Hybridtheater. Thomas Oberender
in seinen Stücken dem Publikum Verantwortung, auch wenn es diese gar nicht will. Und da, wo die Rollen und Aufgaben sehr wechselhaft verteilt sind, wird das Spiel gleichzeitig partizipativer und auch schwerer zu verlassen.
Im Falle von Es ist zu spät gibt es kein klares Ende der Performance – die Grenzen fließen auch hier ineinander. Immersiv ist diese Theaterarbeit nicht nur in dem landläufigen Sinne, dass sie unter die Haut geht und zu Empathie und Identifikation verführt. Partizipative und symbiotische Strukturen, die das alte Subjekt-Objekt-Verhältnis in ihren spezifischen Raum- und Beteiligungsformen auflösen, sind in verschiedensten Kunstgattungen inzwischen ein eigenes Genre. Typisch für dieses Genre ist, dass es seine eigene Rahmung auflöst, die vierte Wand verschwinden lässt, über die Grenze geht und fließende, wechselseitige Begegnungsrichtungen zwischen Werk und Publikum herstellt. Was der Schlussapplaus vorm Vorhang im klassischen Theater beendet und als ein Ritual der abschließenden Begegnung außerhalb des Spiels inszeniert, ersetzt im hybriden Theater der Chat, der das Publikum mit in die Garderobe der Künstler*in und von der Garderobe mit an die Bar nimmt.
In Vogelgesangs devised media theatre geht er nicht nur via Live-Performance und -stream zum Publikum, sondern die Zuschauer*innen müssen zu ihm kommen, dort, wo sie gerade sind – in ihrer Welt, vor ihrem Bildschirm. Das Theater hat in der Lockdown-Phase der Pandemie nach verschiedensten Wegen gesucht, sein Publikum auch jenseits der physischen Bühne zu erreichen, aber das für das digitale Zeitalter wirklich typische Theater lässt das Publikum schlicht die Bühne erreichen. Es sind also mindestens drei Parameter, die sich in seinem Hybridtheater grundlegend verändern: Das Publikum wird aktiviert. Das Geschehen auf der Bühne wird als ein Wirklichkeitssplitting erlebt, das seine Herstellung offen zeigt, und diese reflexive Medialität führt zu einem neuen Bewusstsein für die manipulative Apparathaftigkeit des Theaters, das sein Darstellen offen darstellt und für das Publikum partiell veränderbar macht. Dadurch entzieht sich die Mise en Scène des Hybridtheaters auch seiner endgültigen Fixierung, denn an Teilen seines Skripts wird jeden Abend im Chat weitergeschrieben.
Hybridtheater beruht auf Echtzeit-Technologien, die es erlauben, die digitale und physische Ebene seiner doppelten Existenz durch verschiedene Inputs ständig zu modifizieren. Da Ton und Bild (wie die Live-Performance) im selben Moment bearbeitet werden können, überlagert oder vermischt sich das Bühnengeschehen mit anderen Bildern und Klängen, sodass mit dem Abbild selbst gespielt wird. Was wir im Leben oft erst im Laufe der Zeit herausfinden – dass die Dinge sich so oder auch ganz anders betrachten lassen –, geschieht auf dem digitalen Spielfeld durch die Wechsel der Kameraperspektive und die Kommentare der Mitsehenden automatisch. Neben der Diversifizierung der Perspektiven entsteht also auch eine Aktivierung der Betrachtenden, die in die Situation der Aufführung eintreten können – bisweilen physisch, oft und vorzugsweise aber auch durch ihre Wortmeldung, ihr Mitspielen oder im Austausch mit anderen Gästen.
Während zum Beispiel die Fans vom Tatort diesen in diversen Online-Foren live kommentieren und untereinander bewerten können, kann die Sendung selbst aus ihrer linearen Struktur nicht austreten. Das hybride Theater aber öffnet sich den Einwirkungen seiner Fans und Zuschauer*innen und trägt ständig die Züge eines offenen Spiels. In seiner Geschichte hat das westliche Theater seine Gemachtheit in unterschiedlichen Formen thematisiert – im Extempore, in der Durchbrechung der vierten Wand, anhand epischer Mittel, mit denen sich Schauspieler*innen oder Autor*innen selbst einbringen. Im digitalen Theater dichtet das Publikum mit und schreibt im Chat, was es denkt, während das vorproduzierte Theater läuft und ihm für dieses Feedback eigene Sektoren einrichtet. Dieser Kommentarteil fließt in einem Stück wie Es ist zu spät sofort in das Stück ein, dessen Skript porös, aber dennoch keine durchgehende Improvisation ist. Vielmehr steigert sich die präsentische Geistesgegenwart der Aufführung in schwindelerregende Höhe. Im Skript seiner Aufführung wird das Publikum selbst zur (kollektiven) Figur, die Arne Vogelgesang mitschreibt, anspricht, in sein System integriert und aktiv inszeniert.
