Krautrock. Henning Dedekind

Krautrock - Henning Dedekind


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ab. Verächtlich belächelt man Musiktheorie und Notenlehre, denen man allenfalls noch eine Eignung zur Hausmusik zugesteht. »Meine Mutter hat zu Hause immer ihre Lieblingskompositionen gespielt«, erzählt Michael Rother. »Ich habe um eine musikalische Ausbildung immer einen Bogen gemacht. Ich wollte nie Noten lesen lernen, das war schon von Anfang an nicht der Weg, der mir vorschwebte.« Noten gelten als äußerlicher Zwang, als verordnete, erstarrte Musik, die keinerlei Modulation durch den Interpreten mehr zulässt – das krasse Gegenteil des grenzenlosen Krautrock-Ansatzes also. »Ich habe gemerkt, dass ich besser bin, wenn ich die Augen schließe und nicht nach fremdbestimmten Notenbildern spielen muss«, sagt Hellmut Hattler. »Ich habe gemerkt, dass ich dann am besten bin, wenn ich nichts will und nichts denke. Dann bekommt die Musik einen Ausdruck.«

      Man versucht, zum Kern des eigenen Empfindens vorzudringen, wo man die Basis aller schöpferischen Arbeit vermutet. Das Ergebnis dieses Experiments versetzt die Musikkritiker zumindest in Erstaunen: Als »völlig ungehemmt, leidenschaftlich und frei« bezeichnet die Kölnische Rundschau im Oktober 1968 die Musik der Band-Kommune Amon Düül.

      Der intuitiv-spontane Ansatz ist auch Jahrzehnte später noch gültige Krautrock-Doktrin. Embryo-Lehrling Nick McCarthy, der in München Jazz studiert hat, erinnert sich an eine Busfahrt mit Christian Burchard: »Das war eine echte Liebe, die auf dem Konservatorium total gefehlt hat. Diese Mischung aus dem Akademischen und ›learning by doing‹, das hat es ausgemacht. Christian hat zum Beispiel gesagt, ›da hast du ein Instrument, das du noch nie gespielt hast, das spielst du jetzt beim nächsten Konzert‹.«

      Im Zeitalter von Konsum und Kommerz etwas Unverfälschtes zu finden – diese Sehnsucht verbirgt sich auch hinter dem glasklaren Minimalismus der Düsseldorfer Elektrojünger Kraftwerk. In einem Interview mit Lester Bangs äußerte sich Kraftwerk-Mitbegründer Florian Schneider-Esleben zum Thema Emotionalität: Es gebe eine »kalte« Emotion und andere Emotionen, alle seien gleichwertig. »Uns interessiert sehr, wo die Musik herkommt. Die Quelle der Musik. Der reine Klang ist etwas, das wir gerne erreichen würden.«

      Auf der Suche nach dem reinen Klang wird ein »erweiterter Klangbegriff« formuliert. Die offensichtliche Parallele zum »erweiterten Kunstbegriff« aus der bildenden Kunst ist dabei kein Zufall, sondern Programm: Jedes Geräusch ist Klang, jeder Klang ist Musik. Die Befreiung der Klänge wird zum zentralen Element einer Rockmusik, in der die strenge Zäsur zwischen Ton und Geräusch fortan abgeschafft ist. Neben der übernommenen Rock-Besetzung (Gitarre, Bass, Schlagzeug, Orgel) und den Klang verändernden Effektgeräten (Phasenverschiebung, Verzerrung, Echo) werden nun auch neu aufgekommene elektronische Instrumente wie der (anfangs noch sündhaft teure) Synthesizer eingesetzt. Verschiedene Gruppen – darunter die in einer alten Schule in Wümme residierenden Faust – verwenden für ihre Musik Sinusgeneratoren und Monochorde, aber auch Alltagsgegenstände wie Staubsauger oder Spielautomaten.

      Offene Ohren

      »Macht das Ohr auf!« – so lautet der Slogan der 1969 gegründeten Plattenfirma Ohr Musik Produktion GmbH. Das Werbemotto persifliert nicht nur eine politische Forderung der Bild-Zeitung, die sich auf das Brandenburger Tor als unpassierbare Grenze zwischen Bundesrepublik und DDR bezieht (»Macht das Tor auf!«), sondern definiert auch ein Wesensmerkmal der neuen Popmusik: »Es war eine allgemeine musikalische Bewusstseinserweiterung«, erklärt Ur-Embryonide Christian Burchard. »Wir waren interessiert an ALLEM und haben uns neben dem Jazz zum Beispiel auch Béla Bartók angehört, zeitgenössische Musik wie Stockhausen und solche Sachen.«

      Vorgefundene Musik jeder Art wird auf ihre Tauglichkeit zur Schaffung eigener Kreationen überprüft. Beim Begehen neuer Wege scheut sich der Krautrock nicht vor einem mutigen Blick über den Tellerrand. »Mir persönlich haben die

      ersten Elektronik-Bastler aus Frankreich sehr gut gefallen«, sagt Hans-Joachim Irmler. »Man kann das, womit man konfrontiert wird, ablehnen, annehmen oder ausbauen. Wir haben die ganzen Elemente, die es gab, nicht ignoriert, sondern verwurstet. Es wäre auch idiotisch gewesen, sie zu ignorieren.«

