Kein Trost, nirgends?. Hans-Jürgen Benedict

Kein Trost, nirgends? - Hans-Jürgen Benedict


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konnte das ein einem zivilisierten Land wie Deutschland geschehen. Es war ja mein Land, auf das ich trotz allem wegen seiner großen Kultur und technischen Errungenschaften stolz war. Wieso haben meine Eltern und Verwandten das hingenommen, fing ich an zu fragen. Sollte ich ihnen glauben, dass sie nichts davon wussten? Als ich in Yad Vashem in den weiten dunklen Raum mit den gespiegelten fünf Lichtern trat, der an die etwa eineinhalb Millionen von den Nazis getöteten Kinder erinnerte, ihre Namen wurden leise verlesen, war es ein schmerzlicher und zugleich tröstlicher Moment. Ihr Andenken ist nicht vergessen, immer wieder werden ihre Namen genannt. Wie ich hätten sie noch leben können, denn die Jüngsten waren in meinem Alter. Sie wurden ausgelöscht, aber sie werden erinnert. Das ist auch ein Trost. Der Trost des Gedenkens.

      Nicht in Ruhe lassen mich auch die 60 Millionen Opfer des Zweiten Weltkriegs, besonders die 5,6 Millionen polnischen Opfer und die 23 Millionen Toten der Sowjetunion als Folge des deutschen Vernichtungskriegs. Und die Toten der Kriege danach, Korea, Nahost, Vietnam, Afghanistan, Irak u.a., außerdem Naturkatastrophen wie der Tsunami in Südostasien 2004 mit 230 000 Toten und das Erdbeben auf Haiti mit seinen über 300 000 Toten 2010, die vielen Toten infolge der Flüchtlingsbewegungen, die Ertrunkenen im Mittelmeer. Während meines langen Lebens wurde ich ständig mit dem Tod an anderen Orten konfrontiert. Immer habe ich versucht innezuhalten und der Opfer zu gedenken. Das war mir gerade als Theologe wichtig. Ist doch Gott ein Name für das Gedenken und die Kirche ein Ort, wo das geschehen kann (aber nicht mit revanchistischen Kriegerdenkmälern!). Gegenwärtig sind es die Toten der Corona-Pandemie, die Trauer und Betroffenheit hervorrufen. 4,5 Millionen weltweit, 92 500 in Deutschland. Das sind alles bedrängende Zahlen, die einen billigen Trost ausschließen.

      „Kein Trost, nirgends“ (in Abwandlung eines Romantitels von Christa Wolf) ist man versucht, angesichts dieses ungeheuren Leidens auszurufen. Aber ich habe ein Fragezeichen dahinter gesetzt. Was bedeutet dieses Fragezeichen? Als Kinder wurden wir mit der Auskunft getröstet, dass die verstorbene Großmutter als Stern am Himmel leuchtet und uns begleitet. Die fromme Lüge habe selbst ich als kritischer Theologe noch angewandt, als die Kinder nach ihrem verstorbenen Opa fragten.

      Wir glauben daran und hoffen darauf, dass die Toten, die in ihrem Leben an Gott glaubten, jetzt bei Gott aufgehoben sind, wäre eine erwachsene Antwort auf die Frage. Doch insgesamt haben die tröstlichen Antworten der großen Religionen an Überzeugungskraft verloren. Das Versprechen einer Existenz im Himmel als Entschädigung für ein elendes Erdenleben überzeugt nicht mehr viele. Zudem sind Jenseitsversprechen durch ihre Pervertierung bei Selbstmordattentätern in Misskredit geraten – wer möchte schon in einem Paradies zusammen mit Attentätern fortexistieren, die hunderte auf dem Gewissen haben. Die Menschheitsgeschichte ist immer noch die Schlachtbank, auf der Millionen geopfert werden. Es gibt leider nicht den Trost, dass es gewiss anders wird und die Menschheit in Kürze lernt, ihre Konflikte friedlich zu lösen. Oder dass Naturkatastrophen ausbleiben, selbst wenn wir jetzt drastische Maßnahmen gegen den Klimawandel auf den Weg bringen. Trotzdem, das Fragezeichen hinter „Kein Trost, nirgends“ ist berechtigt, weil es den Trost des Gedenkens an die sinnlos Gemordeten gibt und die starke Hoffnung, dass die Täter letztlich nicht über die Opfer siegen. Die Geschichte ist für die Opfer nicht abgeschlossen, sagte Walter Benjamin.

      Ich habe in den letzten zehn Jahren mich immer wieder mit Fragen des Sterbens, des Erinnerns und Gedenkens in der Literatur und in der Gesellschaft beschäftigt. Als Kind der Täter-und Mitläufer-Generation und als zoon politikon fühlte ich mich dazu ein Leben lang verpflichtet. Und als Christ ist für mich das Gedächtnis der Leidenden, die Memoria passionis, bindend. Ich frage also: Wie geht Literatur mit dem unerbittlichen Faktum des Todes als Auslöschung der Identität um? Kann man der infolge vernichtender Gewalt Getöteten gedenken, ohne aufzurechnen? Wie kann Gedenken dauerhaft sein, ohne zum leeren Ritual zu werden? Gibt es neben dem Gedenken auch die Möglichkeit des Vergebens und Vergessens? Schließlich: Was hat das Christentum heute noch für ein Trostpotential? Trost als verwandelnde Kraft im Diesseits und nicht mehr als Vertröstung? So stelle ich in diesem Büchlein Texte zusammen, die sich dem Thema Gedenken und Vergessen, Sterben und Trost stellen, in der Hoffnung, sie können ausgehend vom Memento mori und der Memoria passionis die Lebenskräfte stärken.

