Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie – Studienausgabe. Erich Auerbach

Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie – Studienausgabe - Erich Auerbach


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von Autor und Leser ins Auge faßt und zugleich den möglichen dialektischen Charakter des Publikumsbegriffes: wir können auf ein volkstümliches, ein ständisch bestimmtes Publikum treffen, aber auch auf ein Publikum, das erst entsteht dank der persönlichen und schriftstellerischen Wirkung eines Autors, der ein neues Lebensideal ausspricht. Doch auch im elisabethanischen Theater des 16. Jahrhunderts enthüllt sich, daß Stoffe aus allen Ländern den Stimmungsreiz des Fremden für das englische Publikum um 1600 enthielten. Die Poesie zog dank dem schon dem 6. Jahrhundert eigentümlichen «hohen Maß von perspektivisch-historischem Bewußtsein» die verschiedensten Kräfte und Regionen an sich, die entgegengesetzten Welten von Ideen drängten sich in die Phantasie der Dichter. Unter solchen Bedingungen stand das antike Theater nicht. «Der Kreis seiner Gegenstände war zu beschränkt, weil das antike Publikum andere Kultur- und Lebenskreise als den eigenen nicht als gleichwertig und nicht als beachtenswerten künstlerischen Gegenstand ansah.» Die poetische Phantasie kann in ihren Strom aufnehmen, was dem Geschmack einer Zeit, einer Gesellschaft entspricht oder Töne eines elementaren Empfindungslebens, Formen des Ausdrucks finden, die, unzeitgemäß zunächst, erst in einer späteren Generation auf ein aufnahmefähiges Publikum treffen. Wenn sich Autor und Publikum nur in der Peripherie ihres Wesens anziehen, eine neue Kunst des Anschauens und Gestaltens erst im Zug einer späteren Entwicklung verwirklicht wird, dann mischt sich in den Flug der Phantasie vieler Schriftsteller des 19. Jahrhunderts der unbezwingliche Haß gegen die Verständnislosigkeit des Publikums – bei StendhalStendhal, H., Baudelaire, den GoncourtsGoncourt, E. u. J..6 Ihre kritische Stimmung haben spätere Generationen in sich aufgenommen und in Einsichten, in unzeitgemäßen Betrachtungen, in kritischen Analysen ihrer Gegenwart verdeutlicht. Stendhal dachte nur an die happy few, KierkegaardKierkegaard nur an jenen Einzelnen, den er «mit Freude und Dankbarkeit seinen Leser nannte». Diese Seite eines systematischen Widerspruchs gegen die Zeit wurde bis heute auf die mannigfachste Weise beleuchtet und fortgeführt, aber seine Grundlinien an keinem Punkte ausgelöscht.

      Auerbachs Gesichtspunkt, das heißt die Frage nach dem Verhältnis von Autor und Publikum, den wir, ihn etwas ergänzend, beschrieben haben, leitete aber zu einer Reihe von neuen Fragen, denen das Dantebuch schon präludierte, und die in zahlreichen Aufsätzen zur Divina Commedia sowie in seinem letzten Buch über Literatursprache und Publikum zu einer organischen Fortsetzung führten. Hier fand er den Leitfaden für die Erweiterung seiner Einsicht. Ob er DantesDante Anreden an den Leser analysiert und zeigt, wie sie als eine Form christlicher Beschwörung sich von der antiken ApostropheApostrophe unterscheiden, ob er in einem Vergleich der Camillaepisode aus VergilVergil mit dem entsprechenden Stück des hundertfünfzig Jahre späteren altfranzösischen Enéas zugleich Wandlungen des hohen Stils und die veränderte Gesellschaftsschicht im Auge hat, an die sich der mittelalterliche Dichter wendet, wenn er die OvidscheOvid Liebeskasuistik aufnimmt – überall ist der Ton angeschlagen, der vielfach weiterklingt in dem kühnen Entwurf über das abendländische Publikum und seine Sprache, in dem umfassende Gesichtspunkte hervortreten: Struktur des römischen Publikums, und – als die nationalen Sprachen ihre Selbständigkeit gegenüber dem Latein erlangt hatten – Entstehung einer neuen Gesellschaftsschicht, die auch durch eine bestimmte Summe literarischer Anschauungen und Gefühle bestimmt war. Die Analyse führt zu dem Punkt, an dem der mächtige Schatten der auseinandergleitenden antiken Welt schwindet und die lateinische Literatur aufhört «antikisch zu sein», dafür aber mit vielen Fasern in die werdenden Vulgärsprachen hineinragt, von denen sie erst seit der karolingischen Reform sich wieder zu lösen beginnt. Es ist eine Übergangszeit, in der die stilumbildende Kraft des spätantiken und frühmittelalterlichen Lateins und der Vulgärsprachen einen neuartigen Ausdruck geschaffen hat und in der das In-, Neben- und Durcheinander vieler Formen zu immer neuen Formulierungen führt. Doch erst als sich wieder eine Minorität von Gebildeten mit eigenem Pulsschlag und oft auch mit realer Organisation findet, ist nach einer Jahrhunderte währenden Pause, in der das Latein Sondersprache der Liturgie und der Kanzleien war, wieder eine Gesittung erreicht, die sich mit der antiken vergleichen läßt. Auerbachs soziologische Frage nach Zusammensetzung und Funktion des Publikums verschiedener Epochen trifft stets mit einer stilkritischen zusammen. Wieviel Verständnis er im Umkreis der Dichtung zeigt, ist bekannt: schon in dem Dantebuch hat er in einer sich stets auf gleicher Höhe haltenden Diktion entdeckt, wie das poetische und individuelle Moment der vita nuova das Konventionelle des dolce stil nuovoDolce stil nuovo überwiegt; sein feines Ohr, seine künstlerische Empfänglichkeit vernahmen den zauberhaften, verborgenen Ton von DantesDante Jugendgedicht.

