Habt ihr Kummer oder Sorgen …. Urte Blankenstein

Habt ihr Kummer oder Sorgen … - Urte Blankenstein


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sich selbst retten, wurde dann aber vom Heimleiter tüchtig versohlt. Heute denke ich dabei an die Reaktion einer jeden Mutter, wenn sich ihr Kind auf der Straße von der Hand reißt und Richtung Fahrdamm läuft.

      Es gab dort in Elbenau auch ein Krankenzimmer, sicher waren wir alle mal dort drin. Es befand sich oben unterm Dach, und als Elke mal dort einquartiert war, gab es zum Mittagessen Eintopf mit undefinierbaren und wahrscheinlich auch ungenießbaren Fleischklößchen. Der Teller musste unbedingt leer gegessen werden, sonst gab es Ärger. Also runter mit der Suppe, aber wohin mit den scheußlichen harten Klopsen? Schnell öffnete sie die Dachluke einen Spaltweit, und die Dinger kullerten ganz fix in die Dachrinne. So hinterließen sie auch keine Spuren. Das sprach sich unter den Kindern natürlich herum, und immer, wenn es regnete, hatten wir Angst, dass die dort entsorgten Dinge ans Tageslicht gespült würden. Als ich krank war, gab es keine Klopse.

      In diesem Heim waren auch zwei Kinder einer Studienkollegin unserer Mutti untergebracht: Eckhard und Almut. Eckhard, genannt Akki, wurde mein Freund. Wir waren gleichaltrig und liefen Hand in Hand, wann immer sich die Gelegenheit ergab. Jetzt war er mein Beschützer, Elke war abgemeldet.

      Auf dem Balkon – Elke hinten links, ich vorn rechts

      (neben mir vermutlich Almut)

      Ein ganz besonderes Ereignis waren gelegentliche Kinobesuche in Schönebeck. Dazu mussten wir durch einen Wald laufen oder neben dem Wald her am Feld entlang gehen.

      Der Wald war hochinteressant für uns. Es lagen Stahlhelme, Munitionsreste und Panzerteile darin, eben lauter Kriegsüberbleibsel. Heimlich sammelten wir diese »Schätze« auf. Natürlich war uns das streng verboten. Deshalb sollten wir auch immer den Feldweg nach Schönebeck nehmen.

      Irgendwann ging das Gerücht um, in diesem Wald halte sich ein Mörder versteckt. Vielleicht war dem tatsächlich so, möglicherweise aber war das Ganze auch von den Erzieherinnen erdacht und verbreitet worden, um uns wirklich vom Wald fernzuhalten.

      Einen Rückweg vom Kinobesuch werde ich nie vergessen: Wir kamen aus Schönebeck und wanderten in Gruppen den Feldweg entlang nach Hause, ins Heim. Plötzlich schrie ein Kind ganz laut: »Der Mörder!« – und zeigte wild gestikulierend in den Wald. Ich sah dort niemanden, aber alle rannten schreiend und wie verrückt los. Ich lief neben meiner Schwester Elke, die aufgrund ihres gelähmten Beins nicht so schnell laufen konnte. Bald waren alle Kinder verschwunden. Elke und ich liefen, so schnell sie konnte.

      Ich litt Todesangst, wollte aber unter allen Umständen bei Elke bleiben. Verzweifelt schickte ich ein Gebet zum Himmel: »Lieber Gott, lass Akki kommen!«

      Da hörte ich hinter uns ein mir bestens vertrautes Stimmchen rufen: »Urte!«

      Es war Akki. Er war seiner Gruppe vorausgelaufen, weil er mich in der vorherigen wusste. Fortan glaubte ich an den weißbärtigen, alten Mann im Himmel.

      Neben dem lieben Gott gab es noch einen Mann, den ich nie gesehen hatte, den ich aber toll fand. Er hatte nämlich am 21. Dezember Geburtstag – genau wie ich! Es war Josef Wissarionowitsch Stalin, natürlich ein »Russe«! Sein Lieblingslied »Suliko« gefiel mir so sehr. Suliko ist ein georgischer Vorname, und der Text des Liedes beginnt mit der Zeile: »Sucht ich, ach, das Grab meiner Liebsten …« Ich liebte dieses Lied, und weil der Mann mit diesem komischen Namen dieses Lied auch mochte, war er mein Freund.

      Eines Tages fand eine große Feier statt. Stalins Bild stand im Essensaal, drum herum unzählige Blumen, jemand hielt eine Rede. Stalin war gestorben, ich weinte bitterlich. Ich glaube, ich war die Einzige, die das tat. Von nun an war ich ganz allein mit diesem 21.-Dezember-Geburtstag. Es reichte doch schon, dass ich mit meinem Namen so allein dastand. Kein anderes Kind hieß Urte, einfach doof! Ute war ein »richtiger« Name, aber Urte? Wenn mich jemand nach meinem Namen fragte, nannte ich stolz meinen nicht so seltenen zweiten Namen dazu: »Urte Grabbiele.« Gabriele war zu kompliziert.

