Wir können und müssen uns neu erfinden. Wilhelm Rotthaus

Wir können und müssen uns neu erfinden - Wilhelm Rotthaus


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und künstliche Intelligenz

       Das Deliktrecht

       Die Zeit

       Visionen entwickeln

       Interview vom 1. September 2252 mit dem Historiker Professor Dr. Fritz Tabari

       Nachwort

       Anmerkungen

       Literatur

       Über den Autor

       Vorwort

      Wir, die von der europäischen Kultur geprägten Menschen der sogenannten westlichen Welt, befinden uns in einer Zeit des tiefgreifenden Umbruchs. Die Epoche des Individuums, die ausgehend von Europa über etwa neun Jahrhunderte das Denken und Handeln in weiten Teilen der Welt geprägt hat, geht zu Ende. Damit stellt sich eine Jahrtausendaufgabe: Wir werden ein neues Bild unserer selbst erfinden müssen, das neue Vorstellungen über unsere Beziehung zu unseren Mitmenschen, zu der uns umgebenden Natur, zu Raum und Zeit, zur Wirtschaft und zur Verteilung von materiellen Gütern umfasst, was sich in einem angepassten Rechtssystem spiegelt.

      Ein »Weiter so« ist nicht mehr möglich. Das Bewusstsein dafür, dass wir uns in einer multiplen Krise befinden, wächst, was sich unter anderem an den weltweiten, von Schulstreiks begleiteten Demonstrationen und an einer steigenden Zahl an Publikationen zu diesem Thema ablesen lässt. Nicht nur mit der Flutkatastrophe in unserem Land im Sommer 2021 und zeitgleich extremen Hitzewellen in Südeuropa und Nordamerika zeigen sich die Auswirkungen eines Klimawandels, der ganz offensichtlich nicht durch leichte Kurskorrekturen zu lösen ist, sondern tiefgreifende Veränderungen in allen Bereichen unseres Lebens erfordet.

      Gleichzeitig ist in unserer Gesellschaft unübersehbar eine Zunahme an Egozentrik, egoistischen und hyperindividualistischen Verhaltensweisen zu beobachten. Grenzen der Selbstverwirklichung, der Selbstbereicherung und Selbstdurchsetzung werden zunehmend weniger akzeptiert. Sie kennen das Phänomen: In grotesker Weise werden beispielsweise Rettungskräfte, die sich um das Leben eines Verunglückten bemühen, körperlich angegriffen, nur weil sie mit ihrem Einsatz den Verkehr blockieren und das Weiterkommen eines Einzelnen stören. Polizeibeamte, die Ordnungsmaßnahmen des Staates durchzusetzen versuchen, werden immer häufiger unflätig beschimpft und auch körperlich attackiert. In Idar-Oberstein erschießt ein 49 Jahre alter Mann einen 20-jährigen Verkäufer in einer Tankstelle nach dessen Hinweis auf die Maskenpflicht, weil er die Corona-Maßnahmen ablehnt. Gewalt zur Durchsetzung der individuellen Interessen wird häufiger, die Gesellschaft insgesamt rabiater. Der Bielefelder Sozialpsychologe Andreas Zick kommentiert dies mit den Worten: »Das sollte uns aber nicht überraschen. Schließlich wird auf allen gesellschaftlichen Ebenen seit Jahren vor allem Durchsetzungsfähigkeit und Eigeninteresse gepredigt.«1

      Die Parteiendemokratie vermag vor allem in den USA schon seit Längerem, spätestens aber seit der Wahl von Donald Trump 2016 nicht mehr ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Die Globalisierung ebenso wie die ungezügelte Datenflut im Rahmen der Digitalisierung verstärken die Verunsicherung. Das Vertrauen in unser Wirtschaftssystem ist nicht erst seit der großen Weltfinanzkrise 2018/2019 ins Wanken geraten. Selbst in Ländern wie Deutschland ist ein erschreckendes Ausmaß an Armut und prekären Arbeitsverhältnissen zu beobachten. Die Plastikvermüllung der Meere hat ein unglaubliches Ausmaß angenommen. Anzeichen, dass der Klimawandel mit seinen Folgen – unter anderem: Anstieg des Meeresspiegels, Artensterben, Extremwetterereignisse, Wüstenbildung durch Übernutzung und Dürre – noch substanziell zu mildern ist, sind nicht oder kaum zu erkennen. Da besonders die ärmeren und wirtschaftlich eher schwachen Länder von den Folgen betroffen sein werden, muss mit zunehmenden Konflikten und Verteilungskämpfen um die knapper werdenden Ressourcen unseres Planeten gerechnet werden. In der Folge sind gewaltige Migrationsbewegungen zu erwarten, die das, was wir bisher erlebt haben, weit übertreffen werden. Für die bereits 1972 von D. L. und D. H. Meadows veröffentlichte MIT-Studie Die Grenzen des Wachstums wurden Berechnungen durchgeführt, die besagen, dass unter den Bedingungen des Standard Run, d. h. der Annahme, dass die Menschheit einfach so weitermacht wie bisher, die menschliche Zivilisation notwendigerweise zusammenbrechen muss – und zwar innerhalb der nächsten 100 Jahre. Göpel2 berichtet, die Studie sei immer wieder aktualisiert und überprüft, aber nicht grundsätzlich widerlegt worden.

