Essentielle Verwirklichung. A.H. Almaas
über Sexualität, Kurse über Arbeit, Beziehungen, Abhängigkeit und Unabhängigkeit und so weiter.
Schritt für Schritt werden wir uns unseres Lebens und der Situation, in der wir uns befinden, mit allen Konflikten und Barrieren bewußt, ohne dabei ganz zu glauben, daß das alles ist, was es gibt. Je mehr wir in der Lage sind, aufmerksam und nicht identifiziert zu sein, um so mehr können wir die wirkliche Wahrheit sehen, die da ist, wie Goldadern in Gestein – die Wahrheit, das Gold in all dem Erz. Die Entwicklung dieser Fähigkeit, aufmerksam zu sein und zugleich die Identifikationen mit dem Wahrgenommenen aufzulösen, führt mit der Zeit dazu, daß wir unsere Essenz erfahren.
„In der Welt, aber nicht von dieser Welt“ beschreibt nicht nur einen Menschen, der frei ist. Der Ausdruck beschreibt Essenz selbst. Das ist ihr tieferer Aspekt. Was ist also die Welt, die Welt, „in“ der wir sind, ohne „von ihr“ zu sein? Die Welt ist natürlich eine Vielheit von Dingen. Aber die Welt, wie wir sie wahrnehmen, besteht vor allem aus Mentalem: Gedanken und Bildern, Emotionen und Sinneswahrnehmungen. Alles was ihr von der Welt und von euch wißt, beruht auf Gedanken, Bildern, Emotionen und Sinneswahrnehmungen. Was wißt ihr sonst? Letztlich geht die Welt, wie ihr sie wahrnehmt, auf eure Sinneswahrnehmungen, eure emotionalen Reaktionen und auf eure mentalen Bilder und die Gedanken zurück. Zum Beispiel ist ein Baum ein Baum und Teil der Welt, aber was ist er für euch? Ein bestimmtes Bild in eurem Kopf: wie er aussieht, ein Gefühl in bezug auf ihn, Sinneswahrnehmungen wenn ihr ihn berührt – rauhe Rinde, glatte Rinde. Wenn ihr in einem Sessel sitzt: was ist der Sessel für euch in eurer unmittelbaren Erfahrung? Eine Sinneswahrnehmung von etwas unter eurem Hintern, stimmt‘s? Ein Bild von ihm in eurem Kopf, eine Vorstellung von ihm, die euch veranlaßt, so zu sitzen statt ein wenig anders. Das ist die Welt.
Essenz ist nun „in der Welt, aber nicht von dieser Welt“. Sie besteht nicht aus Sinneswahrnehmungen, Emotionen oder mentalen Ereignissen. Aber sie ist „in der Welt“. Sie lebt da mit diesen Dingen. Sie ist wie Gold im Gestein. Sie ist nicht das Gestein, sie ist im Gestein. Essenz ist in den Sinneswahrnehmungen, Emotionen, mentalen Ereignissen, aber ist nicht selbst Sinneswahrnehmung, Emotion oder mentales Ereignis. Diamanten und Smaragde – kostbare Steine – sind in der Erde, aber sie sind nicht die Erde selbst. Sie sind etwas anderes. So ist Essenz in euch. Sie ist nicht euer Fleisch, sie ist nicht identisch mit euren Emotionen oder Gedanken. Aber sie ist in sie eingebettet. Essenz ist in euch wie Gold im Gestein, wie kostbare Steine in der Erde.
Da das so ist, könnt ihr ein wenig Forschung, ein wenig Bergbau treiben, um sie zu finden. Ihr könnt im Körper, in den Emotionen und in den mentalen Ereignissen graben, um die kostbare Substanz zu finden. Zum Beispiel könnt ihr Körperarbeit machen, um die Empfindsamkeit eures Körpers zu entwickeln. Ihr könntet entdecken, was da ist, was Essenz ist. Ihr könntet eure Emotionen und eure Sinnewahrnehmungen erforschen, bis ihr ihrer so bewußt seid, daß ihr feine Unterschiede erkennen könnt. Ihr seht, daß das, wovon ihr so sicher wart, daß es eine Emotion ist, keine Emotion ist; daß das, was da ist, keine körperliche Sinneswahrnehmung ist, sondern ihr es nur immer dafür gehalten habt – nah, sehr nah an einer körperlichen Sinneswahrnehmung, aber nicht wirklich eine. Essenz ist etwas Physisches, das nicht zum physischen Körper gehört. Sie ist wie etwas, das zwar physisch, aber auf einer anderen Ebene und auf eine andere Weise existiert.
Es gibt eine tiefere Bedeutung von „in der Welt, aber nicht von dieser Welt“. Wenn man sie einmal entdeckt hat, dann macht Essenz eine Entwicklung, eine alchimistische Verfeinerung durch, bis sie ihre eigentliche Natur erreicht – die wahre Natur von Essenz, die die Natur von allem ist. Sie ist meine Natur, aber sie ist auch eure Natur. Sie ist die Natur von Vögeln, Katzen, Bäumen, Steinen, von allem. Sie ist nicht der Stein, auch nicht die Katze, nicht euer Körper, sie ist weder mit euch noch mit mir identisch. Sie ist die wirkliche Natur von alldem. Sie erlaubt alledem zu existieren. Die wirkliche Natur der Essenz, die Natur von allem, ist das, was manchmal Gott genannt wird.
