The New Jim Crow. Michelle Alexander
weißen Arbeiterklasse, dass Armut und wirtschaftliche Erfolglosigkeit das Ergebnis eines verfehlten politischen Systems waren, das verändert werden musste, rapide ab. »Die Art, wie am unteren Ende der Einkommensskala die Weißen gegen die Schwarzen ausgespielt wurden, verstärkte die ohnehin bei vielen Weißen verbreitete Ansicht, dass die Benachteiligten – insbesondere die Schwarzen – selbst die Verantwortung für ihre Lebensbedingungen trugen und nicht die Gesellschaft«, erklären die Edsalls.63 So wie die Eliten des Südens bei der Wende zum 20. Jahrhundert das Thema Rasse eingesetzt hatten, um die Klassensolidarität unter den Armen zu zerstören, so hatte nun die landesweite Problematisierung von Rassenfragen die Koalition der Mittel- mit den Unterschichten zerstört, die der New Deal der Demokraten geschmiedet hatte.
Die konservative Revolution, die in den 1960er Jahren in der Republikanischen Partei Wurzeln schlug, erreichte ihre volle Ausprägung erst mit der Präsidentschaftswahl von 1980. Das Jahrzehnt vor Ronald Reagans Kandidatur war geprägt von politischen und gesellschaftlichen Krisen. Der Bürgerrechtsbewegung folgten eine erbitterte Auseinandersetzung über die Umsetzung des Gleichheitsprinzips – Streitpunkte waren insbesondere Busing und Affirmative Action – sowie dramatische politische Auseinandersetzungen um den Vietnamkrieg und Watergate. Auch die Konservativen legten in dieser Zeit Lippenbekenntnisse zur Rassengleichstellung ab, tatsächlich aber widersetzten sie sich aktiv der Integration, dem Busing und der Durchsetzung der Bürgerrechte. Immer wieder stellten sie Sozialhilfe in Frage und setzten dabei geschickt das Bild einer sich nach Kräften abmühenden weißen Arbeiterschaft in Gegensatz zu dem der armen Schwarzen, die sich angeblich vor der Arbeit drückten. Die Botschaft an die weiße Arbeiterklasse war klar: Eure Steuergelder fließen in Unterstützungsprogramme für Schwarze, die sie in aller Regel nicht verdient haben. Während dieser Zeit rief Nixon auch den »Krieg gegen die Drogen« aus – eine Ankündigung, die mehr oder weniger reine Rhetorik blieb, da sich an der Drogenpolitik wenig änderte, außer dass Drogen zum »Staatsfeind Nummer eins« erklärt wurden. Den Schwarzen blies also wieder einmal der Wind ins Gesicht, aber es hatte sich noch kein Konsens darüber herausgebildet, welche neue Rassen- und Gesellschaftsordnung diese turbulente Zeit hervorbringen sollte.
Reagan erwies sich im Wahlkampf als Meister darin, »die Sprache der Rasse aus dem öffentlichen Diskurs der Konservativen zu streichen«. Damit konnte er auf dem Erfolg früherer Konservativer aufbauen, die es verstanden hatten, die Feindseligkeit und die Ressentiments zwischen den Rassen politisch auszuschlachten, ohne sich explizit auf das Thema Rasse zu beziehen.64 Er wetterte gegen sogenannte »Welfare Queens«, zumeist alleinerziehende Mütter, die sich angeblich mithilfe von Sozialleistungen ein schönes Leben machten, und zog gegen kriminelle »Raubtiere« zu Felde. So errang er die Präsidentschaft mit Unterstützung der unzufriedenen weißen Arbeiterklasse, die sich von der Befürwortung der Bürgerrechte durch die Demokratische Partei verraten fühlte. Wie ein Insider bemerkte, beruhte Reagans Anziehungskraft vor allem auf dem ideologischen Eifer des rechten Flügels der Republikanischen Partei und »der Nöte jener, die Angst oder Abneigung gegenüber den Negern empfanden und die von Reagan erwarteten, sie ›an ihrem Platz‹ zu halten oder zumindest ihrer eigenen Wut und Enttäuschung eine Stimme zu geben«.65 Reagan verstand es, die Frustration der Weißen in rassenneutraler Sprache unterschwellig anzusprechen. Weiße (und schwarze) Wähler hörten aus seinen oberflächlich »farbenblinden« Sätzen über Verbrechen, Sozialleistungen und die Rechte der Bundesstaaten sehr deutlich die rassistischen Untertöne heraus, auch wenn sich dies nirgends konkret festmachen ließ. Ein Beispiel: Als Reagan seine Kandidatur für das Präsidentenamt auf der jährlich stattfindenden Neshoba County Fair bei Philadelphia im Bundesstaat Mississippi verkündete – in einer Stadt, in der 1964 drei Bürgerrechtsaktivisten ermordet worden waren –, versicherte er der Menge: »Ich glaube an die Rechte der Bundesstaaten«, und versprach, ihren Einfluss zusammen mit dem der Kommunalverwaltungen zu stärken.66 Seine Kritiker warfen ihm sofort vor, dies sei eine rassistische Botschaft, mit der Reagan bei den Gegnern der Bürgerrechte anzukommen versuche, doch Reagan bestritt dies entschieden und zwang damit die Liberalen in eine Position, die bald vertraut werden sollte – sie behaupteten, etwas sei rassistisch gemeint, konnten es aber nicht nachweisen, da keinerlei explizit rassistische Äußerungen gefallen waren.