       „Auch mich, den Tod, gibt es in Arkadien.“

      Die neue Aktualität des Memento Mori- Gedankens infolge der Corona-Pandemie

      „Memento Mori.“ Sei dir deiner Sterblichkeit bewusst. Denke daran, dass du sterben musst. Man findet diesen mittelalterlichen Spruch heute gelegentlich noch auf Grabsteinen, auf Gemälden, aber auch an öffentlichen Gebäuden. Im Mittelalter war er Ausdruck der von dem Kloster Cluny ausgehenden monastischen Reformbewegung, die die Reinigung von allem Weltlichen in den Klöstern und die Vorbereitung auf den Tod und das Jüngste Gericht ins Zentrum des Glaubens stellte. Ab der Mitte des 14. Jahrhunderts führte das pandemische Auftreten der Pest, dem die damalige Menschheit hilflos gegenüberstand, aber nur begrenzt zu einer Verstärkung des Memento Mori-Gedankens.1 Trotzdem nahmen Totentanzdarstellungen zu. Sie zeigten den Tod als Gerippe-Spielmann mit Geige, der die Menschen ohne Unterschied zum letzten Tanz holt, den Bettler wie den König. Das Motiv fand großartige bildliche Darstellungen unter anderem auch im Ostseeraum (man denke an den im Zweiten Weltkrieg zerstörten Lübecker Totentanz von Bernd Notke). Auch Pestsäulen erinnern bis heute an diese Seuchenzeiten. Gleichzeitig entstand, die Totenmusik des Requiems mit dem Dies Irae, die allerdings erst Ende des 18. Jahrhunderts, als der Glaube an das Jüngste Gericht schon geschwunden war, große Kompositionen aus sich heraussetzte. Der Vergänglichkeitsgedanke Vanitas vanitarum fand im Barock zur Zeit des Dreißigjährigen Kriegs in Kunst und Literatur noch einmal große Verbreitung. Auf Gemälden Guercinos und Poussins stehen Hirten betroffen vor einem Totenkopf bzw. vor einem antiken Grabmal in der schönsten Landschaft, auf dem „Et in arcadia ego“ zu lesen ist–auch mich, den Tod, gibt es in Arkadien. Doch schon am Ende des 18. Jahrhunderts geriet die Darstellung des Sensenmanns außer Mode (mit der Ausnahme von Matthias Claudius, der ihn „Freund Hain“ nannte). Die Menschheit witterte dank medizinischer und technischer Fortschritte Morgenluft. Die Lebenszeit verlängert sich schon Ende des 19. Jahrhunderts. Das tat sie auch im 20. Jahrhundert trotz seiner schrecklichen Kriege und Völkermorde mit Abermillionen Opfern. Vollends im 21. Jahrhundert ist das Genieße das immer längere Leben, das carpe diem zum bestimmenden Motto der Wohlstands- und Erlebnisgesellschaft geworden (mit den bekannten sozialen Unterschieden zwischen Nord und Süd). Auch wollen immer mehr Menschen nicht mehr daran erinnert werden, dass der Tod „ein Meister aus Deutschland“ ist, dass es für Millionen ermordeter Juden nur ein „Grab in den Lüften gab“. Das Auschwitz-Gedenken wurde von einem Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels sogar als Moralkeule diskreditiert.

      Und das ging so, bis die Corona-Pandemie ausgehend von China alle Länder der Welt erfasste. In Zahlen ausgedrückt: Am 26. 8. 2021 gab es weltweit 212 884 693 bestätigte Infektionen und 4 447 120 Tote. In der Bundesrepublik 3 877 612 bestätigte Infektionen und 92 022 an und mit Corona Gestorbene. Aber auch 53 405 091 Geimpfte. An dem Tag, an dem ich dies schreibe, liegt die Siebentag-Inzidenz je 100 000 Einwohner bei 58,0. Das öffentliche Leben hat sich weitgehend normalisiert. An den Wochenenden mit schönem Wetter waren die Seen und ihre Ufer ebenso überfüllt wie die Restaurants und Cafés.

      Das Memento Mori, sprich die Erinnerung an die Infektionsgefahr von Seiten der vorsichtigen Epidemiologen und Politiker, die vor neuen Varianten des Virus (Delta) warnten, wurde nicht gerne gehört. Die im Fernsehen ständig wiederholten Bilder von den Intensivstationen, in denen Corona-Infizierte während des zweiten und dritten Lockdowns um ihr Leben kämpften, sind weniger geworden. Fast vergessen sind die Fotos der Militärlaster mit den Särgen der Corona-Toten von Bergamo im März 2020. Immerhin gemahnen die täglichen Tabellen mit der Erwähnung der an Covid-19 Verstorbenen in der sommerlichen Freizeitgesellschaft weiter an das „Et in arcadia ego“.

      Ein Freund (Martin Cordes aus Hannover) schrieb mir vor über einem Jahr im April 2020 prophetisch ausgreifend: „Die Menschheit ist offensichtlich jetzt so herangereift, dass sie die Pandemie meistern kann. Sie ist nicht mehr dem Untergang geweiht, sondern kann das Unglück bewältigen. Sie kann anders als die Dinos sich wehren – aber erst jetzt, vorher


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