Mit Märchen zum Glück. Helena Beuchert

Mit Märchen zum Glück - Helena Beuchert


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die Wächter das blasse Wesen, wenn sie ihre Runden drehten, und bekamen Mitleid mit ihm. Sie versorgten es mit dem Nötigsten und setzten sich ein wenig zu ihm hin. So überlebte Pauseline mehr schlecht als recht.

      Inzwischen aber war in der Familie, in die sie hineingeboren wurde, eine große Not ausgebrochen. Die Mutter war ob der unendlichen Arbeit krank geworden. In den Fieberträumen arbeiteten ihre Hände weiter, lasen Kartoffeln auf und rupften Unkraut. Die alte Großmutter pflegte sie und seufzte laut: »Wohin soll das alles führen?«

      Haus und Garten verwahrlosten.

      Die Männer aber bestellten rastlos die Felder, gönnten sich keinen Feierabend und den Äckern keine Brachzeit. Sie säten im Frühjahr als Erste. Doch die jungen Getreidehalme erfroren im launischen Aprilwetter. Eine zweite Aussaat musste folgen.

      Mit dem Pferdewagen fuhren sie nur im Galopp und überholten die anderen Bauern, die ihnen verwundert hinterhersahen. Doch im Spätsommer schlugen die Pferde unvermutet aus, schüttelten prustend die Köpfe und zogen nicht an.

      Der Vater fluchte, knallte mit der Peitsche und rannte ziellos hin und her. Dann spannten sie die Kühe vor den Wagen, um das geerntete Obst heimzufahren.

      Doch ob der ungewohnten Anstrengung blieb bei den Kühen die Milch aus, und die Euter verhärteten sich. Eine Lähmung überfiel den ganzen Hof. Die Hühner hörten auf zu gackern, und die Gänse steckten auch tags ihre Schnäbel in die Flügel. Die Felder lagen ausgelaugt im Herbstnebel.

      Jetzt hielten alle inne und besannen sich auf die kleine Pause, doch sie war nirgends zu finden.

      »Pauseline, wo bist du?«, riefen sie in die dunklen Winkel der Scheune. »Komm, komm, die Suppe ist fertig!«, lockten sie durchs Haus.

      Doch das Mädchen hörte sie nicht.

      Hastig schlangen sie ihr Essen hinunter und gingen zum Dreschen auf den Vorplatz. Der Ertrag war mager – trotz der doppelten Felder. »Mir fehlt unsere Pauseline so sehr«, seufzte die Mutter und setzte sich im Krankenbett auf, als könne sie ihr Kind durchs Fenster herbeisehnen.

      Auch der Vater war betrübt darüber, dass sein Mädchen fortgegangen war. Er wurde immer trauriger und ließ den Kopf hängen.

      Nur die alte Großmutter wusste, was zu tun war. Sie schlang sich zwei bunte Schultertücher um, packte zwei Laibe Brot ein und ging fort. Auf dem Weg hielt sie an jeder Bank Rast, blinzelte in die Sonne und fragte alle, die vorbeikamen, nach ihrer kleinen Enkelin. »Wer unterwegs ist, kennt die Welt! Und wer die Welt kennt, ist auch Pauseline begegnet. Also!« Das beschwörende Gemurmel der Großmutter bekam Recht.

      Eines Tages erzählten ihr fahrende Leute von einem zarten Mädchen, das an der Stadtmauer kauerte und von den Wächtern ernährt wurde. Jetzt war die Alte nicht mehr zu halten. Sie borgte sich ein Pferd und kutschierte in aller Eile zur nahen Stadt.

      War das eine Freude! Die Großmutter umhüllte Pauseline mit ihrem Schultertuch, drückte ihr Brot in die Hand und trug sie in die Kutsche. »Wir haben dich so vermisst, du Liebes! Nie mehr übersehen wir dich, nie mehr!«, stammelte sie ununterbrochen.

      Und so kam es. Vater und Mutter nahmen es zärtlich in ihre Mitte und gönnten sich erquickende Pausen im Tagesablauf.

      Selbst der Großvater ließ sich vom Abendläuten nach Hause locken, setzte sich mit seiner Enkelin auf die Feierabendbank und wünschte den Leuten einen guten Abend.

      Pauseline aber blühte zusehends auf und lockte viele junge Männer herbei, die einen Umweg in Kauf nahmen – nur um ein wenig mit ihr zu plaudern.

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      Über alle Berge

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      Es ist noch gar nicht lange her, da versprachen sich eine Frau und ein Mann aus freien Stücken ewige Treue. Sie wollten gute und schwere Zeiten miteinander durchschreiten bis zum Tod. Ob sie ahnen konnten, was sie erwartete?

