Systemische Lerntherapie. Mike Lehmann

Systemische Lerntherapie - Mike Lehmann


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wesentliche Aussage, dass es keine Rolle spielt, ob es eine »wirkliche Welt«, also objektive Gegebenheiten, gibt oder nicht. Entscheidend ist, wie wir die Welt individuell (subjektiv) wahrnehmen. Wir konstruieren uns unsere Welt. Die Volksweisheit »Schönheit liegt im Auge des Betrachters« ist ein Beispiel dafür: Eine Blume ist nicht objektiv schön. Der Mensch, der sie wahrnimmt, schreibt ihr Schönheit zu. Oder er tut es nicht, wenn er sie nicht leiden mag. Für jeden Menschen sieht die Welt anders aus, abhängig von seinen Erfahrungen, Bedürfnissen, Werthaltungen usw. Das heißt auch, dass es kein objektives »Richtig« oder »Falsch« gibt. Was für mich gilt und richtig ist, muss deshalb nicht unbedingt auch für mein Gegenüber gelten. Vielleicht sieht der andere die Dinge anders, daher ist für ihn etwas anderes richtig.

      Kommunikationstheorien beschäftigen sich damit, wie Menschen kommunizieren. Kommunikation ist wesentliche Voraussetzung für das Fortbestehen eines Systems. Damit das System erhalten bleibt, müssen die Elemente in Austausch miteinander sein. Zwischen Menschen geschieht das durch Kommunikation, im Wesentlichen durch die gesprochene Sprache, aber auch durch Schriftsprache, Körpersprache, Körperkontakt, Übergabe von Gegenständen und anderes mehr. Im therapeutischen Zusammenhang sind zum Beispiel eingefahrene Kommunikationsmuster, Missverständnisse, Tabus, Schwierigkeiten, etwas auszudrücken, Fragetechniken usw. von Bedeutung.

      Die systemische Therapie zeichnet sich durch ein humanistisch orientiertes Menschenbild aus. Sie sieht den Menschen weder als eine Reiz-Reaktions-Maschine, wie der Behaviorismus dies tut, noch als hauptsächlich von unbewussten Kräften gesteuert, worauf psychodynamische Theorien ihren Fokus legen. Unter vielleicht manchmal zu starker Ausblendung dieser Aspekte, besonders der Wirkkraft unbewusster Dynamiken, wird der Blick auf die Möglichkeit der bewussten und aktiven Selbststeuerung gelegt, die den Menschen befähigt, sich Ziele zu setzen, zu entscheiden, welche Dinge er in seinem Leben ändern möchte, und dies auch in Angriff zu nehmen. Die eigene Entwicklung und die Beseitigung von Problemen werden als grundlegende Ziele im menschlichen Leben angesehen. Im Prinzip besitzt jeder Mensch auch die dafür notwendigen Ressourcen. In den Fällen, in denen sie nicht genügend zugänglich sind, kann ein Therapeut behilflich sein, eine neue Sichtweise zu gewinnen, Kräfte zu aktivieren, die bisher nicht wirksam werden konnten, oder eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie das Leben ohne das jeweilige Problem aussehen kann, und Maßnahmen einzuleiten, dorthin zu gelangen.

      Der systemische Therapeut ist nicht derjenige, der eine Lösung für das Problem anzubieten hat. Er weiß nicht besser, was für den Klienten gut oder richtig ist, als dieser selbst. Er zielt meist auch nicht darauf ab, die Ursache des Problems zu finden. Wer als Klient eine Therapie beginnt, steckt in der Regel schon längere Zeit in einer schwierigen Situation. An ihr sind fast immer auch andere Menschen beteiligt (da jeder Mensch sich in Systemen befindet). Aufgrund vielfältiger Kommunikationen, der Selbsterhaltungstendenz von Systemen auch dann, wenn Probleme vorhanden sind, und einer Reihe von erfolglosen Problemlösungsversuchen ist die Entstehung des Problems oft nicht mehr klar nachvollziehbar. Die Situation erscheint festgefahren. Der systemische Therapeut kann neue Impulse geben, neue Erfahrungen ermöglichen, irritierende Fragen stellen und somit neue Perspektiven generieren. Ziel ist dabei oft, statt des problembehafteten Verhaltens ein alternatives Verhalten auszuprobieren. Oftmals lösen sich dadurch Konflikte, wenn man Dinge anders macht oder andere Dinge macht als bisher.

      Dabei befindet sich der Therapeut, nicht nur der systemische, in einem Dilemma, denn er kann vorher nicht sicher wissen, was es genau bewirken wird, wenn er etwas tut (eine bestimmte Frage stellt, einen Vorschlag äußert, eine körperliche Berührung ausführt usw.). Der Klient, wie jeder Mensch, steckt nicht nur in Systemen, er ist auch selbst ein System, also ein Zusammenspiel aus vielen verschiedenen Elementen: dem Körper mit seinen Teilen wie Organen, Blutkreislauf, Gehirn, Stoffwechsel, Hormonsystem, Botenstoffen etc., dem Geist mit allen Erfahrungen, die er mit anderen Menschen und der Welt gemacht hat, den individuellen Vorlieben und Abneigungen, den Werten und Wünschen, den Gefühlen usw. und der Seele mit ihren Kräften, Erfahrungen und unbewussten Dynamiken. Eine der Folgerungen aus der systemtheoretischen Sichtweise ist die der Unmöglichkeit einer kausalen Intervention: Ich kann nicht sicher sein, was ich für eine Intervention machen muss, um eine bestimmte gewünschte Wirkung zu erzielen. Und auch andersherum weiß ich nicht sicher, was geschehen wird, wenn ich etwas Bestimmtes tue. Ich kann als Therapeut einen Input in das System »Klient« geben, aber was sich als Effekt ergibt, hängt vom Klienten ab.

