Die Tyrannei des Geldes. Hans Peter Treichler
modeste, die kein Nachdenken über Geld mehr erheischte. Letztlich bedingten sich aisance und Freiheit gegenseitig, da mochte Tante Julie noch lange von ihrer Hütte mit dem Strohdach und den kaltes Wasser trinkenden Liebenden schwärmen. «Wenn man Einladungen ausschlagen muss, weil man sie nicht erwidern kann, wenn man sich in den Ferien nicht ein paar Wochen auf dem Land oder in den Bergen leisten kann wie alle anderen, wenn der Ehemann nicht mehr gelegentlich auf einer Reise seine Ideen auffrischen kann, da kann man nicht mehr von Wohlstand und Freiheit sprechen.»
Aber wie hielten es denn die anderen damit? Die Kollegen an der Académie, die so wenig wie Amiel einer der alten Patrizierfamilien Genfs entstammten? Die Dichter und Schriftsteller, zu denen er aufblickte? Hier gab es warnende Beispiele genug – zum Beispiel Walter Scott, dessen Ivanhoe Amiel verehrte. Scott hatte sich als Drucker und Verleger weit auf die Äste hinausgewagt und war in Konkurs gegangen. Genauso erging es Balzac, der sich mit einer Verlagsdruckerei und einer Letterngiesserei in die Nesseln ritt. Wenn sich der Romancier als Geschäftsmann gebärdete, konstatierte Amiel, spielte eine Art Hybris mit. Als Schöpfer seiner Romanwelt war er es gewohnt, seine Figuren nach Belieben einzusetzen, ihnen Pech und Leiden zu bescheren, aber auch Erfolg und Glück. Wehe, wenn der Schriftsteller dieses Prinzip auf die Wirklichkeit übertrug! Erdrückt von einem Schuldenberg, wie ihn beispielsweise Walter Scott während Jahrzehnten abzutragen versuchte, wurde selbst das Genie versklavt: «Même le génie peut devenir le forçat des écus.»
Ungleich näher noch gingen Amiel manche Schicksale aus dem eigenen Lebenskreis, etwa jenes des eine Generation älteren André Cherbuliez. Der hochgebildete Hellenist und Gräzist war ein angesehener Dozentenkollege an der Académie, wahrte aber nur mit Mühe einen würdigen äusseren Rahmen für sich und seine Familie. «Eine schäbige, mühsame Karriere voll geheimer Ängste», notiert das Tagebuch über den väterlichen Freund, «voll von Entbehrungen, Demütigungen und Selbstverleugnung. Noch mit fünfzig Nachhilfestunden geben müssen, unter dem Dach wohnen, seine Kleider austragen, bis sie fadenscheinig werden ...»
Sah so seine eigene Zukunft als Literat aus, als Mann des Wortes? Da war weiter der langjährige Freund Albert Heim, ein Theologe und Gymnasiallehrer. Auch Heim hätte gerne eine eigene Familie gegründet, war aber gefangen in einem Haushalt mit einem kränkelnden Vater und zwei verwaisten Nichten, für die er Tag und Nacht unterwegs war. Eine eigene Gattin, eigene Kinder? Undenkbar. «Der Grund für seinen Verzicht sind die mangelnden finanziellen Ressourcen. Darin besteht die empörende Macht des Geldes, dass es noch das bescheidenste Schicksal zermalmt und die edelsten Instinkte zunichte macht.»
La puissance révoltante de l’écu. Geld versklavte, Geld zermalmte. Amiel konnte verstehen, dass einst die Gesetzgeber der Antike den Unternehmer und Händler aus dem Kreis der freien Männer ausgeschlossen hatten. «Die Begehrlichkeit, die Geldgier, das ist die Knechtschaft. Der Sklave des Mammons ist ebenso wenig ein Mann wie der Leibeigene der Scholle.» Aber stand es ihm als Mann des Wortes denn nicht offen, sich auf würdige Weise vom Schreiben zu ernähren, sich wenigstens einen namhaften Zusatzverdienst zu verschaffen? Wie schaffte das Marc Monnier, der offenbar eine goldene Feder gefunden hatte? Monnier, auch er ein Literat und Dozent, war ein weiterer langjähriger Freund. «Dieses Bürschchen meldet mir doch», heisst es ziemlich missmutig, «dass er monatlich 1000 Francs macht.» Monnier profitierte von der Telegrafenverbindung durch den Ärmelkanal, übersetzte und übermittelte Depeschen zwischen Italien und England. Ein Tausender im Monat! Täglich ein Stündchen Arbeit oder zwei! Und das, ohne sich dem Teufel zu verschreiben! Denn stellte es nicht ein Stück Völkerverständigung dar, wenn man in Westminster wusste, was in Turin vor sich ging?
