Eine Schule ohne Noten (E-Book). Philippe Wampfler

Eine Schule ohne Noten (E-Book) - Philippe Wampfler


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ihnen dabei hilft, sich weiterzuentwickeln. Noten braucht es dazu keine: Sie schaffen Abhängigkeiten und Machtverhältnisse, welche Schulen und Lehrpersonen belasten und daran hindern, ihren Aufgaben nachzukommen.

      Schulen orientieren sich an ihrem demokratischen Auftrag. Dazu gehören auch Standards, die beschreiben, welche Ziele Lernende erreichen sollten. Diese Zielerreichung steht in der täglichen Arbeit im Vordergrund. In motivierenden, sinnhaften Formen nähern sich Schülerinnen und Schüler ihren Zielen. Wenn sie diese nicht erreichen, merken sie es und werden aufgefordert, weiterzuarbeiten und andere Wege zu finden, die Vorgaben zu erfüllen. Noten braucht es dazu nicht: Sie zeigen entweder eine Zielerreichung an und überlagern dabei die Freude über die eigene Leistung – oder sie markieren einen Lernrückstand, der aber lediglich provisorisch ist. Im nächsten Lernschritt wird er aufgeholt, das Defizit muss nicht sichtbar gemacht werden. Noten mildern die Freude über gute Leistungen und erschweren es, Defizite anzupacken und aufzuholen.

      Rückmeldungen hingegen stellen individuell erbrachte Leistungen in den Vordergrund, ermutigen, drücken Wertschätzung aus und machen Verbesserungsvorschläge. Sie laden ein, übers Lernen und Arbeiten mitzudenken, in Gespräche einzutreten, Verantwortung zu übernehmen. Feedback ist ein erster Schritt, um mit Lernenden gemeinsam über ihre Leistungen nachzudenken, eine Art Sprungbrett hin zu offenen Dialogen. Deshalb müssen Rückmeldungen mehr sein als verkappte Beurteilungen, als einseitige Einschätzungen von Lehrenden. Fragen sind darin wichtiger als Mitteilungen, Wahrnehmung von Stärken wirksamer als Korrekturen von Defiziten.

      

      Bent Freiwald, Bildungsjournalist[10]

      Kritik der Notengebung

      «In freier Wildbahn springen Delphine sehr häufig und aus eigenem Antrieb. Im Delphinarium springen sie signifikant seltener, machen ihre Sprungkaskaden nur mehr dann, wenn ihnen ein Fisch hingehalten wird.»[11] In diesem Zitat beschreibt Anton Strittmatter den Delphinarium-Effekt, mit dem er sich auf Reinhard Sprenger bezieht. Dieser hatte gezeigt, wie klassische Effekte, die dem Motivieren dienen, kontraproduktiv wirken: Wer belohnt, lobt, besticht, bedroht oder bestraft, kann kurzfristig Effekte erzeugen, die so aussehen, als wären sie wirksam – langfristig untergraben und zerstören sie jedoch Motivation. Hält man den Delphinen einen Fisch hin, dann sieht es so aus, als würde man sie zum Springen bringen. Tatsächlich springen sie aber weniger, wenn sie so belohnt oder bestochen werden.

      Der Delphinarium-Effekt gilt auch für Noten. Kinder lernen vor-schulisch ohne Noten, sind motiviert, weil sie beim Lernen Fortschritte machen, sich selber als kompetent und autonom erleben. Werden sie mit Noten bewertet (und so gleichzeitig belohnt, gelobt, bestraft und bedroht), dann fokussieren sie ihre Aktivitäten auf dieses Anreizsystem. Sie lernen weniger, weniger motiviert und mit weniger Freude.

      Diese psychologische Dimension ist eine Seite der Kritik an Noten: Sie wirken nicht so, wie sie lernpsychologisch wirken sollten. Die andere Seite der Kritik ist die Ungenauigkeit von Noten. Durch viele Studien ist das seit Langem erwiesen. Gleichzeitig sollen Noten aber sehr viele anspruchsvolle Funktionen übernehmen: Information, Selektion, Allokation, Motivation, Legitimation, Evaluation, Steuerung von Bildungspolitik – um nur einige zu nennen. Das Fazit von Ingenkamp stammt schon von 1971 und ist vernichtend: «Ein Instrument von derart geringer Objektivität und Zuverlässigkeit ist absolut ungeeignet, so anspruchsvolle Funktionen zu übernehmen.»[12]

