Identitätskonzepte in der Literatur. Группа авторов
Luxemburger Autor:innen eine größtmögliche Nähe zu ihren französischen und belgischen Kolleg:innen suchten – bis hin zu einer Negierung der eigenen nationalen Identität –, war es den meisten Deutsch schreibenden Luxemburger Autor:innen ein Anliegen, im engen Kontakt mit dem deutschsprachigen Ausland ihre Luxemburger Identität zu betonen. Dieser Unterschied im Verhältnis zur eigenen nationalen Identität sowie zur gewählten Schriftsprache äußerte sich auf mehreren Ebenen, die im Folgenden kurz skizziert werden.
In den 1960er und 1970er Jahren thematisierten viele Deutsch schreibende Luxemburger Autor:innen das Land und den Literaturort Luxemburg mehr oder weniger explizit in ihren Texten. Beispielhaft sei Roger Manderscheid genannt, der sich in seinem Frühwerk, von den frühen 1960ern bis zur Mitte der 1980er Jahre, an Luxemburg, seiner Enge und Mentalität abarbeitete und einen spezifischen Begriff des Provinziellen entwickelte. Besonders augenscheinlich wird dies in seinem 1973 erschienenen, ersten Roman die dromedare. stilleben für johann den blinden und dem Drehbuch stille tage in luxemburg, das er im selben Jahr für einen deutschen Fernsehsender schrieb und das aufgrund seines kritischen Blicks auf Luxemburg und seine Einwohner einen kleinen Skandal auslöste.22 Im Kontrast dazu stand die damalige französischsprachige Luxemburger Literatur, in der das Großherzogtum als Ort kaum eine Rolle spielte. Frank Wilhelms These, dass die französischsprachige Literatur Werke produziere, „où le quotidien luxembourgeois est moins à l’honneur“,23 kann für die 1960er Jahre demnach bestätigt werden. In diesem Sinne hielt Michel Raus, einer der prominentesten Literaturkritiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, für die damalige französischsprachige Luxemburger Literatur etwas überspitzt fest: „dem französischen Schriftsteller aus Luxemburg geht es vor allen Dingen um formal-ästhetische Perfektion. […] Französische Schreiber sind strenggenommen keine Dichter oder Romanciers oder Dramatiker, es sind ‚hommes de lettres‘, Essayisten, Verfechter von Ideen und Idealen“.24 Mars Klein zufolge versuchten die damaligen frankophonen Luxemburger Autor:innen „unbelastet von jeder zu direkten sprachlich-emotionalen Eingebundenheit in die nationalen Luxemburger Verhältnisse, […] ihren kosmopolitischen Beitrag zur internationalen Francité zu schreiben“.25 Als Beispiel für die 1960er Jahre nennt er den Dichter und Dramatiker Edmond Dune, auf den an späterer Stelle noch zurückzukommen sein wird.26
Das unterschiedliche Verhältnis zur eigenen Luxemburger Herkunft spiegelte sich auch in der Handhabung der gebrauchten Literatursprache. Die französischsprachige Luxemburger Literatur der 1960er und 1970er Jahre war, wie bereits angedeutet, von sprachpuristischen Tendenzen geprägt. Eine besonders prominente Figur des damaligen Literatursystems war Marcel Noppeney, Autor und Präsident der Société des écrivains luxembourgeois de langue française (SELF). Als solcher setzte er sich nicht nur für die Förderung Französisch schreibender Autor:innen ein, sondern führte einen regelrechten Kulturkampf gegen jegliche germanophilen Tendenzen. Dieser Kulturkampf war in erster Linie durch das in den 1960er Jahren noch sehr präsente Erlebnis der zwei Weltkriege bedingt (Noppeney selbst wurde mehrmals von deutschen Truppen festgenommen und zum Tode verurteilt). Durch die Propagierung des Französischen, so die Autorin Rosemarie Kieffer, sollte die Luxemburger Identität gegen den deutschen Nachbarn verteidigt werden:
L’argument essentiel de ceux qui entendaient encourager et propager l’écriture de langue française chez nous, était vraiment de taille. L’emploi du français, affirmaient-ils, nous permettait de conserver et de consolider nos qualités proprement luxembourgeoises, et cela en face d’un voisin puissant et dangereux qui menaçait de nous détruire.27