Amiel selbst schrieb regelmässig für das Journal de Genève, wenn auch mit grossen Abständen – eine Besprechung vom Konzert des Kirchenchors, der Hinweis auf das Buch eines Freundes, mitunter ein Nachruf auf einen verstorbenen Zeitgenossen, der ihm besonders am Herzen lag. Aber über diesen kurzen Texten brütete er ganze Abende lang, war selten mit dem Ergebnis zufrieden, besonders nicht, wenn der Redaktor die wohlgeformten Sätze schliesslich auf zehn oder zwanzig Zeilen zusammenstrich. Wie sollte dabei ein anständiges Honorar herausspringen? Und wie sollte ein Projekt wie die Übersetzung von Schillers «Glocke» je rentieren? Amiel sass monatelang über den rund 400 Verszeilen der Ballade, hielt schliesslich (im Herbst 1860) das schmale Heft mit der französischen Version in der Hand, nahm stolz das Lob eines befreundeten Redaktors entgegen: «Sie haben ein Meisterwerk durch ein Meisterwerk wiedergegeben!» Aber die paar hundert verkauften Exemplare deckten knapp die Druckkosten, und die zweite Auflage blieb in den Gestellen der Buchhändler liegen.
Und wie stand es mit der Hymne à Genève vom Vorjahr, Amiels Beitrag zum 300-jährigen Bestehen der Académie? Ein Komponist namens Franz Grast hatte die Verse vertont; das Festlied war für die Feierlichkeiten im Druck erschienen und verteilt worden. Der Musikverlag Kübli & Noverraz hatte am Druckauftrag verdient, der Komponist war entlöhnt worden – aber Amiel? Ein paar lobende Worte im Journal de Genève und das zweifelhafte Vergnügen, die Hymne im 600-plätzigen Festsaal aufgeführt zu wissen. So wie die Trinksprüche ging sie im Stimmenlärm unter: «Man hörte nichts.»
Amiels Gedichte, welche die Revue du monde gelegentlich aufnahm, brachten jeweils ein paar Francs ein, aber Gedichtbände wie Grains de mil und La part du rêve waren das reine Verlustgeschäft. Der Buchhändler und Verleger Cherbuliez liess sie drucken und verkaufte sie in Kommission. Eine erste Abrechnung nach fünfzehn Jahren ergab, dass je etwa 150 Exemplare über den Ladentisch gegangen waren. Der Reingewinn betrug 98 Francs, die Tantième Amiels ein Viertel davon. So wie jeder Autor, der sich in seinem Stolz verletzt sieht, witterte der Dichter Betrug, bösen Willen, Missgunst und bewusste Vernachlässigung. «Welche Halsabschneiderei! Reiner Diebstahl! Dieser Räuber will mich mit 25 Francs abspeisen ... 25 Francs in fünfzehn Jahren, und kein Wort über die Zinsen! Wenn das ehrlich gehandelt ist, was tun denn die Gauner?»
Comment font les coquins, si c’est là de l’honnêteté? Und beflügelt vom rabenschwarzen Ärger zieht Amiel im Tagebucheintrag gleich noch über Joseph Hornung her, seinen besten Freund, klagt über Aimé Herminjard, der ja auch ein langjähriger und achtenswerter Kollege ist: «J. H. verreist nach Brent und borgt ein paar Bücher bei mir aus. Er kauft nie selbst etwas und profitiert von den Kastanien, die andere aus dem Feuer holen. Warum stellst du dich selber nie so geschickt an? – Hrd. hat genüsslich einige meiner Bände aus dem 16. Jahrhundert durchgeackert. Diese Schlingel von Gelehrten lecken sich die Finger, wenn sie ein seltenes Buch in die Hände bekommen. Aber man sollte ihnen den Willen lassen, nur schon um die Freude zu sehen, mit der sie es sich unter den Nagel reissen.»
Macht er sich denn nie ernsthaft Gedanken darüber, sich ganz als Autor zu etablieren, vom Schreiben zu leben – er, den man in seinem Kreis als tiefsinnigen und gleichzeitig geistreichen Causeur rühmt? So abwegig ist der Gedanke auch für einen kleinen Genfer Professor keineswegs. Gleich zwei von Amiels nächsten Bekannten schaffen sich als Korrespondenten der grossen Pariser Gazetten einen Namen. Er erlebt in den 1860er-Jahren mit, wie sie beide in die französische Hauptstadt ziehen und sich dort behaupten. Edmond Scherer, mit dem er bei manch einer Wanderung auf den Mont Salève über Gott und die Welt diskutiert hat, schafft es in Paris zum führenden Literaturkritiker von Le temps. Victor Cherbuliez, der Sohn des ärmlichen Griechischprofessors und Bruder des Mädchens mit den meergrünen Augen, steigt auf zum gefeierten französischen Romancier, wird in die Ehrenlegion aufgenommen. Ist es ihretwegen, dass sich Amiel erstmals Gedanken über eine literarische Karriere macht, im reifen Alter von 42 Jahren? «Mit der Feder Geld verdienen – sagen wir tausend Francs im Jahr; dieser Gedanke kommt mir zum ersten Mal. Es wäre die einzige Lösung, die mir erlauben würde, ein armes Mädchen zu heiraten. Und es wäre vielleicht auch die einzige Möglichkeit, meine Scheu vor dem Sich-Produzieren zu überwinden.»
Es soll hier noch die Rede sein von Amiels fast zwanghafter Beschäftigung mit den Kosten einer Eheschliessung und der Gründung eines gutbürgerlichen Haushalts. Was uns hier interessiert, ist die Frage der beruflichen Laufbahn. Geht es dem Autor im Grunde genommen zu gut, trotz aller Klagen über die kümmerliche Besoldung durch die Académie? Hindert ihn das kärgliche, aber gesicherte Einkommen, ergänzt durch die Erträge seines kleinen Vermögens – hindert es ihn daran, ein gut verkäufliches Werk zu