Andreas Herzog - Mit Herz und Schmäh. Karin Helle
wollten wir nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen, sprich: aufdringlich sein. Und so saßen wir im hoteleigenen Kaffeehaus meist eher an einem Nebentisch und erfreuten uns aus der Ferne an der Stimmung, die Herzog anscheinend am liebsten bei Kaffee und Kuchen und untermalt von einem Feuerwerk an Anekdoten zu verbreiten schien.
„Ein typischer Wiener“, meinte Karin Helle. „Da rennt der Schmäh.“
Richtig kennen und schätzen lernen durften wir Andreas Herzog rund ein Jahr später. Sozusagen ein echter „One Touch“ im November 2014, irgendwo an einem Freitagabend im Regen von London. Zuvor hatte die US-Nationalmannschaft 1:2 gegen Kolumbien verloren. Das Testländerspiel fand vor rund 25.000 Zuschauern und warum auch immer in London statt, genauer gesagt direkt an der Themse im altehrwürdigen Craven Cottage, der eigentlichen Heimstätte des FC Fulham. Doch wer meinte, dass es atmosphärisch möglicherweise leiser als in Kolumbien zugegangen wäre, hatte sich getäuscht. Gefühlt halb Kolumbien bevölkerte die Tribünen – und ein ohrenbetäubendes Geschrei Tausender, vornehmlich weiblicher Fußballfans wurde bei jedwedem Angriff der Los Cafeteros ausgelöst. Das wiederum hing damit zusammen, dass London eine der größten „Colombian Communities“ außerhalb Kolumbiens stellte, erklärte uns Jürgen Klinsmann später. Aber auch das ist eine andere Geschichte.
Wie auch immer und wie nach jeder Niederlage – das ist anscheinend in allen Klubs weltweit so oder ähnlich – herrschte die übliche Untergangsstimmung bis hin zum möglichen Endzeitszenario. Doch während sich Klinsmann über solche Situationen selten Gedanken machte – ihm ging es vielmehr um Entwicklung als um das Ergebnis –, sorgte ein anderer für gute Laune und herzliche Atmosphäre: Andreas Herzog – und das nach beschriebener Niederlage und spät in der Nacht.
Zuvor hatten wir uns nach Spielabpfiff durch die kolumbianischen Menschenmassen in die Tube der Londoner U-Bahn gedrängt – wenngleich sie im Stadtteil Hammersmith über der Erde fährt – und es endlich bis ins Hotel geschafft. Seit unserem Abflug in Dortmund am Freitagmittag hatten wir nichts gegessen. Irgendwie war uns auf dem ganzen Weg hin zum Stadion oder von dort weg kein einziger Foodtruck, keine Imbissbude, kein Würstelstand begegnet – und selbst im Stadion gab es, warum auch immer, nichts dergleichen. Was waren wir doch in Dortmund mit Stadion, Bier- und Essensverköstigung verwöhnt, dachten wir uns, als wir endlich nach Mitternacht und mit Hunger bis unter beide Arme die Klinsmannsche Lounge in Form des dem Hotel angeschlossenen Pubs erreichten – inklusive Erdnüsse, Cracker, Berti Vogts und Andi Herzog.
Letztgenannter fiel einfach aus dem Rahmen: Zunächst durch eine exzellente Analyse des Spiels, also Fachverstand pur, gefolgt von Stimmung, Herz und Schmäh. Zudem war er an allem interessiert, was über den normalen Fußballsachverstand hinausging: Weltliche Themen genauso wie Feinstoffliches und Spirituelles – das begeisterte uns besonders. Er hatte einfach erstaunlich viel zu erzählen, und vor allem nicht nur von sich selbst, sondern auch von vielen anderen Menschen, von denen er lernen durfte. Und so diskutierten wir leidenschaftlich über Inspiration, Motivation, Astrologie und Philosophie bis 4 Uhr morgens.
„Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“, heißt es so treffend in einem Spruch, und so waren wir von Anfang an begeistert, wie offen und interessiert Andi Herzog uns begegnete. Eigentlich logisch, denn wir kannten Jürgen Klinsmann schon länger, verbunden mit der Tatsache, dass er am liebsten Menschen mit einer gesunden Portion Neugierde um sich scharte, Menschen mit dem berühmten Blick über den Tellerrand, Selbstentwickler, Querdenker und Macher – im Management wie auch in der Fußballwelt rar gesät.
Man sprach anscheinend die gleiche Sprache – und war offen für Neues. Zumal uns noch eine weitere Tatsache unsichtbar verband: Jedenfalls schien es einer dieser seltsamen Zufälle zu sein, dass Karin Helle, geboren in Mödling, ihre Kindheit in Kaltenleutgeben verbringen durfte, samt Großmutter und Ziegen, die sie bei der „Wiener Hütte“ hütete – also nur einen Fußmarsch durch den Wienerwald entfernt von Andi Herzogs heutigem Wohnort. Da schloss sich der Kreis.
