Forschungsreise ins innere Universum. A H Almaas

Forschungsreise ins innere Universum - A H Almaas


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geprägt. Da ist immer eine Bewußtheit, die sich einer Sache bewußt ist, wo die Bewußtheit das Subjekt und die Sache das Objekt ist. Ferner wird Bewußtheit üblicherweise als Nebenprodukt unseres Gehirns und der physischen Sinne angesehen. Wir neigen dazu, sie für eine Fähigkeit zu halten, die bestimmten Lebensformen innewohnt und die von ihnen gelenkt und kontrolliert und auf unterschiedliche Weise von der physischen Realität begrenzt wird. Die Tatsache der Bewußtheit ist aber immer noch da. Die Tatsache des Bewußtseins ist erhalten, sie ist für Erfahrung grundlegend.

       2. Einssein/Einheit

      Das zweite Charakteristikum wahrer Realität ist, daß dieses Feld von Bewußtheit, dieses Feld von Präsenz, alles durchdringt und unendlich ist und alles darin umfaßt. Im Grunde ist sie ein Einssein, eine unteilbare Einheit. Diese Auffassung ähnelt der buddhistischen Vorstellung von der „Weisheit der Gleichheit oder Gleichmäßigkeit“. Die Tatsache, daß es innerhalb des Feldes Muster gibt, bedeutet nicht, daß es eigenständige, für sich allein existierende Objekte gibt. In unserer Erfahrung bedeutet also die Tatsache, daß es Traurigkeit und Druck und Temperatur und Weichheit und Härte gibt, nicht, daß es verschiedene Objekte gibt. Das ganze Feld ist ein einziges Bewußtsein mit unterschiedlichen Mustern an verschiedenen Stellen. Die ganze Seele ist also auch einheitlich. Wenn wir die wahre Natur erkennen und dabei das Gefühl von Grenzen verlieren, erkennen wir, daß Einssein das ganze Universum durchdringt. Gott hat einen einzigen Geist (mind).

      Der primäre Affekt in dem einheitlichen Bewußtsein ist eine Wertschätzung der wechselseitigen Verbundenheit von allem. Die Qualität der Liebe ist im Einssein wahrer Natur implizit und durchdringt alles; sie ist die innere Güte und Positivität der Realität. Wenn wir der Tatsache nicht mehr bewußt sind, daß wahre Natur ein einheitliches Feld ist, ist das Gefühl der Verbundenheit – oder wenigstens die Möglichkeit einer Verbundenheit – alles, was bleibt. In unserem normalen Bewußtsein erleben wir das als die Gefühle, die wir für andere Menschen und Gegenstände in unserer Welt empfinden – einschließlich der Gefühle der Unverbundenheit wie Sehnsucht, Trauer, Neid und Haß. Die Tatsache, daß wir fühlen können, daß wir für das sensibel sind, womit wir interagieren, ist die Weise, wie die zugrundeliegende Einheit in unserer Erfahrung erscheint. Die Fähigkeit, Gefühle zu empfinden, beruht letztlich auf der Fähigkeit zu lieben, und Liebe vereint – sie ist ein Ausdruck von Einssein. Die Grundlage des Herzens ist Liebe, und Liebe ist der Ausdruck der Einheit von Sein.

       3. Dynamismus/Veränderung/Transformation

      Das dritte Charakteristikum ist, daß wahre Natur dynamisch ist. Die Realität bewegt und verändert sich andauernd. Dies wird deutlich, wenn man merkt, daß die Wahrnehmung der eigenen inneren Erfahrung – oder der ganzen Welt – keine Momentaufnahme ist, sie ist ein Film. Es gehört zu ihr, daß sie sich in einem permanenten Zustand der Veränderung und Transformation befindet. Sie ist keine statische Präsenz. Dies ist der buddhistischen Vorstellung von der „alles vollbringenden Weisheit“ verwandt. Realität ist eine dynamische Präsenz, die sich durch Verschiebungen in den manifesten Mustern ständig verändert. Eigentlich ist die Anwesenheit von Veränderung in der Tatsache der Bewußtheit implizit; ohne sie gibt es keine Bewußtheit. Wenn es nur eine Momentaufnahme gibt und der Beobachter Teil der Momentaufnahme ist, hat der Beobachter kein Bewußtsein von etwas.

      Veränderung ist für Bewußtheit notwendig. Wenn man sich des Absoluten bewußt ist, nur des Absoluten und nichts als des Absoluten, dann gibt es keine Bewußtheit von etwas. Deshalb wird diese Erfahrung des Absoluten Aufhören (cessation) genannt. Aber gewöhnlich ist man sich, wenn man sich des Absoluten bewußt ist, auch der Manifestation, des Dynamismus oder des Fließens bewußt, die in der eigenen Erfahrung deutlich und offensichtlich ist.

