Kunst des Lebens, Kunst des Sterbens. Yungdrung Wangden Kreuzer
Natur beobachten, so wird uns dieses ständige Werden und Vergehen immer deutlicher erlebbar. Und wenn wir uns Zeit nehmen und ruhig und entspannt sitzend, achtsam, der Bewegungen unseres Atems, der Körperempfindungen, der Gefühle und des Fließens unserer Gedanken gewahr werden, erlangen wir eine unmittelbare Erkenntnis der Natur all dieser Phänomene. Durch reine, unvoreingenommene Beobachtung erkennen wir: Alles ist vergänglich. Das Panta rhei des Heraklit, das »Alles fließt«, ist ein einfaches Resümee dieser empirischen Beobachtung. Werden und Vergehen sind die Wellenbewegung dieses Stroms des Lebens. Eine Welle oder Erscheinung formt sich und sinkt wieder ins Formlose zurück. Das, was Form annimmt, ist Energie, der Atem des Lebens; und wenn sie sich auflöst, kehrt diese geformte Energie wieder zurück in das formlose Meer der Lebensenergie, in das, was die Alten mit »Chaos« meinten. Heutige Physiker nennen es das »Quantenfeld« oder die »Matrix«, und auch sie sagen, dass von dieser gesamten Energie des Universums nie etwas verloren geht. Jede Erscheinung ist ihnen eine Welle dieser Energie, die nur dann scheinbar Form annimmt, wenn sie in einem Bewusstsein erscheint. Unbeobachtet aber bleibt sie in ihrem formlosen, nicht wahrnehmbaren Zustand. Max Planck zog daraus den Schluss: »Es gibt keine Fakten, nur Interpretationen.« Mit anderen Worten: Alles erscheint so, wie es von einem spezifischen Bewusstsein und Sensorium aus wahrgenommen wird.
Diese neuesten Erkenntnisse der Quantenphysik stimmen in auffallender Weise mit dem überein, was buddhistische Texte bereits vor etwa zweitausend Jahren über das Wesen der Wirklichkeit aussagten. Im Herz-Sutra heißt es: »Form ist Leere, und Leere ist Form, mit Gefühl, Wahrnehmung, Willensregungen und Bewusstsein verhält es sich ebenso.« Es wird hier auch gelehrt, dass das eigentliche Wesen des Geistes und eines jeden Phänomens unerkennbar ist, nur die Wahrnehmung desselben ist erkennbar.
Zusammenfassend können wir sagen, dass ein Mensch, der jede Welle und Erfahrung gleichzeitig als reine, formlose Energie erkennt, ein ganzheitliches, der nichtdualen Wirklichkeit entsprechendes Verständnis besitzt. Und wer weder an Form und Idee noch an Formlosigkeit oder Leerheit haftet, der ist dieser Lehre nach wahrhaft frei.
Laotse formulierte dies im Taoteking wunderbar mit den Worten: »Verlieren und wieder verlieren – das ist der Weg des Tao.«
Niemand wird ernsthaft bezweifeln, dass alle Dinge und Bewusstseinszustände vergänglich und fließend sind, das ist die offensichtliche, für jeden nachprüfbare Natur aller Phänomene. Folglich befinde ich mich in Übereinstimmung mit der Natur, wenn ich an diesen nicht anhafte und sie nicht festzuhalten versuche. Wenn ich aber an ihnen zwanghaft anhafte, so wie wir es normalerweise gewohnt sind, so handle ich in unvernünftiger Weise gegen die Natur, und Disharmonie und Leiden sind die natürliche Folge. Wenn ich diesen Fehler in meinem Verhalten erkannt habe und mich von der Gewohnheitstendenz befreit habe, ihn zu wiederholen, ja, mich stattdessen daran gewöhnt habe, an nichts zu haften, so kann auch das damit verbundene Leiden enden.
Ein Zen-Schüler fragte: »Wie kann ich Buddhaschaft erlangen?«
Der Meister antwortete: »Folge dem Strom.«
Wenn wir also an Leben und Erlebtem nicht haftend, losgelöst von allen Formen und Gedanken, die hohe Kunst verstehen, dem Leben gleich, ständig fließend in nichts zu verweilen, erreichen wir frei von Fixierung höchste Lebendigkeit, Unsterblichkeit; und selbst formlos, sind wir dann frei, alle Formen spielend anzunehmen.
Das japanische Wort für einen Zen-Mönch ist Unsui – das heißt »Wolken und Wasser«. Wer es versteht, sich ganz zu lassen, dahinströmend wie Wasser und Wolken, der bleibt in der Wahrheit und im Fluss, und Glück und Heiterkeit strömen immer neu aus dem harmonischen Einklang mit dem ewig vergänglichen Wesen der Natur, und die fließende Welt des Samsara ist für diesen wahrhaft armen Menschen, für diesen ewigen Verlierer, so, wie sie ist, das zeitlose Nirvana des In-nichts-Verweilens.
Ein jeder Tag ist neu, ein jeder Augenblick ist neu und unter jedem Schritt weht eine frische Brise. Emaho! Wunderbar!
Buddha zu sein heißt, völlig vergänglich zu sein! Der Geist, der in nichts verweilt, weder in Leerheit noch in Form, weder im Leben noch im Tod, weder im Glück noch im Unglück, weder im Samsara noch im Nirvana – das ist der erlöste Buddha-Geist.
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