Gott, die Essenz der Essenz, ist überall – im physischen Körper, in den Sinneswahrnehmungen selbst, in den Gedanken selbst, im Belebten, im Unbelebten – in allem. Aber er ist nicht mit ihnen identisch. Gott, die Essenz der Essenz, ist also „in der Welt, aber nicht von dieser Welt“, und das ist seine tiefste Bedeutung. Es gibt einen wichtigen Aspekt von „in der Welt, aber nicht von dieser Welt“ sein, auf den ich hier hinweisen möchte. Er ist das Erkennen von dem, was Essenz ist und was nicht Essenz ist, und das bedeutet erkennen und anerkennen, daß Essenz in euch wirkt, daß sie ein wirklicher Faktor ist.
Essenz entwickelt sich sehr schnell, sobald sie gesehen und erkannt wird. Sie gedeiht durch Anerkennen. Wenn ihr sie nicht erkennt, schläft sie weiter. In dem Moment, in dem ihr sie erkennt, beginnt sie zu wachsen; sie lebt von Licht. Das ist für bestimmte Aspekte eurer Arbeit hier sehr wichtig; wir müssen erkennen, welche Faktoren wirklich zu unserer Verwandlung und unserer Entwicklung beitragen. Nehmen wir zum Beispiel einmal an, ihr habt ein oder zwei Jahre lang an euch gearbeitet, kommt zu dieser Gruppe und arbeitet an bestimmten Themen in eurem Leben, und einige Änderungen beginnen sich in euch zu vollziehen. Es kann sein, daß sich euer Herz öffnet oder ihr klarer werdet. Ihr sagt dann vielleicht: „Oh, mein Herz hat sich geöffnet, weil ich diese wunderbare Frau getroffen habe; sie ist so toll, mein Herz hat sich einfach für sie geöffnet und seitdem ist es immer offen.“ Ihr erkennt eure essentielle Arbeit also nicht an, ihr gebt etwas anderem die Anerkennung. Wenn ihr das tut, beraubt ihr euch der Möglichkeit, daß diese essentielle Arbeit weitergeht und euch mehr Verständnis der Wahrheit bringt. Ihr gebt eure Anerkennung dahin, wohin sie nicht gehört. Wenn ihr das tut, entwertet ihr eure Arbeit. Ihr habt zwei Jahre Arbeit darauf verwandt, euch zu verstehen, aber ihr sagt, es hat nichts bewirkt. Eure Offenheit, eure Ausdehnen, die Fülle, die ihr spürt, fallen euch demnach zu, weil ihr dieser wunderbaren Frau begegnet seid. Oder ihr sagt, eure Kundalini habe sich geöffnet, weil jemand euch diese Massage gegeben oder jemand auf eine besondere Weise an eurem Kreuzbein gearbeitet hat. Und ihr ignoriert völlig die Tatsache, daß ihr fünf Jahre lang mit allen möglichen Emotionen gearbeitet habt, und wenn ihr diese Arbeit nicht getan hättet, jemand euer Kreuzbein mit Schmirgelpapier hätte bearbeiten können und ihr nicht das Geringste gespürt hättet.
Wenn ihr euch einmal erkältet und ihr fühlt zur gleichen Zeit, daß euer Herz offen ist, könnt ihr zu dem Schluß kommen, daß euer Herz offen ist, weil ihr euch erkältet habt. Ihr schreibt der Erkältung das Verdienst zu, eurer Erkrankung, statt vier Jahre Arbeit, die es geöffnet hat. Die Erkältung ist wahrscheinlich in Wahrheit eher Ausdruck eines Widerstandes gegen weitere Öffnung. Krank werden ist häufig Ausdruck eines Widerstandes gegen Ausdehnung.
Diese Unterscheidungsfähigkeit ist sehr wichtig, nicht nur in bezug auf Orientierung – worüber wir früher gesprochen haben –, sondern auch in bezug darauf, welches die wirklichen Einflüsse in eurem Leben sind. Wenn ihr die Anerkennung nicht dem gebt, der sie verdient, dann entwertet ihr, was wirklich zu diesen Veränderungen geführt hat, was das Wachstum in Wirklichkeit bewirkt hat – eure eigene Arbeit, eure Fähigkeiten, eure eigene Essenz.
Meiner Erfahrung nach haben viele meiner Freunde ihre Essenz erfahren, aber nicht verstanden, was es war, weil sie meistens entwerteten, was sie selbst getan hatten. Jedesmal wenn sie zu etwas anderem weitergingen, zu einer anderen spirituellen Lehre oder Disziplin, zu einer anderen Methode der Selbsterforschung, entwerteten sie, was sie eben gelernt hatten und warfen alles weg. Sie warfen ihr Verstehen weg und was sie bekommen hatten, was von Wert war. Dann mußten sie wieder ganz von vorn anfangen. Ich hatte Glück, ich entwertete nichts. Immer wenn ich zu etwas Anderem weiterging, verstand ich genau, was ich bei dem gelernt hatte, bei dem ich bisher gewesen war. Und ich fand, daß das von ziemlicher Tragweite ist.
Manchmal ist es nicht leicht zu sagen, was zu Verstehen und Klarheit in eurem Leben beiträgt. Aber wenn ihr erkennen könnt, was es ist, dann bewegt ihr euch zunehmend auf eure Essenz zu, weil nur Essenz das kann. Wenn ihr aber eure Entwicklung äußeren Dingen zuschreibt, dann urteilt ihr nicht nur falsch, ihr verlangsamt auch den Prozeß, der in Wirklichkeit zu eurer Entwicklung beigetragen hat, oder haltet ihn sogar an. Ihr sagt eurer Essenz: „Auf dich kommt es nicht an.“ Und das ist ein Angriff auf eure Essenz; ihr greift eure Essenz an. Die eigene Essenz entwerten ist ein Aspekt eures Ego oder eures Über-Ich. Nach meiner Beobachtung erkennen Menschen oft nicht an, was wirklich geschieht oder welches die Kraft ist, die in ihnen wirkt,