      Bisher lebten sie streng behütet in den engen Grenzen ihrer Dörfer. Jetzt stellte sie das Leben mitten in eine Berglandschaft. Diese Gegend war ihnen fremd. Sie fühlten sich frei und bedrängt zugleich.

      »Was wohl dahinter liegt?«, fragte der Mann schon nach kurzer Zeit und deutete auf den Berg vor ihnen.

      »Wir werden es nur erfahren, wenn wir ihn besteigen«, antwortete die Frau lächelnd, und gemeinsam rüsteten sie sich zum Aufstieg.

      Doch es war mühsamer, als sie gedacht hatten, vor allem für die Frau. Der Mann mit seinen langen Beinen schritt stetig voran, während sie hinterherjapste.

      »Erzähl mir was von dir«, bat sie, »dann wird mir der Weg leichter.«

      Doch er schüttelte verwundert den Kopf. »Du musst nur auf deine Füße achten. Schritt für Schritt, Tritt für Tritt. Gar nichts denken wollen. Auf einmal sind wir oben.«

      Diese Antwort machte die Frau traurig. »Wir können uns den Weg doch verschönern. Überhaupt könnten wir uns das Leben leichter machen«, flehte sie leise vor sich hin. Sie wusste nicht, ob er es hörte. Aber sie wusste, er wollte es nicht hören. Ihm genügte es vorwärtszukommen.

      Lange vor ihr erklomm er den Gipfel, ruhte sich aus und schaute in stiller Freude in die Ferne.

      Die Frau kam völlig erschöpft an und konnte die Aussicht kaum genießen. Bald strebten sie wieder hinunter ins Tal, auf ihr gemeinsames Haus zu.

      Schon am gleichen Abend sah sie den Mann am Fenster stehen und den Berg daneben bestaunen.

      »Willst du auch ihn bezwingen?", fragte sie verwirrt.

      Er nickte: »Ich gehe allein. Ich will sehen, wie weit der Blick von oben reicht.«

      Und die Frau musste ihn ziehen lassen, wiewohl ihr nicht danach war.

      Als er zurückkam, leuchteten in seinen Augen all die schneebedeckten Gipfel, die er rundum gesehen hatte. Sie lockten ihn mit einem mächtigen Zauber, und sein Bezwinger-Hunger war noch größer geworden.

      Die Frau blieb weiter zu Hause, denn Kinder stellten sich ein und umspielten sie. Es war eine unendliche Freude, sie wachsen zu sehen und ihr Lernen zu begleiten. Doch der Mann wurde ihr fremd. Erschöpft kehrte er von seinen Bergen zurück und wollte nur umsorgt werden.

      Ob er überhaupt etwas zu erzählen weiß?, dachte sie manchmal. Welche Spuren haben die langen Wege in ihm gezeichnet? Speichert er Bilder in seinem Inneren von diesen majestätischen Rundblicken? Schöpft er daraus seine Kraft?

      Manchmal klang von einem Berg herunter ein fröhliches »Haaallo«, und ein vielfaches Echo antwortete. Doch ihren Namen rief er nie. Sie hätte ihn gern aus seinem Mund gehört und ihn im Herzen widerhallen lassen. Weit weg war er, so weit.

      Wenn der Bach im Tal nicht gewesen wäre, sie wäre verdurstet. Doch an ihm wanderte sie entlang hin zur Quelle. Dort lauschte sie dem munteren Plätschern, bis sie angefüllt war mit neuer Energie. An den Bachrändern pflanzte sie Weidenbüsche. Um das Haus legte sie einen großen Garten an. Tag für Tag bereitete sie Mahlzeiten zu und freute sich daran, wie ihre gemeinsamen Kinder sich energievoll dem Leben entgegenstreckten.

      Auch Freunde stellten sich ein und blieben gerne. An die Quelle stellte sie eine Ruhebank. Dort erwartete sie seine Rückkehr. Sobald sie ihn winkend beim Abstieg sah, eilte sie nach Hause, um ihn mit einem kräftigenden Mahl zu empfangen.

      In der Welt war der Mann sehr angesehen. Die Menschen nannten ihn Bergbezwinger und bewunderten seine Ausdauer und sein Können. Er genoss seinen Ruf, aber er heftete ihn nicht ans Revers.

      Eines Tages fasste sich die Frau ein Herz und fragte ihn geradeheraus: »Kannst du mir sagen, warum dich ein Aufstieg lockt, auch wenn er noch so kraftraubend ist? Warum willst du jeden Berg erklimmen, der sich vor dir auftürmt?«

      »Es liegt in der Natur der Sache«,


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