Das Dorf des Willkommens. Mimmo Lucano
der Heiligenstatuen zu haschen, die Luft ist erfüllt von Gebetslitaneien und Gesängen, vom Klang der Tamburine und Akkordeons, von immer wieder aufbrandendem Applaus und von den Fürbitten der Gläubigen. So wird dieses Fest zu einer einzigartigen Gelegenheit, die Völker im Glauben zu versöhnen. Am letzten Tag dann, dem 27. September, nimmt die Prozession den umgekehrten Verlauf, und das Fest geht mit einem Feuerwerk zu Ende. Die Heiligen kehren zu ihrem Platz in der Kirche zurück, und auch die Roma und Sinti reisen wieder nach Hause.
Als Kind konnte ich mitverfolgen, wie sie gerührt und dankbar Abschied von meiner Mutter nahmen, als sie mein Elternhaus verließen. Später dann, als ich Bürgermeister war, waren es die neuen Bewohner Riaces, die aus Afrika oder Asien gekommen waren, die ihnen ihre Häuser öffneten. Ich bin kein gläubiger Mensch, aber von meiner Mutter habe ich gelernt, dass sich vor allem in den »Letzten«, in den Armen, in denen, die man als »Gesindel« beschimpft, etwas verbergen kann, das groß ist, ja gewaltig. Gott kann dir auch in einem bettelarmen Reisenden begegnen.
Im September 2019 hat Antonio Trifoli,12 mein Nachfolger im Bürgermeisteramt, das Schild entfernen lassen, das ich einst auf dem Platz am Dorfeingang anbringen ließ, um Besucher zu begrüßen: »Riace – Dorf des Willkommens«. Er hat es durch ein anderes ersetzt, auf dem Riace sich als »Dorf der heiligen Ärzte und Märtyrer Cosmas und Damian« ausweist. Er hat wohl bei dieser symbolischen Geste nicht bedacht, dass unsere Schutzpatrone ja für genau dasselbe stehen wie die Willkommenskultur, auf die mein Schild verwiesen hatte.
Nicht lange darauf beschloss Trifoli, ein weiteres Schild aus meiner Amtszeit entfernen zu lassen, nämlich das, das Peppino Impastato13 zeigte. Wie kaum ein anderer steht Peppino für den Kampf gegen die Mafia und das organisierte Verbrechen, und er ist eine Ikone für das Recht des Südens auf Selbstbestimmung. Als junger Mann hat er sich seiner eigenen Familie widersetzt, weil sein Vater der Mafia nahestand, in einer schwierigen Umgebung wie Cinisi, einem berüchtigten Mafiadorf in der Provinz Palermo. 1978 wurde er im Alter von nur 40 Jahren durch ein Bombenattentat ermordet.
Viele haben mich nach meiner Meinung gefragt, als die Nachricht von dieser weiteren »Heldentat« meines Nachfolgers in den Zeitungen stand. Ich fand jedoch, dass sich jeder Kommentar darauf erübrigte.
CAPITOLO 3
Zwei Robertos
Roberto Lucano senior († Januar 2020) vor einem Wandbild in Riace
Auf dem Hauptplatz von Riace Superiore hatte man eine kleine Bühne aufgestellt. Das ist der Vorplatz, der alle in Empfang nimmt, die vom Meer herauf ins alte Dorf kommen, und auf ihn schaut auch das Rathaus hinaus, in dem ich schon seit zehn Jahren als Bürgermeister regierte. Es war das Jahr 2014, und die Wahlkampagne für mein drittes Mandat neigte sich dem Ende zu. Im Publikum befanden sich viele Freunde, und auch ein paar Journalisten und Unterstützer, die von außerhalb kamen, aus Rom, Catanzaro, Reggio Calabria, Palermo.
Wir würden die Wahl gewinnen, aber das wussten wir noch nicht. Ich war überrascht über die Welle der Sympathie, die mir entgegenschlug, jedenfalls bis ich das Gesicht meines Sohnes in der Menge entdeckte. Es erstaunte mich, ihn zu sehen, denn Roberto kam normalerweise nicht zu meinen Wahlkundgebungen, auch weil solche Kundgebungen für viele junge Menschen wie ihn inzwischen eine »altmodische« Art waren, Politik zu machen. Doch der Hauptgrund, warum er nicht kam, war ein anderer: Mein Sohn ist ganz einfach anderer Meinung als ich. Er war nicht da, um mich zu unterstützen, sondern um mich anzugreifen.
Roberto hat einen starken, unabhängigen Charakter. Ich habe ihm immer geraten, mit seinem eigenen Kopf zu denken, und ihn ganz sicher nie gezwungen, meine Überzeugungen zu teilen. Meinen drei Kindern habe ich oft gesagt: Es stimmt, wir sind eine schwierige Familie, aber wir müssen ehrlich zueinander sein. Immer. Die Generation meiner Kinder weiß – wie im Übrigen auch die meine schon –, dass ihre Heimat im Begriff ist auszubluten. Für die Jüngeren spielt sich die Zukunft anderswo ab. Auch mein Sohn ist sich dessen bewusst und hat mir gegenüber nie einen Hehl daraus gemacht.