      Von der Meisterschaft, einen Text zu analysieren, legen schon die Aufsätze beredtes Zeugnis ab. Aber man versteht sie besser, wenn man sie im Zusammenhang mit der Mimesis, mit der Geschichtskonstruktion und Selbstinterpretation des Autors liest und sich zu seinen theoretischen Voraussetzungen zurückführen läßt. Dann erkennt man, daß jede Einzelinterpretation als Teil des umfassenden Planes gedacht ist, die die «Anschauung von einem Geschichtsverlauf», eine paradigmatische Anschauung vom Menschengeschick, enthalten soll. In der Mimesis stehen die Textproben am Eingang jedes Kapitels, aber nicht, um zur Erfassung ihrer individuellen Form eine begründete Theorie für die immanente Stilforschung aufzustellen, sondern um durch eine Hermeneutik, in der literarische, stilistische, geschichtliche Probleme sich unlösbar verschlingen, ihre Farben zu erhalten. Leicht fügt eine Linie des Gedankens sich an die andere, bis wie spontan die Lösung sich heraushebt. In seltenem Grad wurde hier die Philologie dank einer verführerischen Gabe der Interpretation zur nachschaffenden Kunst des Verstehens, die ihre Wurzeln in die deutsche Tradition senkt. «Mimesis», so sagt Auerbach, «versucht Europa zu verstehen, aber es ist nicht nur wegen der Sprache ein deutsches Buch. Wer die Struktur der Geisteswissenschaften in den verschiedenen Ländern ein wenig kennt, sieht das sofort. Es ist aus den Motiven und Methoden der deutschen Geistesgeschichte und Philologie erwachsen, und wäre in keiner anderen Tradition denkbar als in der der deutschen RomantikRomantik und HegelsHegel, G. W. F., und es wäre nie geschrieben worden ohne die Einwirkungen, die ich in meiner Jugend in Deutschland erfahren habe.»7

      Wir versuchen, die Linien von Auerbachs Geschichtskonstruktion zu umschreiben, das gestaltende Prinzip zu kennzeichnen, das sich in jedem seiner Aufsätze, in jedem Kapitel der Mimesis auswirkt. Denn die Idee des Ganzen wird gerade durch die Verkettung der einander bedingenden Phänomene sichtbar. Die Schlüsselbegriffe, deren Auerbach sich immer wieder bedient, sind die der StiltrennungStiltrennung und StilmischungStilmischung. Vergleicht man nämlich die verschiedenen Interpretationen, die die Wirklichkeit in der Geschichte gefunden hat, so treten immer schärfere Grundformen heraus, an welche die Literatur in allem Wechsel und in aller Vielgestaltigkeit unlöslich gebunden zu sein scheint. Die antike Theorie von den Höhenlagen des Stils, denen bestimmte Gattungen entsprechen müssen, eine Theorie, für die jeder Klassizismus, im besonderen der französische des 17. JahrhundertsKlassik (französische), eine neue Resonanz schafft, steht in scharfem Gegensatz zu dem mittelalterlichen «RealismusRealismus»,Realismusim MA und diese Antithetik dient dazu, die Eigentümlichkeit beider Wirklichkeitsdarstellungen durch den Kontrast um so deutlicher zu bezeichnen. Im mittelalterlichen Realismus, in den typologischen Anspielungen der Divina Commedia, von denen mehrere Artikel dieses Bandes handeln, werden zeitlich und kausal weit voneinander entfernte Ereignisse miteinander verknüpft. Die typologische Interpretation löst jedes von ihnen aus dem Zusammenhang, in dem es geschah, heraus, und verknüpft sie durch einen beiden gemeinsamen Sinn.

      Alle irdischen Formen der menschlichen Gestalten sind Spiegelungen des Heilsplanes: Cato von UticaCato v. Utica zum Beispiel, der Selbstmörder, der sein Leben für die politische Freiheit gegeben hat und zum Wächter am Fuße des Purgatoriums bestellt ist, präfiguriert die christliche Freiheit. Der irdische Cato, der nicht zur Allegorie wird, sondern wie jede andere Gestalt der Divina Commedia – auch VergilVergil – in seiner geschichtlichen Konkretion erhalten bleibt, war eine figurafigura, eine umbraumbra futurorum, und der im Purgatorio erscheinende ist die Erfüllung jenes figürlichen Vorgangs.

      Sofern aber die figurale Darstellung in der Leidensgeschichte Christi ihre Grundlage hat, wird der höchste Gegenstand in der Sprache der humilitas, im sermo piscatoriussermo piscatorius behandelt und damit die Voraussetzung geschaffen für jene mittelalterliche Stilmischung, in der das Erhabene und das Niedrige ineinanderfließen. Die Divina Commedia ist dafür das große Beispiel. In


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