      Die Studien, die Ingenkamp zitiert und in seinem Band abdruckt, belegen eindrücklich, was seit 50 Jahren Stand der Wissenschaft ist. In einer Nebenbemerkung betont der Autor, Lehrkräfte würden trotz dieser Studien und einem Verständnis für die Problematik weiterhin darauf bestehen, dass ihren Urteilen eine hohe Objektivität zukomme. Diese Wahrnehmungsverzerrung verbindet diese beiden Seiten der Notenkritik: Sie werden aus systemischen Gründen verdrängt. Weil Lehrende Noten setzen müssen und im System wesentliche Funktionen an Noten gebunden sind, müssen Beteiligte ausblenden, wie problematisch die Notensetzung an sich ist. Felix Winter schreibt dazu, in der wissenschaftlichen Literatur gebe es «kaum Argumente» für die Praxis der Ziffernbenotung: «Diese gut belegte Tatsache wird allerdings von allen Beteiligten (Lehrer, Schüler, Eltern) in der Regel nicht so gesehen.» Der Grund dafür liegt für ihn darin, dass «Noten sehr einfach gemacht werden können und nur schwer extern zu überprüfen sind».[13] Für Lehrende wäre jedes andere System mit mehr Aufwand verbunden – und für Eltern und Lernende ist nicht direkt erkennbar, wie ungenau und unfair Noten sind. «Schematische und pauschale Leistungsziele und entsprechend pauschale Leistungsbeurteilungen müssen durch differenzierte und begründete, strukturierte Lernziele, lernzielorientierte Tests und entsprechende Beurteilungskriterien ersetzt werden. In zunehmenden Maße sollten auch Schüler und Schülerinnen an diesem Begründungs- und Differenzierungsprozess beteiligt werden […], so dass eine in ihren Kriterien uneinsichtige Fremdbeurteilung schrittweise durch Selbst- und Mitbeurteilung seitens der Schüler ersetzt werden kann.»[14] Was Wolfgang Klafki in einem Vortrag 1973 als Gedankengang entwickelt hat, hat sich als Problem kaum verändert: Beurteilungen sind pauschal und zu wenig differenziert.

      Die folgenden Abschnitte klären und verdeutlichen diese Kritik, indem sie in differenzierte Aspekte unterteilt wird.

      Das Problem der unterschiedlichen Bezugsnormen

      Für die Beurteilung einer schulischen Leistung werden üblicherweise drei Bezugsnormen angenommen:

      1 die Sachnorm oder kriteriale Norm, die sich an den sachlichen Anforderungen orientiert,

      2 die Sozialnorm, die eine Leistung in Bezug zu einer Vergleichsgruppe setzt,

      3 die Individualnorm, bei der gemessen wird, wie sich eine Leistung im Verhältnis zu einem früheren Leistungsstand einer lernenden Person ausnimmt.

      Die beiden ersten Bezugsnormen dominieren die schulische Praxis. Über die Anwendung der Individualnorm können in schulischen Kollegien heftige Konflikte entbrennen, etwa dann, wenn sich die neue Sportlehrerin nicht mehr an den Wertetabellen für Leichtathletik orientieren möchte, die seit Jahren in Gebrauch sind, sondern die individuelle Verbesserung von Weiten oder Zeiten innerhalb eines Übungszeitraumes zur Grundlage ihrer Benotung macht. Das deutsche Bundesland Brandenburg hat als eines der wenigen die Individualnorm im Schulgesetz verankert: «Die Leistungsbewertung bezieht sich auf die im Unterricht vermittelten Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten [Sachnorm]. Dabei werden der Leistungsstand der Lerngruppe [Sozialnorm] und die Lernentwicklung der Schülerin oder des Schülers [Individualnorm] berücksichtigt.»[15] Die konkrete Realisation der drei unterschiedlichen Bezugsnormen, ihre Gewichtung oder ihre situationsabhängige Anwendung bleibt den beurteilenden Pädagogen überlassen. Und so kann es – um beim Beispiel der Leichtathletik zu bleiben – dazu kommen, dass die gleiche Leistung sehr unterschiedlich bewertet wird, je nachdem, welche Bezugsnorm angewendet wird: Möchte die Lehrkraft eine Normalverteilung der Noten erzeugen und vergleicht sie die Einzelleistung mit denen innerhalb der Lerngruppe? Orientiert sich die Lehrkraft an den vorgegebenen Werten jenseits der Lerngruppe («Sachnorm») oder vergleicht die Lehrkraft die abschließend erbrachte Leistung mit der zu Beginn der Unterrichtseinheit gemessenen Ausgangsleistung und leitet aus dem Maß der Verbesserung die Note ab? Externe Faktoren der Steuerung, wie etwa vorgegebene Notenbänder, erschweren es zusätzlich, einheitliche Bezugsnormen zu etablieren – weil Sach- oder Individualnormen es möglich machen, dass alle Lernenden gute oder sehr gute Bewertungen erhalten würden. Die Schwierigkeiten, die sich hierbei ergeben, werden dadurch verstärkt, dass ein Bewusstsein für und die Transparenz über die Anwendung der drei Bezugsnormen oft nicht gegeben sind. So mischen sich die unterschiedlichen Funktionen der Notengebung (Information, Selektion, Rückmeldung). Die Forschung betont die nachgewiesenen positiven Auswirkungen der angewendeten Individualnorm auf die Leistungsmotivation der Lernenden, konstatiert aber ebenso die nachgewiesene massive Unterrepräsentation der Individualnorm in der schulischen Praxis.[16]

      Die Herkunft des Bewertungssystems aus der Testtheorie

      Das


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