismus als solchen, während er Jellinek als Ausgangspunkt nicht weiter erwähnt. Er nimmt die Theoriedynamik mit eigenem Impetus innovativ wahr und betrachtet Kelsen als Erben Jellineks. Kelsen legte das selbst nahe, obgleich er keinen persönlichen Zugang zu Jellinek fand.20 Für Schmitt lag eine Weiterführung seiner Kritik der neukantianischen Rechtslehre durch Auseinandersetzung mit Kelsen also akademisch schon früh nahe; 1922 knüpfte er in seiner Politischen Theologie auch explizit an Kelsen an. Dazwischen liegt aber das Erscheinen von Erich Kaufmanns (1880–1972) Kritik der neukantianischen Rechtsphilosophie von 1921, das für Schmitt schon deshalb wichtig war, weil er damals als Nachfolger Smends in Bonn Kaufmanns direkter Kollege wurde. Smend war mit Kaufmann seit Studientagen spannungsvoll befreundet; er betrieb Schmitts Berufung, die ohne Kaufmanns unterstützendes Plazet gewiss nicht erfolgt wäre. Kaufmann zitierte in seiner Kritik der neukantianischen Rechtslehre Schmitts Binder-Kritik zustimmend, nahm dessen verwandte Kritik zur Kenntnis. Für Schmitt lag es 1922 also akademisch nahe, seine Auseinandersetzung mit der neukantianischen Rechtslehre mit Kelsen weiterzuführen und sich hier zu Kaufmanns exponierter Kritik zu positionieren.

      Die Schrift Politische Theologie wird heute selten in der Erstausgabe von 1922, mehr in der Ausgabe von 1934 gelesen, der alle neueren Ausgaben folgten. Es ist deshalb kaum bekannt, dass Schmitt 1933 seitenlange Ausführungen21 zu Kaufmann strich, mit dem er sich Mitte der 1920er Jahre verfeindet hatte. Schmitt tilgte alle früheren positiven Referenzen, aus persönlicher Feindschaft, Opportunismus und Kampf gegen „jüdischen“ Geist. Das ohnehin schwierige wissenschaftsgeschichtliche zweite Kapitel seiner Programmschrift wurde dadurch im Gedankengang fast unverständlich; es gewann seine Gliederung aber gerade durch seinen aktuellen Bezug auf Kaufmanns Kritik der neukantianischen Rechtslehre. Schmitt positionierte sich, gerade in Bonn angekommen, eingehend zu seinem Bonner Kollegen. Das Kapitel beginnt 1922, laut Inhaltsübersicht, mit neueren Schriften zur Staatslehre: „Kelsen, Krabbe, Wolzendorff, Erich Kaufmann“. Die Ausführungen zu Kaufmann, über drei Seiten lang, sind später dann vollständig gestrichen.

      Kaufmanns 1921 erschienene Kritik der neukantianischen Rechtsphilosophie22 geht von einer Stammler- und Kelsen-Kritik aus und schlägt vehement auf den „Formalismus“ und „Positivismus“ von Stammler, Binder und anderen ein. Sie zitiert Schmitts Binder-Kritik zustimmend,23 klagt aber, anders als Schmitt, „Metaphysik“ ein und ruft gegen den Neukantianismus zum „wahren“ Kant zurück. Kaufmann grenzt sich scharf von Stammler, Kelsen und dessen Wirkungen ab, konzediert aber ähnlich wie Schmitt:

      „Konnte nach alledem der südwestdeutsche Neukantianismus eine eigentliche Rechtsphilosophie nicht begründen, so konnte er auf der anderen Seite durch sein Einmünden in den Rechtspositivismus und seine Tendenz, philosophische Fragen in methodologische Fragen aufzulösen, die Methodenlehre der positiven Rechtswissenschaft fördern und anregen.“24

      „Der metaphysikfreie Neukantianismus ist substanzloser Rationalismus“,25 meint Kaufmann; Kelsen habe als „Meister des Rechtsformalismus“ immerhin einige „Reinigungsarbeiten“ erledigt. Kaufmann macht den Neukantianismus für eine gegenwärtige „Krisis“ des „deutschen Geistes“ verantwortlich und meint am Ende:

