Der Hund der Baskervilles. Sir Arthur Conan Doyle
noch bedacht?«
»Kleinere Summen gingen an verschiedene Einzelpersonen sowie an Wohlfahrtseinrichtungen. Das gesamte restliche Vermögen fiel an Sir Henry.«
»Und wie hoch ist dieses Vermögen?«
»Siebenhundertvierzigtausend Pfund.«
Holmes zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Mir war nicht bewusst, dass die Summe so riesig ist.«
»Sir Charles galt als reich, aber wir wussten auch nicht, wie ungeheuer reich er war, bevor wir seine Effekten gesichtet haben. Der Gesamtwert des Besitzes beläuft sich auf fast eine Million.«
»Gütiger Himmel! Für so einen Gewinn lohnt sich allerdings ein riskantes Spiel. Noch eine Frage, Dr Mortimer. Angenommen, unserem jungen Freund hier stieße etwas zu – verzeihen Sie diese unfreundliche Hypothese, Sir Henry! – wer würde dann das Vermögen erben?«
»Da Rodger Baskerville, Sir Charles’ jüngster Bruder, unverheiratet gestorben ist, würde der Besitz an die Desmonds gehen, entfernte Vettern. James Desmond ist ein älterer Geistlicher, er lebt in Westmorland.«
»Danke, diese Details sind von großer Bedeutung. Sind Sie Mr James Desmond je persönlich begegnet?«
»Ja, er kam einmal nach Devon, um Sir Charles zu besuchen. Er ist ein ehrwürdiger Mann mit frommem Lebenswandel. Ich erinnere mich, dass er sich weigerte, von Sir Charles eine Rente anzunehmen, obwohl dieser sie ihm geradezu aufdrängte.«
»Dieser bescheidene, fromme Mann würde also Sir Charles’ riesiges Vermögen erben?«
»Er würde auf alle Fälle den Grundbesitz erben, da dieser Fideikommiss ist. Er würde ebenfalls das Geld erben, falls der derzeitige Eigentümer nicht anderweitig darüber verfügt, wozu er natürlich das volle Recht hat.«
»Und haben Sie schon Ihr Testament gemacht, Sir Henry?«
»Nein, Mr Holmes, das habe ich nicht. Ich hatte bisher gar keine Zeit dazu, und ich habe überhaupt erst gestern erfahren, wie die Verhältnisse liegen. Aber ich meine doch, das Vermögen, der Titel und der Grundbesitz gehören zusammen. Das war auch der Wunsch meines armen Onkels. Wie soll denn der Hausherr den alten Glanz der Baskervilles wieder aufleben lassen, wenn er nicht genug Geld hat, den Besitz instand zu halten? Nein, Herrenhaus, Grundbesitz und Dollars müssen zusammenbleiben.«
»Ganz recht. Nun, Sir Henry, ich stimme Ihnen zu, dass es ratsam wäre, wenn Sie unverzüglich nach Devonshire aufbrechen. Nur einen Vorbehalt habe ich: Sie dürfen auf keinen Fall alleine reisen.«
»Dr Mortimer fährt mit mir zusammen.«
»Aber Dr Mortimer hat seine Praxis zu besorgen, und sein Haus liegt etliche Meilen von Ihrem entfernt. Er wäre auch beim besten Willen nicht imstande, Ihnen rasch zu Hilfe zu kommen. Nein, Sir Henry, Sie müssen einen anderen Begleiter haben, einen zuverlässigen Mann, der stets an Ihrer Seite ist.«
»Wäre es möglich, dass Sie selbst mitkommen, Mr Holmes?«
»Sollte der Fall eine dramatische Wendung nehmen, werde ich alles tun, um persönlich anwesend zu sein. Aber Sie werden verstehen, dass es mir bei meiner ausgedehnten Tätigkeit und in Anbetracht der Hilfegesuche, die fortwährend von verschiedensten Seiten an mich herangetragen werden, unmöglich ist, London auf unbestimmte längere Zeit zu verlassen. Gerade in diesem Augenblick ist einer der geachtetsten Namen Englands in Gefahr, von einem Erpresser besudelt zu werden, und niemand anders als ich kann einen schrecklichen Skandal verhindern. Sie begreifen gewiss, dass ich unmöglich nach Dartmoor reisen kann.«
»Wen würden Sie dann empfehlen?«
Holmes legte die Hand auf meinen Arm.
»Wenn mein Freund hier diese Aufgabe übernehmen würde, so können Sie keinen besseren Mann finden, der Ihnen in der Stunde der Not zur Seite steht. Niemand kann das besser beurteilen als ich.«
Dieser Vorschlag kam für mich völlig überraschend, und ich hatte noch gar keine Worte gefunden, da ergriff Baskerville schon meine Hand und schüttelte sie herzlich.
