Die Kunst des richtigen Maßes. Johannes Huber
Legende der Freimaurer von Peter Francis Lobkowicz.22 Der amerikanisch-deutsche Philologe und Freimaurer-Experte schreibt in diesem Zusammenhang von einem Boden im Inneren des Menschen, der bereitet sein muss, damit angehende Freimaurer die durch Bilder und Symbole vermittelten Geheimnisse der Lehre entschlüsseln können. Dieser Boden, auf dem den Freimaurer-Lehrlingen und -Gesellen die Erkenntnis erwächst, ist laut Lobkowicz »das Fundament jeden Verstehens auf dem Weg zum Licht«.
Menschen, die das Prinzip der Waagrechten nicht erkennen, und Menschen, die diesen Boden in sich nicht erkennen – die einen können keine Dombauer und Maurer werden, die anderen keine echten Freimaurer, sofern wir der Legende Glauben schenken. Ihre diesbezüglichen Vorhaben würden in sich zusammenbrechen wie Kartenhäuser im Wind.
Das Winkelmaß, ein Werkzeug der Maurer und Baumeister, ist in der Freimaurerei ein Symbol für die Gewissenhaftigkeit im eigentlichen Wortsinn. Am rechten Winkel des Winkelmaßes, also seinem Gewissen folgend, soll der Mensch seine Handlungen ausrichten, nach Recht und Menschlichkeit.
Der Zirkel steht in der Freimaurerei für den Kreislauf des Lebens. Für die Endlichkeit, und gleichzeitig für die Unendlichkeit. Er steht auch für die Gemeinschaft und damit für die Begrenzung und Überwindung des Egos. Dessen Inszenierung, wie wir sie heute etwa in den Sozialen Medien betreiben, ist aus Sicht der Freimaurerei nichts weiter als eine einzige entsetzliche Peinlichkeit.
Die Winkelwaage steht in der Freimaurerei dafür, dass alle Dinge und alle Menschen eine gemeinsame Ebene haben, dass es so etwas wie eine dem System Mensch immanente gleiche Augenhöhe als Voraussetzung für Gerechtigkeit, Wachstum und Gottesnähe gibt. Alle Menschen sind frei, alle Menschen sind gleich und alle Menschen sind Brüder, so lautet die Botschaft.
Ein aufrechter Mensch zu sein, tolerant, mit Werten und einem moralischen Kompass, einer, der sich nicht nach dem Wind dreht, der sich nie biegt und nie knickt und dabei nach Höherem strebt. Darum geht es. Der antike Philosoph Platon, Schüler des Sokrates und einer der einflussreichsten Denker und Schriftsteller der Geistesgeschichte, sprach in diesem Zusammenhang von der »königlichen Kunst, aufrecht zu leben«.
Mit Standesdünkel hielten sich schon jene, die einst die Kathedralen erbauten, nicht auf. Vielleicht war angesichts der Größe der Aufgabe einfach kein Platz dafür.
Auch das ist übrigens etwas, das die Elite des Silicon Valley, die heute die Welt von morgen gestaltet, für sich entdeckt hat: »Hierarchien brauchen wir nicht mehr. Chef zu sein ist eine Aufgabe von vielen, gleichwertig mit Programmieren oder Verwalten. Es geht nicht darum, was jemand tut, sondern darum, wie er es tut«, sagt etwa Samuel Koch, Autor des Buches Die Welt, die ihr nicht mehr versteht – Inside digitale Revolution.23
In der Freimaurerei spielen Standesdünkel erst recht keine Rolle. Wobei es bei der geistesgeschichtlichen Betrachtung der Themen Toleranz, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit einen feinen, aber wesentlichen Unterschied zu jener modernen Doktrin gibt, die alles Menschliche nivellieren will und dabei sogar biologische Unterschiede zwischen Mann und Frau abzuschaffen trachtet. Diese Nivellierung ist letztendlich eine Pervertierung des eigentlichen Gedankens von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, weil sie das Individuum ignoriert und den Respekt vor seinem Weg verweigert.
In der Freimaurerei respektiert der Lehrling den Meister. Er strebt danach, zu verstehen, was der Meister schon verstanden hat. Der Meister wiederum respektiert den Lehrling. Er sieht in ihm den Menschen, zu dem er wachsen kann. Beide sind frei. Beide sind gleich. Beide sind Brüder. Aber es gibt einen Unterschied.
Ein Kardinal als Vermittler zwischen den Welten
Indem geistige Führer die Gesetze der Baumeister sakraler Gebäude für die Seele und die Gesinnung des Menschen adaptierten, wurde das richtige Maß zu einem Thema für ganz Europa. Die freimaurerische Botschaft davon scheint besonders tiefe menschliche Wahrheiten zu berühren, denn sie hinterließ inzwischen über Jahrhunderte hinweg in vielen Ländern ihre Spuren.
