Pflanzenrevolution. Stefano Mancuso
könnte. Offensichtlich spielen epigenetische Modifikationen in der Pflanzenwelt eine wesentlich größere Rolle als bei Tieren, und es wäre daher durchaus denkbar, dass sich Pflanzenzellen an eine stressbedingt modifizierte Genexpressivität erinnern.
Eine Forschungsgruppe unter Leitung von Susan Lindquist am MIT (Massachusetts Institute of Technology, Cambridge, USA) hat kürzlich die These aufgestellt, dass sich Pflanzen zumindest für ihr Blütengedächtnis Prionen zunutze machen, Proteine mit falsch gefalteten Aminosäureketten. Die Umfaltung (misfolding) könne durch Kettenreaktionen zudem an Nachbarproteine weitergegeben werden. Bei Tieren verheißen Prionen nichts Gutes und verursachen beispielsweise die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, den sogenannten Rinderwahnsinn. Aber bei den Pflanzen könnten sie für ein originelles biochemisches Gedächtnis sorgen.
Anders als man vielleicht denken könnte, sind solche Studien nicht nur für die Botanik von größtem Interesse. Wenn wir begreifen, wie ein Gedächtnis ohne Gehirn funktioniert, können wir nämlich nicht nur das Rätsel um das Pflanzengedächtnis lösen, sondern auch unser eigenes besser verstehen: Auf welche Weise kann sich unser Gedächtnis verändern oder erkranken? Wie können sich auch außerhalb des Nervensystems spezielle Gedächtnisformen ansiedeln? Noch dazu könnten zahlreiche technologische Entwicklungen von den neuen Erkenntnissen der biologischen Gedächtnisforschung profitieren. Mit anderen Worten: Fortschritte auf diesem Gebiet sind von allgemeinem Interesse für die Menschheit, weil sie uns ungeahnte Möglichkeiten eröffnen können.
2 VON DER PFLANZE ZUM
PLANTOIDEN
Ein Wurzelstock kann Milliarden von Wurzelspitzen besitzen.
Auf dem Bild sieht man einen Ausschnitt des komplexen Mais-Wurzelstocks.
Wer tief in die Natur hineinschaut, wird alles besser verstehen.
Albert Einstein
Ist die Bioinspiration
wirklich ein neuer Ansatz?
Die Roboter-Revolution scheint ihre Probleme nach Jahren der vorschnellen Ankündigungen, Bedenken, Richtigstellungen und Erläuterungen langsam in den Griff zu kriegen: Heute werden in vielen Bereichen, die man noch vor nicht allzu langer Zeit dem Menschen vorbehalten glaubte, zuverlässige und wirtschaftliche Roboter eingesetzt. Manche gehören sogar schon zum Alltag: Nicht mehr nur im Science-Fiction-Film saugen heute Roboter die Wohnung, mähen den Rasen oder sammeln den Papiermüll von der Straße auf.
Doch obwohl die Roboter längst da und aus einigen Bereichen gar nicht mehr wegzudenken sind, betrachten die meisten Menschen sie noch immer, je nach Einstellung, als Zukunftsgespenst oder Zukunftstraum. Schuld daran ist vermutlich das Bild, das wir von ihnen haben. Eigentlich verbreiten sich die Roboter rasend schnell. In der Automobilindustrie, der Medizin oder der Unterwasserforschung sind sie längst unersetzbar geworden, und täglich kommen neue Anwendungsmöglichkeiten hinzu: Roboter mit künstlicher Intelligenz, Putzroboter, Unterwasserroboter etc.
Doch in Gesprächen mit Freunden stellen wir unweigerlich fest, dass offenbar kaum jemand gemerkt hat, dass heute viel mehr Roboter im Einsatz sind als, sagen wir, vor dreißig Jahren. Woran liegt das? Meiner Meinung nach an dem Bild, das wir uns nach Hunderten Science-Fiction-Filmen und -Büchern von ihnen gemacht haben: In unserer Vorstellung ist der Roboter ein Androide mit menschlichen Zügen und Eigenschaften.
Der Begriff Roboter stammt bekanntlich aus dem Tschechischen. Dort bedeutet robota schwere Arbeit oder Zwangsarbeit – im Polnischen heißt der Arbeiter robotnik. Der Begriff tauchte erstmals 1920 in dem Kollektivdrama R.U.R. – Rossum’s Universal Robots des tschechischen Autors Karel Čapek auf, von wo er sich ebenso schnell verbreitete wie die Vorstellung, die damit einherging. Die künstlichen Arbeiter in Čapeks Drama, die dem Menschen das Leben erleichtern sollten, waren aber eigentlich Replikanten, also humanoides Personal. Doch höchstwahrscheinlich entwickelte sich daraus die allgemeine Vorstellung von einem Maschinenwesen, das im Grunde ein humanoider Sklave war, ein vereinfachtes Abbild des Menschen. Schon kurze Zeit später, 1927, sollte das expressionistische Meisterwerk Metropolis von Fritz Lang die Vorstellung vom Roboter als Maschinenmenschen dann für alle Zeiten zementieren. Aber wer sagt denn, abgesehen von Literatur und Film, dass ein Roboter unbedingt wie ein Mensch aussehen muss?