      Folglich muss sich der systemische Therapeut immer sehr individuell auf seine Klienten einstellen. Was als Intervention bei dem einen Klienten hilfreich war, kann bei einem anderen wirkungslos oder nachteilig sein. Der Achtung des Klienten als einzigartigen, eigenständigen, selbst entscheidenden und für sich verantwortlichen Wesens kommt daher eine sehr hohe Bedeutung zu.

       1.1.3Besonderheiten des Konzeptes

      Das in diesem Buch dargestellte Konzept mit seinen Grundannahmen, Zielsetzungen und Arbeitsformen entwickelt bestehende Ansätze der Lerntherapie weiter und schließt damit auch eine Lücke hinsichtlich der derzeit angebotenen Ausbildungen. Insbesondere sind diese Aspekte wichtig: Zunächst wird die systemische Perspektive stärker berücksichtigt, als das bislang geschehen ist. »Das Kind spiegelt sich in die Welt«, sagt Joachim Bauer (2006, S. 57), und beschreibt damit das bereits unmittelbar nach der Geburt einsetzende permanente wechselseitige Aufnehmen und spiegelnde Zurückgeben von Signalen zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen. Dieses Aussenden von Signalen und der Aufnahme der Reaktion ist vermutlich die wichtigste Grundlage für das gesunde Aufwachsen von Kindern. Damit wird deutlich, welche Bedeutung dem unmittelbaren sozialen Umfeld des Kindes zukommt. Entsprechend muss es in eine lerntherapeutische Arbeit mit einbezogen werden.

      Die zweite Besonderheit besteht in der ganzheitlichen Betrachtung des Kindes, und zwar unter besonderer Berücksichtigung der seelischen Ebene. Wir sehen als unangemessen wahrgenommenes Verhalten in der Regel als Ausdruck seelischer Nöte an (mehr dazu im Abschnitt 4.3, »Therapeut-Kind-Interaktion«). Der Einbezug der Möglichkeit ungelöster seelischer Konflikte wie Ängsten oder Selbstwertproblemen und ihrer Wirkkraft bezüglich des Verhaltens des Kindes in die Arbeit mit dem Kind und seiner Umwelt ist ein entscheidender Aspekt unseres Verständnisses von Lerntherapie. Wir möchten daher für die innerseelischen Vorgänge der Klienten sensibel machen und Möglichkeiten aufzeigen, auf sie einzugehen. Mehr als bei Erwachsenen, deren Sicht auf die Welt auch sehr unterschiedlich ist, gilt bei Kindern, dass sie buchstäblich in ihrer jeweils individuellen, eigenen Realität leben. Diese individuelle Wirklichkeit, auch die innerseelische, muss wahrgenommen und mit berücksichtigt werden.

      Schließlich möchten wir für praktisch tätige oder in Ausbildung befindliche Lerntherapeuten die Bedeutung der Erfahrungsebene hervorheben, da sie es in erster Linie ist, die das Lernen ermöglicht. Zum Beispiel können Sie einen Text darüber lesen, dass Perspektivenübernahme wichtig ist, also dass Sie sich in die Situation des Kindes hineinversetzen sollen und ihm für das Problem keine Lösung präsentieren sollen – oder Sie können im Rollenspiel Ihrem Gegenüber ein eigenes Problem schildern, hören, wie es sagt »Dann mache mal das und das«, und dann die Abwehr spüren, die Sie gegen diese Lösungsmöglichkeit haben, weil es eben nicht Ihre Lösung ist, sondern die Ihres Gegenübers. Erst dieses Gefühl, dass Sie Ihre eigene Lösung brauchen, macht das Verständnis für das Thema »Perspektivenübernahme« vollständig. Erst dann sind Sie wirklich in der Lage, sich mit Lösungsvorschlägen für die Probleme anderer zurückzuhalten.

       1.1.4An wen richtet sich die systemische Lerntherapie? (Indikationen)

      Die systemische Lerntherapie, wie sie in diesem Buch beschrieben wird, ist gedacht für Kinder etwa zwischen dem sechsten und zwölften Lebensjahr und ihre Eltern. Für Familien mit jüngeren oder auch älteren Kindern sind nach unserer Meinung andere Konzepte nützlicher (Familientherapie, individuelle Therapieformen). Die meisten betroffenen Kinder bzw. Eltern kommen zu uns, weil sie Schwierigkeiten mit der Schule haben und denken, dass sie sie nicht allein bewältigen können. Diese Indikation reicht uns


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