Als der einstige amerikanische Präsident George Washington den Grundstein für das Weiße Haus legte, trug er das Winkelmaß um den Hals. Washington war Freimaurer, ebenso wie Benjamin Franklin, der als Drucker, Verleger, Schriftsteller, Naturwissenschaftler, Erfinder und Staatsmann einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten war und die amerikanische Unabhängigkeitserklärung mitverfasste und unterschrieb.
Der Mann, der in Deutschland die Freiheit des Menschen zum großen philosophischen Thema machte, Immanuel Kant, war selbst kein Freimaurer, aber seine engsten Freunde und Wegbegleiter waren es, sein Verleger Johann Jakob Kanter etwa, sein Testamentsvollstrecker Pfarrer Wasianski oder die Gelehrten Theodor Gottlieb von Hippel und Johann Gottfried Frey.
Gehen wir in der Geschichte rund hundert Jahre weiter nach vorne, finden wir weitere interessante Spuren freimaurerischen Wirkens. Im frühen 20. Jahrhundert trafen sich im Schweizer Hotel Waldhaus in Sils-Maria die großen Denker ihrer Zeit und viele waren Freimaurer. Sie machten dort Urlaub, um zu überlegen, wie sich im Europa nach der Französischen Revolution die großen Themen Toleranz, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit politisch verwirklichen lassen könnten. Es war übrigens das gleiche Dorf, in dem Nietzsche Jahrzehnte früher wohnte. Anscheinend ist es ein guter Platz für große Ideen.
Machen wir nun noch einen großen Schritt in der Geschichte, herauf in die jüngere Vergangenheit, in der bereits einige Missverständnisse über die Freimaurerei herrschten. Die einen sahen sie als Männerbund, dessen Mitglieder sich mit gegenseitigem Schulterklopfen die Welt untereinander aufteilen. Wenn jemand den Blick hinter die Kulisse des Vereinshaften warf, war es meist ein flüchtiger, sodass sich ihm ein Bild von Esoterik oder sogar von einer Art Gegenkirche zeigte. So sah das auch die Kirche, weshalb sich ein tiefer Graben zwischen ihr und der Freimaurerei aufgetan hatte.
Der Wiener Kardinal König fungierte hier als Vermittler zwischen den Welten. Befragt zur heiklen Haltung der Kirche gegenüber der Freimaurerei, sagte er: »Die Ähnlichkeit zwischen beiden ist viel größer, als man glaubt. Lasst sie uns doch wieder zusammenbringen.«
Der Kardinal wollte eine Brücke bauen zwischen den Gesinnungen, deren Schnittmenge tatsächlich groß ist. Das Streben nach innerem Wachstum, danach, zu werden, was wir sein können, die Existenz eines Weltenbaumeisters, die Beschreibung eines von ihm vorgegebenen Regelwerkes, dessen Einhaltung den Menschen empor zu neuer Größe heben kann: Bei vielem davon lagen die Unterschiede zwischen der Kirche und der Freimaurerei nur im Wording und im Kleingedruckten.
Papst Paul VI. sah das genauso und wollte, dass Kardinal König einen Friedensvertrag zwischen der Kirche und den Freimaurern verhandelte. Das Ganze, so sein Wunsch, sollte möglichst diskret vonstatten gehen, leise und hinter verschlossenen Türen. Ich genoss damals das Privileg, Zeitzeuge dieses Prozesses zu sein, und ich erinnere mich noch gut daran, denn letztendlich beobachtete ich einen einmaligen kirchlichen und politischen Vorgang, bei dem viele Mächte eine Rolle spielten und der zu einem überaus erstaunlichen Ende führte.
Als Erstes initiierte der Kardinal ein Gespräch mit dem damaligen Großmeister der Freimaurer, Kurt Baresch. Es fand recht spät am Abend statt, damit niemand sehen konnte, dass der große Mann mit einer kleinen Entourage das erzbischöfliche Palais in Wien betrat.
Kurt Baresch agierte offensiv. »Wenn Sie das Riesentor des Wiener Stephansdomes durchschreiten, dann sehen Sie, dass darüber Jesus Christus beim Jüngsten Gericht als Meister vom Stuhl dargestellt ist«, sagte er zu Kardinal König.
Das romanische Riesentor des Stephansdomes liegt an seiner Westseite zwischen den sogenannten Heidentürmen und ist der Haupteingang des Doms, den alle Gläubigen und Touristen nutzen. Dort sollte Jesus Christus als Freimaurer dargestellt sein? Was Baresch sagte, klang für den Kardinal wie eine Mischung aus Witz und Wahrheit. Immerhin ist »Meister vom Stuhl« eine Bezeichnung für den Vorsitzenden einer Freimaurerloge, den Logenmeister.
Kardinal König, der das Riesentor selbst schon ungezählte Male durchschritten hatte, glaubte seinem Gegenüber zunächst nicht und ließ umgehend den Kunsthistoriker des Diözesanarchivs kommen. Der Mann kratzte sich am Kinn und bestätigte. Jesus erscheint an besagter