Verbrechen und Sozialprogramme waren die beherrschenden Themen in Reagans Wahlkampf. Gerne erzählte er die Geschichte von einer »Welfare Queen« aus Chicago, mit »80 Namen, 30 Adressen, 12 Sozialkarten«, deren »steuerfreies Einkommen 150.000 Dollar übersteigt«. 67 Der Ausdruck »Welfare Queen« war ein nicht besonders subtiler Code für eine angeblich »faule, habgierige schwarze Mutter aus dem Getto«. Lebensmittelmarken würden es bloß ermöglichen, dass sich »irgendjemand vor einem ein Steak kauft«, während man »mit seiner Packung Hackfleisch an der Kasse steht«.68 Solche stark rassistisch gefärbten Geschichten, die sich gezielt an die weiße Arbeiterklasse wendeten, waren gewöhnlich von vollmundigen Versprechen begleitet, auf Ebene der Bundesregierung härter gegen Verbrechen vorzugehen. Reagan charakterisierte den Kriminellen als »ein glotzendes Gesicht – ein Gesicht, das der beängstigenden Realität unserer Zeit gehört: das Gesicht des menschlichen Raubtiers«.69 Reagans rassistisch codierte Rhetorik und Strategie erwiesen sich als außerordentlich effektiv: 22 Prozent der Demokraten ließen ihre Partei im Stich und gaben ihm ihre Stimme. Von den Demokraten, die fanden, dass die Führer der Bürgerrechtsbewegung »zu stark« drängten, liefen sogar 34 Prozent zu ihm über.70
Nach Reagans Wahl zeigte sich, dass sich sein Wahlversprechen, den Kampf gegen die Straßenkriminalität zu verstärken, nicht ohne Weiteres umsetzen ließ, da diese Aufgabe traditionell den Vollzugsorganen der Bundesstaaten und Gemeinden zufiel. Nach anfänglicher Konfusion und einigen Kontroversen darum, ob nun die öffentliche Sicherheit in die Verantwortung des FBI und der Bundesregierung fallen sollten, kündigte das Justizministerium an, die Zahl seiner Spezialisten für Wirtschaftskriminalität um die Hälfte zu reduzieren und sich von jetzt an mehr auf die Straßen- und insbesondere die Drogenkriminalität zu konzentrieren.71 Im Oktober 1982 erklärte Präsident Reagan offiziell seinen Krieg gegen die Drogen. Zu diesem Zeitpunkt betrachteten lediglich 2 Prozent der Amerikaner Drogen als das größte Problem des Landes.72 Davon ließ sich Reagan nicht aufhalten, hatte doch der Drogenkrieg von Anfang an wenig mit Drogen, aber viel mit Rasse zu tun ge habt. Mit seinem Krieg gegen die Drogenkonsumenten und Dealer löste Reagan sein Versprechen ein, gegen die »Anderen« – vorzugehen – jene, die es nicht besser verdient hatten.
Die Budgets der Vollzugsbehörden des Bundes schossen praktisch über Nacht in die Höhe. Zwischen 1980 und 1984 stiegen die Mittel des FBI für den Kampf gegen die Drogen von 8 Millionen Dollar auf 95 Millionen Dollar. 73 Die Gelder, die das Verteidigungsministerium für den Drogenkrieg bereitstellte, nahmen von 33 Millionen Dollar im Jahr 1981 auf 1,042 Milliarden Dollar im Jahr 1991 zu. Während dieser Zeit kletterten die Ausgaben der Antidrogenbehörde DEA von 86 Millionen Dollar auf 1,026 Milliarden Dollar und die des FBI für den Kampf gegen die Drogen von 38 auf 181 Millionen Dollar.74 Im Gegensatz dazu wurde die Finanzierung von Einrichtungen, die sich mit der Behandlung von Süchtigen, der Prävention und Aufklärung beschäftigten, drastisch zusammengestrichen. Das Budget des National Institute of Drug Abuse beispielsweise fiel von 1981 bis 1984 von 274 Millionen Dollar auf 57 Millionen Dollar, und die Gelder des Bildungsministeriums für diese Zwecke wurden von 14 Millionen Dollar auf 3 Millionen Dollar gekürzt.75
Um sicherzustellen, dass die »neue republikanische Mehrheit« weiterhin die aussergewöhnliche Expansion der bundesstaatlichen Aktivitäten unterstützte und der Kongress diese weiterhin finanzierte, lancierte die Regierung unter Reagan eine Medienkampagne, die den Krieg gegen die Drogen rechtfertigen sollte.76 Darin wurde vor allem der Konsum der neuen Droge Crack in den Innenstädten dramatisiert, die aufgrund der Deindustrialisierung unter rasant steigenden Arbeitslosenzahlen litten. Der Medienrummel, den die Kampagne auslöste, hätte für die Afroamerikaner kaum zu einem ungünstigeren Zeitpunkt kommen können.
Anfang der 1980er Jahre, als der Krieg gegen Drogen seinen Anfang nahm, standen viele amerikanische Innenstädte vor dem ökonomischen Kollaps. Die einfachen Arbeitsplätze in der Industrie, die es in den Städten während der 1950er und 1960er Jahre noch in Hülle und Fülle gegeben hatte, waren verschwunden.77 Vor 1970 konnten