Kein Trost, nirgends?. Hans-Jürgen Benedict

Kein Trost, nirgends? - Hans-Jürgen Benedict


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Unrecht der deutschen Teilung vor allem auch die Forderung nach Freilassung der in der Sowjetunion festgehaltenen deutschen Kriegsgefangenen im Zentrum der EKD-Voten stand. Stets wurde auf das Leiden dieser Gefangenen in den Lagern hingewiesen, ihre Beteiligung an einem Vernichtungskrieg, dem 22 Millionen Sowjetbürger, nach neueren Schätzungen sogar 27 Millionen, zum Opfer gefallen waren, aber verschwiegen. Zehn Jahre zuvor hatten die Kirchen diese Solidarität mit den völlig unschuldigen Juden Deutschlands und Europas in keinem Wort öffentlich geäußert. Erst in der sogenannten Ost-Denkschrift wurde 1965 die deutsche Teilung als eine Folge des von Nazideutschland begonnenen Zweiten Weltkriegs anerkannt und damit aus dem theologischen Versöhnungsgedanken heraus eine neue Ostpolitik mit der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze gefordert. Die Vernichtung der europäischen Juden blieb auch in dieser Denkschrift unerwähnt.

      Immerhin hat der erste evangelische Militärbischof Herrmann Kunst, als er 1959 von dem jungen Militärpfarrer Pohl die Information über den Aufenthalt Adolf Eichmanns in Argentinien erhielt (Pohl erfuhr sie von seinem Studienfreund, dem in Argentinien tätigen Geologen Gerhard Klammer), diese an Generalstaatsanwalt Bauer weitergeleitet. Dieser informierte den israelischen Geheimdienst Mossad, welcher daraufhin Eichmann im Mai 1960 entführte und nach Jerusalem brachte, wo ihm der Prozess gemacht wurde. Eichmann, der 1944 noch den Transport von 400.000 ungarischen Juden in die Vernichtungslager organisiert hatte, wurde verurteilt und 1963 hingerichtet, (s. B. Stagneth/W. Winkler, Der Mann, der Adolf Eichmann enttarnte, SZ 21./22. August 2021).

      Letztlich gab es also in der EKD lange Zeit keine Einsicht in den theologischen Substanzverlust der christlichen Kirchen durch ihr Schweigen angesichts der Shoah. Auch in dem Darmstädter Wort des Bruderrates der Evangelischen Kirche in Deutschland „Zum politischen Weg unseres Volkes“ vom August 1947 kommt in den sieben Punkten der Irrwege der Kirche die ausgebliebene Solidarität mit der jüdischen Bevölkerung nicht vor. Erst auf der EKD-Synode in Berlin-Weißensee 1950 wird zum ersten Mal in einem kirchlichen Dokument knapp auf die Judenvernichtung hingewiesen, ohne dass damit eine Aufarbeitung des kirchlichen Versagens eingeleitet würde. In den 50er und 60er Jahren wird in den Kirchen wie in der Gesellschaft weiter über den Holocaust geschwiegen. Der Ulmer-Einsatzgruppenprozess 1958 gegen die an der Ermordung zehntausender Juden hinter der Front beteiligten Täter und auch der Auschwitzprozess 1963 haben dieses Schweigen in den Kirchen zunächst nicht ändern können. Dass das öffentliche Wort der Kirche zur Judenverfolgung im Dritten Reich ausgeblieben war, wurde nicht reflektiert. Nur wenige haben es wie Karl Barth als Versagen bekannt. Er „bereute es zeitlebens, in der Barmer Erklärung die Juden vergessen zu haben.“20

      Um es noch einmal deutlich zu sagen: Leider haben die Kirchen von dieser Vernichtungserfahrung des jüdischen Volkes zunächst weder sich noch ihre Theologie infrage stellen lassen. Auch sie waren von der „Unfähigkeit zu trauern“ (Mitscherlich) bestimmt. Musste man nicht wenigstens fragen, wie kann ein gerechter und gütiger Gott das zulassen, dass das Volk der Erwählung ermordet wird? War der leidende Gott in Auschwitz anwesend? Etwa im Sinne der Geschichte, die Elie Wiesel aus Auschwitz erzählt, als jemand angesichts des Todeskampfes eines erhängten Knaben fragte: „‚Wo ist Gott?‘ Und ich hörte eine Stimme in mir antworten: ‚Wo er ist? Dort hängt er, am Galgen‘.“

      Doch die ewige Liturgie wird weiter gesungen trotz der Millionen jüdischer Opfer, die infolge auch der fatalen Logik der christlichen Heilsgeschichte (die Juden sind halsstarrig und schuld am Tod unseres Erlösers, bei den Nazis: sie sind an allem schuld) sterben ‚mussten‘. Das Lob Gottes, der seinen Sohn dahingegeben hat um unsrer Sünde willen, erklingt weiter. Das wird wohl auch nicht anders sein können, wenn die Kirchen ihren Heilskern nicht aufgeben wollen. Immerhin gab es Bußbekenntnisse und eine Veränderung der Theologie in der Hinsicht, dass Israel weiterhin als das von Gott erwählte Volk gilt und sein Glaubensweg anerkannt wird – so in der Synodal-Erklärung der Rheinischen Synode von 1980 und auch in Johannes Paul II Erklärung zu den älteren Brüdern im Glauben 2000.