      „Aushöhlung und Entleerung alles Lebendigen ist das letzte Wort. Erkenntnistheorie ohne Wahrheitsbegriff, Psychologie ohne Seele, Rechtswissenschaft ohne Rechtsidee, formale Gesinnungsethik ohne Sittlichkeitsbegriff, Geisteswissenschaft ohne Gefühl für konkrete Geistigkeiten sind die Kinder der Zeit. Nirgends ein leerer Halt in den uferlosen Meeren der leeren Formen und der vom Denken nun einmal nicht auflösbaren empirischen Tatsächlichkeit. So wurde der Neukantianismus, ohne es selbst zu ahnen, das Gegenteil dessen, was er wollte: der unmittelbare Wegbereiter jener an sich selbst verzweifelnden Spengler-Stimmung, der jüngsten Erkrankung unserer, einer Metaphysik des Geistes beraubten Volksseele.“26

      Es ist hilfreich, Kaufmanns Ton von 1921 zu hören, um Schmitts Krisis-Ton besser einzuordnen. Schmitts Schrift Politische Theologie beginnt im ersten Kapitel mit einer „Definition der Souveränität“ und schließt mit dem zweiten Kapitel eine akademische Auseinandersetzung mit neueren Staatslehren an, die die frühere Neukantianismus-Kritik weiterführt und eine idealtypische Kontrastierung von Normativismus und Dezisionismus skizziert. Im titelgebenden Kapitel „Politische Theologie“ ordnet Schmitt diese Alternativen dann in eine metaphysikgeschichtliche Skizze ein. Was zunächst als einfache Alternative erscheint, wird damit im „Übergang von Transzendenzvorstellungen zur Immanenz“ als geschichtliche Entwicklung fatal und prekär. Am Ende des zweiten Kapitels scheint Schmitt für seine „dezisionistische“ Souveränitätslehre eine starke Gegenposition zum Neukantianismus aufzubieten. Wo Kaufmann zu Kant zurückrief, geht Schmitt mit Hobbes aber auf ein älteres „Weltbild“ zurück, das eigentlich kaum zu vertreten sei. Im vierten und letzten Kapitel stellt er sich deshalb auch in die Reihen der „Gegenrevolution“. Dieser Rückgang hinter Kant auf Hobbes ist signifikant: Schmitt strebt bereits aus dem Mainstream heraus zu einem unzeitgemäßen Autor, mit dem er sich identifiziert.

      Die Auseinandersetzung mit Kelsen und Kaufmann ist für die akademische Profilierung dieser überraschenden Volte, des Rückgangs hinter Kant auf Hobbes, wichtig. Während die – hier nicht näher zu analysierende – erste eingehende Auseinandersetzung mit Kelsen eine Fortsetzung der früheren Auseinandersetzung mit dem neukantianischen Transzendentalismus war, geht Schmitt mit Krabbe und Wolzendorff dabei auch auf die Genossenschaftstheorie zu, die er stets als „organischen“ Gegenspieler der mechanistisch-positivistischen Linie Labands betrachtete, die mit Kelsen endete. Schmitt stellt Krabbe und Wolzendorff in die Linie der Genossenschaftstheorie, die Gierke begründete und mit Preuß und Smend in Weimar triumphierte, weil sie die staatsbürgerliche Politisierung und Demokratisierung besser zu erfassen vermochte. Schmitts Ausführungen sind nicht leicht nachvollziehbar. Es sei nur erwähnt, dass Schmitt mit dem gerade verstorbenen Wolzendorff in engerer Korrespondenz stand27 und seine Ausführungen deshalb auch einen nekrologischen Nebenaspekt haben. Die Fassung von 1934 springt sehr plötzlich von Wolzendorff zu Max Weber, weil sie Kaufmann herausgekürzt und exorziert hatte. Nur von den Kaufmann-Ausführungen von 1922 her wird aber verständlich, dass Schmitt über Kaufmanns Kritik hinausgeht, indem er hinter Kant auf Hobbes zurückgeht. Dabei stellt er Kaufmanns Schlussfolgerungen korrekt dar; er fragt aber gegen Kaufmanns Konfrontation von „Form“ und „Leben“ leicht skeptisch und spöttisch:

      „Ist das die goldene Mitte zwischen den beiden Extremen Formalismus und Nihilismus und nur eine Wiederholung jener alten Antithesen von lebendig und tot, organisch und mechanisch usw.? Kaufmann hat bisher eine Darstellung einer Lebens- oder Irrationalitätsphilosophie nicht gegeben.“28

      Diese Formulierungen zeigen schon, dass Schmitt seine Wendung zur „Irrationalitätsphilosophie“, wie sie die Parlamentarismus-Broschüre ausführt, als weiterführende Antwort auf den Bonner Kollegen exponiert. Zuvor bemerkt er im ersten Kapitel seiner Programmschrift, dass


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