      Die dargestellten Befunde sind nur ein kleiner, allgemein bekannter Ausschnitt und könnten noch in vielfältiger Weise ergänzt werden. Sie sind keineswegs neu und für niemanden überraschend. Seit Jahrzehnten liefern die Wissenschaften dramatische Ergebnisse und Prognosen, die sich alle im Wesentlichen bestätigt haben. Auch ist weitgehend unbestritten, dass durchgreifende Änderungen getroffen werden müssen, um die Folgen des Klimawandels zumindest einzugrenzen. Selbst darüber, welche Maßnahmen vordringlich zu ergreifen sind, gibt es kaum einen gravierenden Dissens. Das Überraschende ist nur: Diese Maßnahmen werden von der Politik – wenn überhaupt – nur sehr zögerlich angegangen, und es gibt nur kleine Gruppen in der Bevölkerung, die Druck machen, während andere eher bremsen. Die meisten Menschen ignorieren aber schlicht die Befunde und auch die nicht mehr zu übersehenden Signale, auch wenn das zunehmend schwieriger wird.

      Warum ist das so? Zunächst bietet sich die naheliegende Überlegung an, dass niemand gerne deutliche Änderungen in seinem Lebensstil vollzieht, wenn er sich nicht dazu gezwungen fühlt. Und dieser Zwang wirkt zumeist erst dann, wenn die Folgen des Nichtdarauf-Reagierens unmittelbar vor Augen stehen. Auch sind alle Szenarien, die mit dem Erleben von Verlust und Einschränkungen verbunden sind, verständlicherweise nicht besonders verlockend. Und schließlich löst das Bedrohungsszenario Gefühle der Hilflosigkeit aus, die bekanntlich oft durch Verdrängungsmechanismen »bewältigt« werden. Andererseits: Für ihre Kinder und Enkel setzen sich die Menschen heutzutage in der Regel bereitwillig und oft sehr engagiert ein und sorgen sich um deren Wohlergehen und Zufriedenheit. Und doch zeigen sie kaum eine Bereitschaft, sich für den Schutz unseres Planeten einzusetzen, damit dieser ihren Kindern und Enkeln noch ein gutes Leben ermöglichen kann.

      Dieses auch von anderen Autoren wahrgenommene Gesamtphänomen muss einen tieferen Grund haben, ohne den das Verhalten des heutigen Menschen nicht erklärbar ist. Und der liegt meines Erachtens in dem anthropozentrischen Selbst- und Weltbild des Menschen, das die offensichtlich zu Ende gehende Epoche des Individualismus geprägt hat. Die Idee des Individuums, mit der es sich – Gott gleich – mehr und mehr zum Maßstab aller Dinge machte, hat der europäische Mensch etwa im 12. Jahrhundert erfunden. Er hat den Auftrag des Alten Testamentes aufgegriffen, sich die Erde und alles, was darauf »kreucht und fleucht«, untertan zu machen. Dieses Menschenbild, das im weiteren Verlauf dieses Beitrags noch näher skizziert werden soll, hat außerordentliche Kräfte freigesetzt und eine imposante technische Entwicklung möglich gemacht. Sein linear-kausales Denken wurde zum dominanten Modell; denn es war sehr erfolgreich.

      Ein ökologisches Denkmodell demgegenüber, das Zusammenhänge und wechselseitige Abhängigkeiten wahrnimmt und berücksichtigt, ist dem Menschen mit einem individuumzentrierten Weltbild fremd. Er ist dafür sozusagen blind. Auch Ideen von Zusammenleben und Kooperation gerieten im Verlauf der neun Jahrhunderte in den Hintergrund zugunsten des spätestens im letzten Jahrhundert zunehmend vorrangig in Erscheinung tretenden Ziels der Selbstverwirklichung. Hinzu kam, dass der Mensch in der Epoche des Individualismus den gleichmäßig und unerbittlich voranschreitenden linearen Zeitstrahl zum einzig gültigen Zeitkonzept erkor. Aufgrund dessen fühlt sich


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