Der Körper
Teilhabe an kultureller Produktion ist die neue Ware. Mit ihr verbindet sich in den digitalen Foren eine neue Performance von Ehrlichkeit, die vor allem auf einem offenen Geben und Nehmen beruht. Es geht, in den Worten Vogelgesangs, um die Beglaubigung von Beziehungs-Transaktionen. Auf der Grundlage von Marktregeln entstehen im digitalen Raum neu designte Online-Beziehungen zwischen Performer*innen und Publikum. Wer bezahlt hat, darf hier etwas fordern: Das ist der Payback-Imperativ sozialer Foren im digitalen Raum. Für die Influencer-Figur in Vogelgesangs Stück Es ist zu spät erzeugt das eine kraftvollere, „echtere“ Wirkung und Beziehung.
Seit Jahren erforscht Arne Vogelgesang den digitalen stream of performance von Influencer*innen, rechten Propagandist*innen, Pick-up-Artists und deren verblüffend ehrlichem Hunger nach Klicks und Likes, der diversen devianten Gesinnungen und Praktiken eine Bühne eröffnet. Dies sind in der Regel abweichende Verhaltensweisen, die bizarr oder gefährlich sind und ihre Abweichung von der Norm virtuell, aber nicht unwirksam ausleben. Vogelgesang performt diese Verhaltensformen digitaler Gemeinschaften mit seinem eigenen Körper nach und macht sie dadurch für sich erfahrbar. Das Netz erscheint so als eine Plantage von Devianz – es erzeugt anonymisierte Abweichungsenklaven und ist ein Weltreich der Sezession und der Singularitäts-Aktivist*innen. Hier, im virtuellen, staatenlosen Raum, entstehen die freien Republiken von Menschen, die wirklich probehandeln, im Guten wie im Schlechten, und oft eine Vorhut späterer Entwicklungen sind.
Die Neuerfindung des Menschlichen im sogenannten Web 2.0, das auch das Soziale 2.0 hervorgebracht hat, erschafft digitale Beziehungen, die oft sozialer und auch körperlicher sind, als man es ihnen aus kritischer Perspektive oft zugesteht. Solche koproduzierenden Beziehungen im Theater zu etablieren kann, so Arne Vogelgesang, eine Trainingssituation für Verwertungsformen sein, die in Zukunft auch im Theater wichtiger werden. Insofern sind unsere drei Gespräche tastende Versuche, mit Vogelgesangs Erfahrungen Theater auch dort zu entdecken, wo wir es normalerweise nicht suchen und erwarten. Seine hybride Struktur folgt hybriden Erfahrungen – der wilde, von devianten Lebensformen bevölkerte Sozialraum des Netzes produziert Figuren und Lebenshaltungen, die vital und abgründig, attraktiv oder politisch gefährlich sind, die narrative Systeme, kollektive Codes und Muster offenbaren, die Vogelgesang über Wochen und Monate faszinieren und in diese virtuellen Lebenswelten bannen. Zugleich spielt er nicht dort, sondern mit dem, was er dort findet, auf einer Bühne, die materiell ist und ein alter Ort körperlicher Repräsentanz.
Die Tiefenstruktur unserer gesellschaftlichen Gegenwart, die sich im Sozialen 2.0 nackter, fantastischer und vielleicht wahrer zeigt als in der Welt der Klarnamen und Institutionen, ist ganz sicher einer der Gründe für die Beutezüge im Netz, die Arne Vogelgesang seit fünfzehn Jahren umtreiben. Dass er sie nicht einfach rückübertragen kann in die literaturbasierten Theaterstrukturen, sondern dafür selbst hybride Systeme baut, eher bastelt, ist das Zukunftsweisende seiner Arbeit. Und mit dem Alien-Blick, mit dem er auf unsere Gesellschaft im Netz schaut, der politischen Sorge, die ihn dabei umtreibt, schaut er zugleich auf die traditionelle Theaterroutine und ihre Meister*innen am Regiepult, deren Zentralperspektive und Verschwinden nach der Premiere er auflöst. Es ist dieser Übergang vom Text zum Skript (im Sinne von Protokoll), das er entwickelt, um diese Live-Begegnung mit dem Leben außerhalb der Bühne, aber auch mit dem Leben auf der Bühne zu ermöglichen, die in 200 oder 300 Jahren vielleicht erinnert werden wird als Spielform eines Theaters, das noch nicht loslassen konnte vom Echtraum. So wie auch der Körper noch nicht hybrid war, kein Cyborg, sondern der Leib eines Performers, der das Theater selbst als Netz und Plattform nutzte.
1Ruedi Widmer, Ines Kleesattel (Hg.): „Scripted Culture. Kulturöffentlichkeit und Digitalisierung“, Zürich 2018, S. 14.
2https://www.bukrate.com/quote/1777290 (Übersetzung durch den Autor).
3Wolfgang Welsch: „Die Kunst und das Inhumane“, in: „Grenzen und Grenzüberschreitungen, XIX. Deutscher Kongress für Philosophie 2002“, Berlin 2004, S. 736.