Damals bei der Wahlkundgebung waren Carabinieri in meiner Nähe. Roberto stand vor der kleinen Bühne, es war früher Abend, und wollte wissen, ob er Fragen stellen könne. Der Carabiniere, der mir am nächsten stand, sah mich verblüfft an und fragte: »Was sollen wir tun? Das ist doch eine Kundgebung, keine Debatte.« Ich aber war neugierig, was mein Sohn mir zu sagen hatte, und ließ zu, dass der Carabiniere ihn auf die Bühne holte.
Es war eine unangenehme Situation, denn ich wusste nicht, was ich zu erwarten hatte.
»Ich möchte dir eine Frage stellen, und zwar nicht als Sohn dem Vater, sondern als Bürger dem Bürgermeister.«
Im Publikum wurde getuschelt und gekichert, doch nun verstummten die Leute.
»Geht in Ordnung«, antwortete ich.
»Nach welchen Kriterien werden eigentlich die Leute ausgewählt, die in der Flüchtlingsaufnahme arbeiten?«
Wieder erhob sich aufgeregtes Gemurmel. Zum damaligen Zeitpunkt waren in Riace von 1600 Einwohnern etwa 100 Menschen in der Aufnahme und Integration von Geflüchteten beschäftigt, davon 80 Italiener und 20 Ausländer, Letztere vor allem als Sprach- und Kulturvermittler. Dank der CAS- und SPRAR-Projekte, die in Zusammenarbeit mit dem Innenministerium und der Präfektur errichtet worden waren, konnten diese Menschen, die zum Teil aus Riace direkt und zum Teil aus der Umgebung kamen, die inzwischen wichtigste »Branche« im Dorf mit Leben füllen. Es war die einzige Arbeit, die noch eine Zukunft hatte, denn Landwirtschaft war in der Provinz Locride kaum mehr vorhanden, auch die Viehzucht stand kurz vor dem Ende, und Fabriken hatte es praktisch nie gegeben. Wenig erstaunlich also, dass es keine Arbeit gab. Es war fast so etwas wie ein Wunder, dass wir durch die Konzentration auf den Nonprofit-Sektor, Leistungen im Dienst der Menschlichkeit, relativ viele Arbeitsplätze geschaffen hatten.
Ich antwortete Roberto: »Es ist jedenfalls nicht der Bürgermeister, der die Leute auswählt, sondern das übernehmen die Wohlfahrtsverbände, denen die Gemeinde die Abwicklung solcher Dienstleistungen anvertraut. Sie kümmern sich dann um die Stellenausschreibungen.«
Er gab zurück: »Das ist eine diplomatische Antwort, denn in Wirklichkeit hängen diese Stellen ja doch von der Gemeinde ab.«
Ich wollte verhindern, dass man sich später über diese Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn die Mäuler zerriss, daher adressierte ich meine Antwort auch an das Publikum. Ich erklärte, dass der Bürgermeister natürlich in der Verantwortung steht und dafür zu sorgen hat, dass Arbeitsplätze für junge Menschen geschaffen werden, dass das Dorf nicht einfach von der Landkarte verschwindet, dass auf den Plätzen weiterhin Leben herrscht, dass die Rollläden der Geschäfte nicht für immer heruntergelassen werden.
Die Replik meines Sohnes war kurz und bündig, und sie brachte mich völlig aus dem Konzept: »Ich weiß sowieso, dass meine Zukunft woanders ist. Ich fordere alle hier Anwesenden auf, einen leeren Stimmzettel abzugeben.«
Damit stieg er von der Bühne und mischte sich unter die Menge, wobei ihm einige seiner auf dem Platz anwesenden Freunde verhalten Beifall klatschten. Dies war der Moment, in dem die Bewegung entstand, die fortan für »Stimmenthaltung für Riace« werben würde. Ich stand auf dieser Bühne und kämpfte dafür, dass eine neue Erfahrung weiter wachsen, ein Traum sich weiter entfalten konnte, und mein eigener Sohn stellte sich gegen mich und forderte die Gemeinde auf, ungültig zu wählen – eines der größten Protestsignale, die es in einer Demokratie gibt.
Als ich an jenem Abend nach Hause kam, war ich zermürbt und verbittert. Die Bilder von der Piazza gingen mir nicht aus dem Kopf, und Robertos Worte hallten noch in mir nach. In seiner Stimme hatten Wut und Trauer gelegen, sicherlich Ausdruck seiner Enttäuschung über unsere gespaltene Familie, aber vielleicht auch der Verzweiflung einer ganzen Generation über ihr auswegloses Schicksal.