»Also, das ist wirklich riesig nett von Ihnen, Dr Watson! Sie kennen meine Situation und wissen von der Geschichte genauso viel wie ich. Wenn Sie mit nach Baskerville Hall kommen und mir beispringen wollen, werde ich Ihnen das nie vergessen.«
Die Aussicht auf ein Abenteuer hatte immer große Anziehungskraft auf mich gehabt, und überdies fühlte ich mich durch Holmes’ anerkennende Worte und durch die Begeisterung, mit der der Baronet mich als Begleiter akzeptierte, sehr geschmeichelt.
»Ich begleite Sie mit Vergnügen«, versicherte ich. »Ich wüsste nicht, was ich Besseres mit meiner Zeit anfangen könnte.«
»Und Sie werden mir gewissenhaft Bericht erstatten«, sagte Holmes. »Sollte es zu einer Krisis kommen – und das wird es früher oder später – werden Sie von mir genaue Weisungen erhalten. Ich nehme an, Sie haben Ihre Geschäfte in London bis Samstag erledigt, Sir Henry?«
»Würde Ihnen das passen, Dr Watson?«
»Ausgezeichnet.«
»Dann treffen wir uns, falls Sie nichts Gegenteiliges von mir hören, am Samstag am Bahnhof Paddington und nehmen den Zug um zehn Uhr dreißig.«
Wir waren aufgestanden und wollten uns gerade verabschieden, da stieß Baskerville plötzlich einen Triumphschrei aus, stürzte in eine Zimmerecke und zog unter dem Schrank einen braunen Schuh hervor.
»Mein vermisster Stiefel!« rief er.
»Mögen sich alle Probleme so leicht beheben lassen«, bemerkte Sherlock Holmes.
»Aber das ist doch wirklich höchst sonderbar«, sagte Dr Mortimer. »Ich habe erst vor dem Lunch dieses Zimmer sorgfältig durchsucht.«
»Ich auch!« sagte Baskerville. »Jeden Zollbreit.«
»Aber da war ganz bestimmt kein Schuh hier.«
»Dann muss der Hausdiener ihn gebracht haben, während wir beim Lunch saßen.«
Der Deutsche wurde gerufen, beteuerte aber, nichts von der Sache zu wissen, und auch alle weiteren Erkundigungen verliefen ergebnislos. So war die Serie scheinbar sinnloser Ereignisse, die so rasch aufeinander folgten, durch ein weiteres ergänzt worden. Abgesehen von dem düsteren Geheimnis um Sir Charles’ Tod hatte es innerhalb von nur zwei Tagen eine ganze Reihe unerklärlicher Zwischenfälle gegeben: der anonyme Brief, der schwarzbärtige Beschatter in der Droschke, das Verschwinden des neuen braunen Stiefels, das Verschwinden des alten schwarzen Schuhs, und nun das Wiederauftauchen des neuen braunen Stiefels. Während wir in einer Droschke zurück in die Baker Street fuhren, hüllte Holmes sich in Schweigen, und ich sah an seinen zusammengezogenen Brauen und seiner konzentrierten Miene, dass sein Geist damit beschäftigt war, den Plan zu erkennen, der hinter diesen bizarren und scheinbar zusammenhanglosen Ereignissen steckte. Den ganzen Nachmittag verbrachte er in dicke Tabakwolken gehüllt und tief in Gedanken versunken.
Kurz vor dem Abendessen kamen zwei Telegramme. Das erste lautete:
»Soeben erfahren, dass Barrymore in Baskerville Hall ist. – Baskerville.«
Das zweite meldete:
»Weisungsgemäß dreiundzwanzig Hotels aufgesucht, zerschnittene Seite der Times leider nicht gefunden. – Cartwright.«
»Da reißen zwei Fäden, Watson. Nichts ist so stimulierend wie ein Fall, in dem alles schief geht. Wir müssen uns nach einer neuen Spur umtun.«
»Wir haben noch den Kutscher, der den Spion gefahren hat.«
»Allerdings. Ich habe die Registrierungsstelle telegraphisch um seinen Namen und seine Anschrift gebeten. Und ich glaube, hier kommt die Antwort auf meine Anfrage.«
Das Läuten der Türglocke brachte sogar noch etwas Besseres als ein Antworttelegramm. In der Türöffnung erschien ein derb aussehender Mann, offensichtlich der Kutscher selbst.
»Ich hab Bescheid gekriegt von der Zentrale, dass ein Herr unter dieser Adresse nach Nummer