Mars Klein argumentiert in diesem Kontext, dass Noppeney und dessen Französisch schreibende Kolleg:innen durch „die relative sprachliche Distanz des Französischen zum sprachlichen Alltag – Luxemburg ist ja ‚un faux pays francophone‘, Luxemburg ist richtiger ‚un pays francographe‘ oder besser noch ‚entre autre francographe‘“ zur Überzeugung gebracht worden seien, „in einer schwierigen sprachlichen Diaspora zu schreiben und – über den Weg der (phasenweise übertriebenen) Frankophilie – die räumliche und ideelle Distanz zu Frankreich überbrücken zu müssen.“28 Diese Frankophilie äußerte sich nicht zuletzt in einem Sprachpurismus, der vor allem in den Pages de la S.E.L.F. gepflegt wurde. In dieser Zeitschrift publizierte Marcel Noppeney die Rubrik Complexe d’Ésope, in der er seine Landsleute für den falschen Gebrauch von französischen Wörtern und Redewendungen kritisierte, ja bisweilen lächerlich machte. Diese Kritik verstand Noppeney als „intervention […] qui m’est dictée par le respect que Voltaire recommande d’avoir pour cette grande dame qu’est la langue française“.29 Das Verhältnis der Deutsch schreibenden Luxemburger Autor:innen zu ihrer Literatursprache gestaltete sich anders. Wenngleich auch sie sich um eine möglichst fehlerfreie Beherrschung des Deutschen bemühten, ließen sie jedoch auch Raum für einen eigenen, freien Umgang mit der Sprache. Anise Koltz, eine der bedeutendsten Luxemburger Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts und Organisatorin der Mondorfer Dichtertage, betonte viele Jahre später, dass Luxemburger Autor:innen „sowohl im Deutschen als auch im Französischen Worte zusammen[setzten], die ein Muttersprachler nie zusammensetzen würde“30 und dass dieses besondere Verhältnis zur Literatursprache zu einer gewissen Originalität führen könnte. Diese Ansicht vertrat auch Dieter Hasselblatt, als er anlässlich der Mondorfer Dichtertage 1966 über ein Hörspiel von Roger Manderscheid urteilte, „daß hier jemand in deutscher sprache etwas gesagt habe, was ein deutscher auf deutsch gar nicht hätte sagen können“31. Laut Hasselblatt bedienten sich die Deutsch schreibenden Luxemburger Autor:innen zwar der deutschen Sprache, doch sie könnten mit dieser anders, vielleicht freier umgehen als die Deutschen selbst.32 Während die frankophonen Luxemburger Autor:innen also durch ihren Sprachpurismus eine größtmögliche Nähe, ja eine Identität mit der französischen Literatur anstrebten, waren die Deutsch schreibenden Luxemburger Autor:innen eher daran interessiert, sich an dem engagierten Literaturverständnis ihrer ausländischen Kolleg:innen zu orientieren, dieses aber kreativ für die eigenen Bedürfnisse im Luxemburger Literatursystem umzusetzen.
Schließlich thematisierten einige Luxemburger Schriftsteller:innen ihr persönliches Verhältnis zu ihrer Luxemburger Nationalität und zur Literatursprache auch ganz direkt. Als Beispiele können hier die Autoren Edmond Dune für die französischsprachige und Georges Hausemer für die deutschsprachige Luxemburger Literatur dienen. Der Lyriker und Dramatiker Edmond Dune war als Sohn eines Luxemburgers und einer Belgierin Luxemburger Staatsbürger und nahm auch aktiv am Luxemburger Literaturleben teil, indem er beispielsweise die Mondorfer Dichtertage mitorganisierte und in Luxemburger Zeitschriften publizierte. Dennoch pflegte Dune ein sehr distanziertes Verhältnis zu Luxemburg und seiner Literatur. So liest man in einem Brief, den Dune in den 1960er Jahren an seinen französischen Freund Jean Vodaine schrieb: „Je ne veux pas qu’on me traite de poète luxembourgeois! Tu devrais le savoir depuis le temps que tu me fréquentes.“33 Tatsächlich erwähnte Dune seine Staatsbürgerschaft fast nie, in Anthologien wurden seine Gedichte zum Teil unter der Rubrik „poètes français“ publiziert – und dies war auch genau das, was er anstrebte: in einer Reihe mit französischen Autoren zu stehen. Dune negierte aber nicht nur seine eigene Beziehung zum Großherzogtum, sondern darüber hinaus ganz generell die Existenz einer französischsprachigen Luxemburger Literatur. In einem Brief an seinen Luxemburger Kollegen Paul Palgen stellt Dune klar: „À mon sens, la littérature (luxembourgeoise) d’expression française n’existe pas.“34 Dune bezeichnet das Label „französischsprachige Luxemburger Literatur“ in diesem Brief als prätentiös, ja gar als Phantom. Die Idee einer spezifischen Luxemburger Literatur weist Dune kategorisch zurück. Dieser Negierung der Luxemburger Identität und dieser kompletten Identifizierung mit der Kultur Frankreichs, die durchaus auch für andere Luxemburger Autor:innen festgestellt werden kann, steht die Haltung einiger Deutsch schreibender Autor:innen gegenüber. Hier sei zunächst Roger Manderscheid genannt, der Anfang der 1980er Jahre in einem Interview über die deutschsprachige Luxemburger Literatur behauptete: „ich glaub schon daß wir als deutschschreibende Luxemburger einen eigenen, unverwechselbaren ton haben, der bis jetzt noch nicht entdeckt wurde“.35 Dass dieses Unverwechselbare auch in dem komplexen Verhältnis der Luxemburger Autor:innen zu ihren Literatursprachen begründet liegt – Literatursprachen, die damals nur selten identisch mit der luxemburgischen Muttersprache waren –, erläuterte der bereits zitierte und 2018 viel zu früh verstorbene Autor Georges Hausemer 1983 in einer Rede in