Arminuta. Donatella Di Pietrantonio

Arminuta - Donatella Di Pietrantonio


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Tag tragen sollte. Im Wohnzimmer auf und ab stolzierend, probierte sie sie an. Weiß und blau, mit gestärktem Kragen und Manschetten. Nun besaß auch sie eine Uniform, wie ihr Bruder. Sie vollführte eine Reihe von Pirouetten, um uns den Tellerrock vorzuführen. Als sie wieder stillstand und die Welt aufgehört hatte, sich um sie zu drehen, war ich nicht mehr da, um ihr zuzuschauen.

      Von der Verkäuferin stieg sie bald zur Kassiererin auf und nach einem Jahr zur Abteilungsleiterin. Sie kam immer später nach Hause. Dann zog sie um in den Hauptsitz des Kaufhauses, viele hundert Kilometer entfernt. Ab und zu schrieb sie mir, und ich wusste nicht, was ich antworten sollte. In der Schule alles in Ordnung, ja. Immer noch mit Patrizia befreundet, klar. Im Schwimmbad hatte ich gelernt, im Wasser Purzelbaum zu schlagen, fror aber immer noch. Anfangs schickte sie Ansichtskarten mit den Sehenswürdigkeiten der Stadt, doch irgendwann müssen sie alle gewesen sein. Ich malte schwarze Sonnen ins Heft, schwarz wie meine Stimmung, und die Lehrerin rief daheim an, um zu fragen, ob jemand gestorben sei. Im Zeugnis hatte ich einen Notendurchschnitt von eins, mit der akribischen Erledigung der Hausaufgaben füllte ich die leere Zeit aus, die Lidia hinterlassen hatte.

      Im August kehrte sie auf Urlaub zurück, doch ich fürchtete mich davor, erneut mit ihr glücklich zu sein. Wie gewohnt gingen wir an den Strand, und sie bekam trotz der Cremes, die sie mit Angestelltenrabatt erworben hatte, einen Sonnenbrand. Wenn sie sich mit den üblichen Badegästen unterhielt, die sie grüßten, hatte sie schon den falschen nördlichen Akzent der Ausgewanderten. Ich schämte mich für sie und begann, die Sehnsucht abzuwürgen.

      Nur noch einmal habe ich sie gesehen, bevor meine Eltern beschlossen, mich zurückzugeben. Sie klingelte, und ich öffnete einer Unbekannten mit gefärbten, künstlich geglätteten Haaren. An ihre Beine geklammert brachte sie ein kleines Mädchen mit, das nicht ich war.

      Neben Adriana malte ich mir in der Dunkelheit aus, dass Lidia mich retten könnte, mich vielleicht eine Zeit lang bei sich aufnehmen könnte, dort im Norden. Doch sie war in eine andere Stadt gezogen, und ich wusste nicht, wie ich sie ausfindig machen sollte. Es war noch zu früh, um mir eine andere Rettung vorzustellen.

      12

      Sie knipsten das Licht aus und sprangen mit einem Satz ins Bett. Pst, zischte Sergio dem Bruder zu, als ich ins Zimmer trat, aber er kicherte immer noch halb erstickt ins Kissen. Vincenzo war seit dem Nachmittag fort und Adriana noch drüben mit dem Kleinen im Arm. Ich zog mich im Dunkeln aus und schlüpfte in der aufgeladenen Stille zwischen die Laken. Mit dem Fuß stieß ich gegen etwas Lebendiges, das sich bewegte und flatterte, warm und haarig. Zugleich mit meinem Schrei hörte ich das hämische Gelächter der beiden und spürte ein wiederholtes Picken am Fußgelenk. Irgendwie fand ich den Schalter, drehte mich um und schaute zum Bett. Eine Taube drehte sich trippelnd um sich selbst, kreiste um ihren heilen, ausgebreiteten Flügel, als könnte er ihr zum Fliegen genügen. Der andere war gebrochen, nah am Körper. Ihre Exkremente auf der neuen Bettwäsche. Sie erreichte den Bettrand, fiel hinunter und schlug mit der Brust auf.

      Die Brüder hatten sich aufgesetzt und lachten schallend, sie klopften sich mit ihren Pranken auf die Schenkel, und die Tränen liefen ihnen herunter. Auf dem Boden versuchte das Tier weiter, sich zu erheben. Des Schauspiels müde, nahm Sergio es an dem noch ganzen Flügel und schleuderte es aus dem Fenster. In dem Augenblick war ich sicher, dass er es war, der ihm den anderen Flügel gebrochen hatte.

      Aus nächster Nähe schrie ich ihn an, er sei ein Ungeheuer, und zerkratzte ihm mit allen zehn Fingernägeln so tief das Gesicht, dass aus den zurückgebliebenen Striemen sofort Blut quoll. Er wehrte sich nicht, schlug nicht zu, lachte etwas angestrengt weiter, um mir zu beweisen, dass ich ihm nichts anhaben konnte. Der andere sprang auf den Betten herum wie ein Affe und ahmte das Gurren der Tauben nach.