      Die menschliche Erfahrung, oder die Erfahrung der Seele, ist in permanentem Fluß und in Veränderung und Transformation begriffen. Wenn wir dieses Charakteristikum auf der Ebene wahrer Realität sehen, erkennen wir, daß es eine schöpferische, dynamische Kraft ist, die immer die Formen erschafft, die wir sehen. Ibn Arabi, der wichtigste mystische Denker des Sufismus, nannte das „neue Schöpfung“ oder „ständige Schöpfung“. So erschafft Gott – indem er Realität transformiert. In unserem normalen Leben sehen wir den Dynamismus als die Veränderungen und Bewegungen, die wir durchmachen, als den Strom von Gedanken, Emotionen und Handlungen. Dann ist die Erfahrung von Veränderung nicht von Kreativität und Transformation gekennzeichnet sondern eher von Ursache und Wirkung bestimmt. Wir sehen diesen Dynamismus als eher linear und erleben ihn als Veränderung in der Zeit.

      Der Dynamismus des Seins ist schöpferisch; er ist das, was aller Veränderung und Bewegung im Universum zugrundeliegt. Gleichzeitig besitzt dieser Dynamismus, da das Sein essentiell wahre Natur, frei und offen ist, eine ihm eigene Tendenz, wahre Natur in ihrer ganzen Reinheit, Schönheit und Subtilität zu enthüllen. Diese Enthüllung tritt in der menschlichen Seele als eine dem Dynamismus eigene Richtung in Erscheinung. Anders gesagt, wenn der Dynamismus frei und spontan und ohne den verkrampfenden und verzerrenden Einfluß unseres konventionellen Denkens funktioniert, dann tendiert er dazu, unsere Erfahrung und Wahrnehmung in Richtung von größerer Klarheit, von größerem Wissen, größerer Offenheit, Wahrheit und Freiheit zu transformieren. Wir nennen diese evolutionäre Tendenz die optimierende Kraft des Dynamismus des Seins.

      Wir erleben diesen Dynamismus in der Tatsache, daß unsere persönliche Erfahrung sich ständig verändert. Ein Zustand folgt einem anderen, ein Gefühl ersetzt ein anderes, Gedanken und Bilder kommen und gehen in einem nie endenden Strom. Aber wenn die optimierende Kraft in uns wirksam ist, beginnt unsere Erfahrung, sich zu vertiefen und zu erweitern, und enthüllt dabei neue Zustände, Dimensionen und Fähigkeiten. Wir nennen diesen sich verändernden, evolutionären Fluß unserer Erfahrung Entfaltung. Dann offenbart unsere Seele ihre ihr eigenen Möglichkeiten. Daran sehen wir, daß die Entfaltung der Seele ein unmittelbarer Ausdruck der optimierenden, schöpferischen Kraft des Dynamismus des Seins ist.

       4. Offenheit/Weite

      Die Offenheit wahrer Natur ist ihr viertes Charakteristikum. Offenheit bedeutet eine unendliche Zahl von Möglichkeiten – offen dafür, alles zu sein, offen dafür, sich als alles zu manifestieren, unbegrenzt in ihrem Potential. Dies ist die Unbestimmtheit und die Unerschöpflichkeit, über die wir im vorigen Kapitel sprachen. Realität verändert sich ständig, weil ihre wahre Natur vollkommen offen ist. Das ist die Raum-Dimension unseres Seins: Wenn man die wahre Natur erkennt, dann entdeckt man, daß sie eine Weite besitzt, daß sie Raum ist. Anders gesagt: Weite, Raum ist eine Eigenschaft von Präsenz, die wahre Natur ist.

      Wenn man vor der Realisierung der wahren Natur Essenz als eine Präsenz in sich erlebt, erlebt man die Weite als eine innere Qualität, die von Essenz getrennt ist. Man empfindet Raum als Leere, als substanzlos – er ist Leichtigkeit und Offenheit – , während Essenz Präsenz ist, die eine substantielle Qualität hat. Man erfährt, daß Essenz im Raum auftaucht. In dem Bewußtsein von objektiver Realität erkennt man, daß Essenz und Raum dasselbe sind, sie sind koemergent. Essenz ist also eine Präsenz, die Weite, die Raum ist, die bewußt ist und die sich ständig transformiert und schöpferisch ist.

      Das Gefühl für Zeit bekommen wir durch die Wahrnehmung von Veränderung, also reflektiert Zeit den Dynamismus des Seins. Entsprechend reflektiert räumliche Ausdehnung seine Offenheit. Die Offenheit und die Weite wahrer Natur, die auch die Empfindung von


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