      Geliebt habe ich mein Poesiealbum. »Poeeeesi«, sagten wir dazu, und auch der Heimleiter hatte sich in dem meinen verewigt.

      Die Zwergschule hatte nur drei Klassen. Da Elke aber am Schuljahresende in die 4. Klasse kam, zogen wir beide um. Wir kamen in das Martin-Schwantes-Heim nach Salzelmen, ebenfalls ein Ortsteil von Schönebeck. Das war ein reines Mädchenheim. Es wohnten dort Waisenkinder, Findelkinder, aber auch solche wie wir – Kinder von alleinerziehenden Müttern, die gerade studierten oder im Schichtdienst arbeiteten.

      Ansicht von Bad Salzelmen (Foto: picture alliance / arkivi)

      Immer wenn ich irgendwo erzähle, dass ich mehrere Jahre im Kinderheim gewesen bin, werde ich bedauert, weil das ja nach allgemeiner Auffassung eine schreckliche Zeit gewesen sein muss. Jahre voller Missbrauch und Gewalt. Gelegentlich werde ich dann bewundert, dass ich nicht kriminell geworden bin.

      Ganz im Gegenteil. Meine Zeit im Martin-Schwantes-Heim war wirklich schön. Ich empfand das Ganze als eine Art Ferienlager. Vor allem hatte diese Phase einen ganz entscheidenden Einfluss auf meine musische Entwicklung. Nicht nur mir ging es so. Der Dirigent Günter Krause, den ich bei der Sendung »Von Polka bis Parademarsch« kennenlernte, erzählte mir, dass er in einem Kinderheim in Thüringen aufgewachsen war. Auch er hatte dieses »Ferienlager-Gefühl«, und es wurde ihm dort ermöglicht, ein Instrument zu erlernen, um später ein Musikstudium zu ergreifen. Wir erlebten ein besorgtes Behütetsein im Kinderheim!

      Eine Gruppe von Kindern im Hof des Kinderheims Martin Schwantes, mit der Leiterin Frau Heuer. Elke und ich sind nicht dabei.

      Frau Heuer war eine ganz besondere Heimleiterin. Meine Erinnerung an sie ist bleibend. Sie war nicht nur Chefin und Erzieherin, sondern vor allem bemüht, allen ihr anvertrauten Kindern musikalische Bildung zu vermitteln. Sie hatte das nie studiert, aber sie verfügte über ein großes musikalisches Wissen und konnte dieses auch weitergeben. Ich erinnere mich, dass wir irgendwann bei einer Chorprobe von einigen fremden Männern kritisch beobachtet wurden. Das war die praktische Prüfung für Frau Heuer, sie hatte gerade im Fernstudium ihren Abschluss als Chorleiterin bestanden!

      Sehr gut entsinne ich mich an unsere erste Nacht im Martin-Schwantes-Heim. Elke und ich wohnten in verschiedenen Zimmern und ich musste – wie immer – aufs Klo. Ich wusste aber nicht mehr, wo das Klo war, und hatte Angst in diesem fremden Haus. Das Ende vom Lied: Ich machte ins Bett. Am nächsten Morgen erzählte ich das sofort Elke. Sie durfte im Zimmer bleiben und musste nicht mit auf den Hof zum Frühsport. Also deckte sie schnell das nasse Laken einfach ordentlich mit der Bettdecke zu, niemand merkte etwas und abends war alles wieder trocken.

      Immerhin wusste ich, wo das Zimmer lag, in dem Elke schlief. Also ging ich in der folgenden Nacht meine Schwester wecken: »Ich muuuusssss!« Elke brachte mich aufs Klo. Ich war schon sehr froh, eine große Schwester zu haben.

      An dieses Heim habe ich die buntesten Erinnerungen. Wir gingen in die ganz normale Schule des Ortes, und es dauerte gar nicht lang, bis ich wieder einen Freund fand. Einen aus der Stadt, der in die Parallelklasse ging. Wir hüteten zusammen Ziegen. Manfred Lachetta saß mit mir auf der Wiese und erzählte aus seinem achtjährigen Leben. Warum weiß ich seinen Namen noch? Seine Erzählungen müssen mich offenbar mächtig beeindruckt haben.

      Und wieso hüteten wir Ziegen? Unser Heim hielt auf dem Hof allerhand Getier. Für die Hühner sammelten wir Maikäfer, die Schweine bekamen die Essenreste und die Ziegen wurden gehütet und gemolken. Anfang der fünfziger Jahre lief das mit der Verpflegung eben noch nicht so rosig bei uns. Da war diese Idee eines kleinen Bauernhofs schon ideal.

      Die Hühner legten Eier, und manchmal schlüpften kleine Küken. Die waren so süß, dass wir sie heimlich mit aufs Zimmer nahmen. Das tat diesen kleinen Federbällchen leider gar nicht gut. Nur Liebe, das reichte nicht. Schließlich kam alles heraus. Es folgte Schelte, dann eine große Beerdigungsfeier und wir schworen uns: »Das machen wir ­niiieee wieder!«

      Montags gab es


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