      Der Vater kam nachsehen. Bevor er begriff, was passiert war, versetzte er aufs Geratewohl allen zweien ein paar Ohrfeigen, nur so zur Beruhigung. In stillschweigendem Einverständnis züchtigte immer er die Jungen, seit sie so groß geworden waren, dass die Kräfte seiner Frau nicht mehr genügten. Sie verabreichte dafür Adriana mehr oder weniger täglich eine Tracht Prügel.

      »Kleiner Scherz«, rechtfertigte sich Sergio, »die da schreit nachts wegen nichts und wieder nichts und weckt uns damit. Jetzt hab ich sie mal vor Schreck schreien lassen.«

      Am nächsten Tag half ich beim Falten der schon getrockneten Bettwäsche.

      »Pass auf die Stinkwanzen auf«, sagte die Mutter und zerquetschte ein schönes grünes Exemplar. »Ich weiß nicht, war um sie sich so gern auf die aufgehängte Wäsche setzen.« Dann ging sie wie selbstverständlich von den Wanzen zu den Menschen über: »Dieser zweite ist mir wirklich missraten. Der andere haut hin und wieder mal ab, aber sonst ist er nicht übel.«

      »Die wollen mich hier nicht haben, deshalb quälen sie mich. Warum schickt ihr mich nicht dahin zurück, wo ich vorher war?«

      »Nach und nach wird sich auch Sergio dran gewöhnen. Versuch halt, nicht im Schlaf zu schreien, das regt ihn auf.«

      Den Stoß Wäsche auf dem Arm, hielt sie kurz inne. Sie sah mir in die Augen, was sie nur selten tat, als verfolge sie einen Gedanken.

      »Weißt du noch, wie wir uns auf der Hochzeit begegnet sind? Du warst etwa sechs oder sieben.«

      Mit einem Peitschenschlag öffnete sie mein Gedächtnis wieder.

      »Ja, ich erinnere mich dunkel, nur dass du hier so anders bist, in deinen Alltagskleidern. Damals warst du elegant«, gab ich zu.

      »Du kannst dir nicht vorstellen, zu wie vielen Gelegenheiten ich dieses Kostüm getragen hab. Irgendwann war ich bisschen dicker geworden und hatte Angst, es würde aus allen Nähten platzen«, lächelte sie. »Es war ein Sonntag im Juni, das Brautpaar hatte Zeit vertrödelt mit dieser ganzen Fotografiererei«, begann sie zu erzählen. »Wir hatten solchen Hunger, um drei suchten wir immer noch im Restaurant nach unseren Plätzen. Auf einmal dreh ich mich um und seh dich, du warst kaum wiederzuerkennen, so groß und hübsch warst du geworden.«

      »Wer hat dir denn gesagt, dass ich es war?«

      »Erstens hab ich’s gefühlt, und außerdem war ja Adalgisa da, oder? Sie unterhielt sich mit ’ner Verwandten und hat mich nicht gleich bemerkt. Ich hab dich gerufen, und du hast den Kopf gehoben. Der Mund blieb dir offen stehen, vielleicht weil ich heulen musste.«

      Heute würde ich sie nach jeder kleinsten Einzelheit dieser Begegnung fragen, doch damals war ich zu durcheinander. Sie sprach alleine weiter, die Wäsche hatte sie auf einem Stuhl abgelegt.

      »Aber als sie mich gesehen hat, kam Adalgisa sofort und stellte sich zwischen dich und mich. Da hast du hinter ihr neugierig dein Köpfchen vorgestreckt und mich angeschaut.«

      Ich hatte eine vor der Zeit weiß gewordene Strähne betrachtet, die ihr quer über die Stirn hing wie ein ganz eigenes Erkennungszeichen. Als ich ihr zurückgegeben wurde, fiel diese Strähne in ihren früh ergrauenden Haaren schon kaum noch auf und verlor sich dann später im völligen Weiß.

      An jenem Tag auf der Hochzeit wusste ich noch nichts. Meine Väter waren Vettern zweiten Grades, ich trug ihren Nachnamen. In dem Monat, in dem ich abgestillt wurde, hatten sich die zwei Familien mündlich mein Leben aufgeteilt, ohne genaue Absprachen zu treffen, ohne sich zu fragen, was mich ihre Unbestimmtheit kosten würde.

      »Ich konnte nicht viel sagen, du warst ja noch klein, aber ich hab deiner Tante doch gründlich die Leviten gelesen.«

      »Warum denn?«

      »Sie hatte geschworen, ihr würdet uns immer besuchen, wir würden dich gemeinsam aufziehen. Stattdessen haben wir dich nur einmal bei deinem ersten Geburtstagsfest gesehen, da sind wir extra in die Stadt gefahren.« Einen Augenblick lang versagte ihr die Stimme. »Aber danach seid ihr umgezogen, und keiner hat uns Bescheid gesagt.«

      Ich hörte ihren Worten aufmerksam zu, wollte ihr aber nicht vertrauen. Auch Adriana hatte es ja gesagt, gleich am Tag meiner Ankunft, dass man ihr nicht alles glauben konnte.

      »Sie hat sich rausgeredet, die kranke Schwägerin würde bei ihr wohnen und die könnten sie nicht allein lassen, aber genau in


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