      Die unbekümmerte Übereinanderschichtung verschiedenster musikalischer und nicht-musikalischer Elemente wirkt oft verstörend. Gruppen wie Faust oder Can machen ihre Collagetechnik zum Markenzeichen und betreten damit musikalisches Neuland. »Krautrock war eine echte Stil-Verschmelzung«, urteilt Simon Reynolds 1996 im englischen Melody Maker. Zu Recht: Als Antithese jeglicher Heterogenität pendelt die Musik zwischen ohrenbetäubendem Lärm und ausladenden Melodien wild hin und her und verbindet dabei Psychedelic-Rock, Jazz und Ethno spielerisch mit elektronischen Avantgarde-Klängen. Zwar greift auch der Krautrock gern auf solche Idiome zurück, doch werden sie – und hierin liegt der gravierende Unterschied zur Kopie – niemals zum musikalischen Dogma.

      Von der Improvisation zur Innovation

      »Über die Improvisation findet man ganz leicht heraus, was zusammenpasst, wo es Anknüpfungspunkte gibt. Wenn man darüber redet und sich in der Theorie verliert, passiert gar nichts.«

      – Hellmut Hattler –

      Die Ablehnung zeitlich und schematisch organisierter Musik führt – auch auf der Bühne – zu Gruppenimprovisationen von nicht selten bis zu einer Stunde Dauer. »Es wurde in allen deutschen Gruppen viel improvisiert«, sagt Roland Bunka. »Das war die Basis.« Viele experimentell und fortschrittlich ausgerichtete Bands suchen die Entfaltung in langen musikalischen Prozessen. Diese besitzen eine gruppendynamische, kommunikative Funktion, ganz im Geiste der Zeit – was sich für Außenstehende allerdings nicht immer eins zu eins in der Musik abbildet: »Als Amon Düül anfingen, waren das noch keine Songs, keine Popmusik, sondern eine Art freier Improvisation, so eine Art Kommunismus«, sagt Christian Burchard. »Man hat zusammen gewohnt. Wer nicht so gut spielen konnte oder gar kein Instrument spielte, sollte sich trotzdem am musikalischen Geschehen beteiligen. Denen hat man dann Bongos gegeben oder eine marokkanische Trommel, oder man hat ihnen ein paar Griffe auf der Gitarre gezeigt, damit sie trotzdem den Klang bereichern konnten.«

      Politisch korrekter Dilettantismus allein reicht zur Konstituierung einer neuen Rockmusik jedoch kaum aus. Die ellenlangen Soloausflüge und lärmigen Instrumentalpassagen dienen vielmehr der stilistischen Selbstfindung. Man betrachtet die freie Improvisation als Grundlage, die es handwerklich zu festigen gilt. Roman Bunka: »Wir haben viel improvisiert, aber auch nächtelang mit ungeraden Rhythmen geübt. Wir haben dabei immer gehofft, dass aus der Improvisation heraus etwas Neues entsteht, dass sich Themen entwickeln. Wir haben aber auch hart geübt, vor allem an Rhythmen. Diese Balance ist sehr wichtig.«

      Viele Fans, gewohnt, dass Beat-Gruppen zweieinhalbminütige Songs herunterschrammeln, sind bald fasziniert von der neuen Möglichkeit, dem Entstehen von Musik als Zuhörer beizuwohnen. »Ganz besonders wichtig war die Improvisation«, erzählt Klaus Sonntag begeistert. »Durch sie entstand ein Wir-Gefühl. Es gab bei den meisten Auftritten zwar immer ein paar festgeschriebene Passagen, aber niemand hätte erwartet, dass eine Band auf der Bühne wie auf Platte klingt. Teilweise waren nur Fragmente wiederzuerkennen.«

      Die Erwartungshaltung an eine ernst zu nehmende Band kehrt sich während der Siebzigerjahre sogar regelrecht ins Gegenteil um: Das in Mode gekommene LP-Doppelalbum fängt die spontane Atmosphäre ganzer Live-Konzerte ein und entwickelt sich gerade aufgrund der oft sehr freien Interpretationen bekannter Stücke zum Verkaufsschlager. »[Es] kam in dieser Zeit die Vorstellung auf, dass man jemanden in der Musik auf eine Reise in die eigenen Erlebniswelten mitnehmen wollte«, sagte Edgar Froese gegenüber dem taz Magazin. »Anfang der Siebzigerjahre war der Punkt erreicht, wo man in der Musik Züge bestieg, um nicht nur einen Kaffee zu bestellen, sondern man wollte am liebsten gleich in dem Zug auch noch übernachten.«

      Erst mit einem gegen Ende des Jahrzehnts neu einsetzenden Perfektionismus in der Popmusik wird wieder akribisch darauf geachtet, dass eine Band ihr Material möglichst LP-getreu präsentiert. Zu diesem Zeitpunkt hat das Konzert bereits an Stellenwert verloren und wird von der Plattenindustrie schließlich vollends zur verkaufsfördernden Maßnahme degradiert.

      Äußere


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