„Der Mensch wird erst am Du zum Ich“, heißt es in einem berühmten Zitat des in Wien geborenen jüdischen Philosophen, Religionswissenschaftlers und Erziehers Martin Buber. In anderen Worten: Nur durch die Interaktion mit anderen, durch Begegnungen, Gespräche und Miteinander entwickelt sich die eigene Persönlichkeit.
Genau das hört man immer wieder heraus, wenn man mit Andreas Herzog ins Gespräch kommt. Er erzählt nicht nur von sich, sondern würdigt vor allem die Menschen, durch die er werden konnte, was er heute ist – Wegbegleiter wie Mutter und Vater, seine eigene Familie, Freunde, Ernst Happel, ein Otto Rehhagel, ein Jürgen Klinsmann und viele andere mehr.
Daher möge sich die geneigte Leserschaft an anderer Stelle nicht wundern, wenn wir auch Herzogs Förderern und Forderern hier und da etwas mehr Platz einräumen – und sie in ihrem Tun und ihrer Einzigartigkeit darstellen. Auch das gehört unserer Meinung nach zu einer wahrhaftigen Lebensgeschichte. Denn wie eben erwähnt: Die wirklich Großen erkennen ihr Ich immer am Du. Sie lernen von anderen und wachsen dennoch aus sich selbst heraus. Sie leben die Vielfalt und wissen um ihre Unterstützer und was sie ihnen zu verdanken haben.
In diesem Sinne: Viel Freude mit dem Buch, das Sie in den Händen halten, und hinein in die Biografie von Andi Herzog – authentisch, ehrlich, echt.
Karin Helle und Claus-Peter Niem
Dortmund und Wien, 2021
KAPITEL 1:
HILF DIR SELBST, SONST HILFT DIR KEINER – ODER DER GEIST VON ERNST HAPPEL
NATIONALTEAM 1992
Wie fühlt es sich wohl an, wenn dir eine nationale Legende, ein ehemaliger großer Spieler und noch größerer Trainer, plötzlich und unerwartet die Stirn bietet – allerdings keineswegs im klassischen Sinn Mann gegen Mann, Auge um Auge oder Zahn um Zahn, sondern vielmehr inspirierend und mit der festen Absicht und dem Glauben, aus dir das Beste herauszuholen? Einer, der es wissen muss, ist Andreas Herzog. Sein Sparringspartner im Ring oder in diesem Fall besser gesagt auf der Trainerbank: Ernst Happel.
Herzog, gerade mal 21 Jahre jung, noch bei Rapid Wien kickend und auf dem Sprung zu Werder Bremen, war zu diesem Zeitpunkt noch kein Großer – und auch nach dem Wechsel von den Grün-Weißen der Donaumetropole zu den Grün-Weißen an die Weser noch nicht, zumindest wenn man den Worten seines späteren Klubtrainers und Förderers Otto Rehhagel Glauben schenken mag –, doch dazu später mehr.
Und Ernst Happel? Er war in der Tat die bereits oben erwähnte Legende – und traurigerweise auf seiner finalen Trainerstation angekommen. Happel, authentisch, ehrlich und echt, verstand es wie kein Zweiter, Leichtigkeit, Weite und Menschenkenntnis mit Strategie und Vision zu verbinden – passgenaue Kompetenzen, die er sich am liebsten auf dem Spielfeld des Lebens aneignete, ein reichhaltiger Erfahrungsschatz garantiert. Nicht umsonst erdete sich der „Wödmaster“ aus dem 14. Wiener Gemeindebezirk Penzing zur Entspannung am liebsten im 16., in Ottakring, um hier im Café Ritter auf einen Verlängerten, eine Zigarette oder ein Glaserl Wein einzukehren, mit Freunden und Pensionisten zu plaudern oder sich am Kartenspiel „Schwarze Katze“ zu erfreuen – mittendrin, statt nur dabei. Dort der Stratege des Spielfelds, in Pressing, Raum-, statt Manndeckung denkend und seiner Zeit weit voraus, und hier der aus tiefstem Herzen liebende und lebende Mensch, mit der nötigen Intuition und dem Erfahrungswissen, wie man junge Menschen berühren und führen muss.
Doch zurück zu Andi Herzog und dessen Weg, ein Großer werden zu wollen, sowie der allgemein bekannten Tatsache, dass man im besten Fall aus Rückschlägen lernt. Jedenfalls war das Länderspiel gegen Litauen so eines im April 1992 – zumindest für Andreas Herzog, denn das eigentliche Spiel konnte das ÖFB-Team im Wiener Praterstadion erfolgreich und mit einem Kantersieg 4:0 für sich entscheiden. Vielleicht lag es daran, dass Herzog zu sehr mit seinem bevorstehenden Wechsel nach Bremen kokettierte, vielleicht an der Tatsache, dass Austria damals das bessere Team stellte – so war er neben Peter Schöttel der einzige Rapidler in der rot-weiß-roten Armee, die Violetten mit fünf, sechs Kickern in der Mannschaft vertreten. Für alle Statistiker sei erwähnt: Wohlfahrt, Zsak, Stöger, Prosenik, Ogris, Flögel …