Der menschenähnliche Roboter wirkt aber wohl auch darum so attraktiv, weil er suggeriert, dass wir dadurch menschliches Handeln ersetzen, erweitern oder verbessern würden. Im Grunde war der Mensch bei der Entwicklung seiner Werkzeuge immer bemüht, sich selbst zu kopieren – oder zumindest seinen tierischen Körperaufbau. Nehmen wir etwa den Computer, den Inbegriff der Moderne. Auf den ersten Blick scheint er uns keineswegs zu ähneln, und doch folgt er einem uralten Muster: Ein Prozessor verwaltet, ähnlich wie das Gehirn, Hardware, Peripherie, Festplatte, Arbeitsspeicher, Grafik- und Audiokarten, also sozusagen die in Schlüsseltechnologien umgewandelten Funktionen unserer Organe. Was der Mensch konstruiert und baut, gründet meist mehr oder weniger offensichtlich auf derselben Architektur: Ein «denkendes Gehirn» steuert die «ausführenden Organe». Auch unsere Gesellschaften sind nach diesem Muster aufgebaut.
Doch glücklicherweise geht man seit einigen Jahren bei der Planung und Produktion neuer Materialien und Geräte immer öfter von einem neuen Ansatz aus: der sogenannten Bioinspiration. Sie lässt sich bei der Entwicklung technischer Lösungen von der Natur anregen. Allerdings ist das gar nicht so neu: Schon Leonardo da Vinci (1452 – 1519) griff häufig darauf zurück. So etwa bei seinem «Ritterautomaten» von 1495, dem ersten humanoiden Roboter. Wie man Leonardos Notizen im Codex atlanticus und anderswo entnehmen kann, konnte der Automat aufstehen, Kopf und Arme bewegen, den Mund öffnen und Laute hervorbringen. Der Ritterautomat war höchstwahrscheinlich für ein pompöses Fest am Mailänder Hof der Sforza bestimmt. Auf jeden Fall aber war er von der Natur inspiriert und basierte auf Leonardos anatomischen Studien, wie etwa der berühmten Feder- und Tuschezeichnung Der vitruvianische Mensch.
Das Bühnenbild von Rossum’s Universal Robots. Das Science-Fiction-Stück wurde 1921 in Prag ufgeführt.
Das Büro von Domin, dem Demiurgen und Protagonisten des Stücks, in einer Zeichnung von Vlastislav Hofman.
Die Bioinspiration hat also in der Roboterentwicklung für frischen Wind gesorgt. Und mittlerweile dient nicht nur der Mensch als Vorbild. In der Tierwelt nach Lösungen zu suchen, die man erforschen und nachahmen kann, ist zu einer wahren Goldgrube geworden. Seit einigen Jahren experimentiert man zunehmend mit Animaloiden und Insektoiden, ja selbst Roboter, die Salamander, Esel oder sogar Kraken nachahmen, scheinen vielversprechend. Wenn ein Unterwasserroboter Gegenstände greifen und bewegen soll, ist es zweifellos klug, sich an den intelligenten Oktopustentakeln zu orientieren. Und für einen Amphibienroboter, der problemlos zwischen Wasser und Land wechseln soll, kann man wohl kein besseres Vorbild als den Salamander wählen. Doch scheint sich die Bioinspiration bisher völlig auf das Tierreich zu beschränken. Und was ist mit den Pflanzen? Tja. Offenbar glaubt keiner, dass sie hier eine große Rolle spielen könnten.
Ich sehe das allerdings anders. Meiner Meinung nach gibt es viele gute Gründe, sich bei technologischen Entwicklungen am Pflanzenreich zu orientieren. Pflanzen haben einen sehr geringen Energiebedarf, führen passive Bewegungen aus, sind modular aufgebaut, besitzen – im Gegensatz zur zentralisierten tierischen Intelligenz – eine verteilte Intelligenz und verhalten sich wie Kolonien. Wer nach etwas Robustem, energetisch Nachhaltigem und unglaublich Anpassungsfähigem sucht, wird auf unserer Erde kein besseres Vorbild als die Pflanzen finden.
Warum ausgerechnet die Pflanzen?