      Aber die Frage, ob Christi Opfer religiös und sozial-kulturell gesehen nicht beschädigt ist, wagte man nicht zu stellen. Sie muss aber gestellt werden. Wie das geschehen kann, dazu verweise auf den jüdischen Philosoph Hans Jonas. Er hat 1983 in seiner Tübinger Rede über den Gottesbegriff nach Auschwitz nachgedacht, um den Gemordeten, darunter seine Mutter, die in Auschwitz starb, „so etwas wie eine Antwort auf ihren längst verhallten Schrei zu einem stummen Gott nicht zu versagen.“ Jonas fragt, was für ein Gott konnte Auschwitz geschehen lassen. Und er antwortet: ein allmächtiger Gott kann es nicht gewesen sein. Vielmehr muss man von einer Verstörung Gottes durch Auschwitz sprechen. Er droht sich aus der Welt zurückzuziehen: „Nachdem er sich ganz in die Welt hineinbegab, hat Gott nichts mehr zu geben: jetzt ist es am Menschen, ihm zu geben (…) darauf zu achten, daß es nicht zu oft geschehe, daß es Gott um das Werdenlassen der Welt gereuen muß. Dies könnte wohl das Geheimnis der unbekannten ‚sechsunddreißig‘ Gerechten sein, die nach jüdischer Lehre der Welt zu ihrem Fortbestand niemals mangeln sollen und zu deren Zahl in unserer Zeit manche der erwähnten ‚Gerechten aus den Völkern‘ gehört haben möchten“. Als Christen müssen wir fragen: Gilt das, was Jonas spekulativ für Gott aussagt, auch für Christus, das Wort, das nach Johannes 1 am Anfang bei Gott war, als Grund und als Sinnmitte der Welt? Müssten nicht auch wir bekennen: Christus, das Wort, ist verstört und es/er bedarf unserer tatkräftigen Unterstützung, damit es/er glaubwürdig in der Welt als erlösende Kraft bleiben kann, damit sein Opfer nicht vergeblich war?

      Die EKD hat 1991 endlich in einer Stellungnahme von der Mitschuld der Kirchen an der Shoah gesprochen. Heute versuchen die vielen Gesellschaften für jüdisch-christliche Zusammenarbeit in Deutschland in ihren Veranstaltungen die Fragen der Vergangenheit aufzuarbeiten, Verständnis in den christlichen Gemeinden für den jüdischen Glauben mit seiner Ablehnung Jesu als Messias zu wecken, die Kenntnis über neu erblühtes jüdisches Leben in der Bundesrepublik zu vertiefen und aktuelle Fragen des jüdisch-christlichen Verhältnisses zu thematisieren. Die Warnung vor Fremdenfeindlichkeit und der Protest gegen neuen Antisemitismus, auch den muslimischen, gehören entscheidend dazu. Aber: Ist es nicht mit ein Versagen der kirchlichen Verkündigung, wenn heute jüdische Menschen öffentlich bedroht werden und die Synagogen von der Polizei bewacht werden müssen?!

      Das Schweigen der Kirchen angesichts der Shoah hat die christliche Versöhnungsbotschaft schlimm beschädigt. Trotzdem ist die Verkündigung vom gnädigen Gott, der in Jesus unser Heiland und Bruder geworden ist, weiter wirksam. Sie tröstet nach wie vor Millionen Menschen und motiviert Christen zur Solidarität mit den Flüchtlingen und Verfolgten von heute. In der Willkommenskultur waren und sind besonders die Kirchengemeinden aktiv. Die Beteiligung der EKD an der Ausrüstung eines Rettungsschiffs für die Flüchtlinge im Mittelmeer zeigt, dass sie die Konsequenz aus ihrem Versagen vor 80 Jahren gezogen hat.

      Zum Schluss eine Antwort auf die Frage: Was ist aus Elisabeth Schmitz geworden, die in den dreißiger Jahren so mutig wie vergeblich das öffentliche Eintreten der Kirchen für die verfolgten Juden gefordert hatte? Sie lässt sich 1939 in den vorzeitigen Ruhestand versetzen. In der Bekennenden Gemeinde Berlin-Friedenau bleibt sie vor allem in der Fürsorge für die jüdischen Mitglieder aktiv. Sie macht ab 1940 Hausbesuche in sog. ‚Judenhäusern‘, um Taufunterricht zu erteilen, was nicht ungefährlich war. Mehrere aktive Mitglieder der BK werden in dieser Zeit verhaftet. In ihrer Wohnung in der Luisenstraße beherbergt sie bis zur deren Zerstörung gelegentlich Menschen, die ein Versteck brauchen. Sie erlebt die Deportationen der jüdischen Gemeindemitglieder – als eine junge Mutter mit ihrem kleinen Kind nach Theresienstadt deportiert wird, „zerreißt es ihr das Herz“, wie sie in einem Vortrag 1950 sagte. 1943 geht sie zurück nach Hanau in das Elternhaus, erlebt dort das Kriegsende. 1946 tritt sie, zunächst nebenamtlich, dann dauernd wieder in den Schuldienst. Vor allem: Im nachtotalitären Biedermeier der Adenauerzeit bleibt sie aktiv in der antifaschistischen Informationsarbeit. Bei einschlägigen Gedenkanlässen ist sie es, die um den Vortrag gebeten wird. So 1950 in ihrer Schule bei einer Gedenkfeier für die Opfer des Faschismus. Sie nennt die ungeheuerlichen Opfer-Zahlen, die allgemein verschwiegen oder sogar bestritten wurden: „Wir wissen von den 6 Millionen, die von den Deutschen ermordet wurden, das ist der dritte Teil aller in der ganzen Welt lebenden Juden gewesen.“ Sie beklagt, dass „wir in den letzten Jahren immer nur damit beschäftigt gewesen sind, uns selbst zu rechtfertigen und alle möglichen Entschuldigungen zu finden.“


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