Reportagen 1+2. Niklaus Meienberg
leben
hoch – hoch – hoch.
PS: Nach dieser am 6. Oktober abends im Empire-Festsaal des sog. Äusseren Standes in Bern gehaltenen Rede soll von seiten des SJU-Publikums allerhand Unmut laut geworden und darauf hingewiesen worden sein, dass die Betriebsgruppe des «Tages-Anzeigers» noch nie eine Streikdrohung formuliert habe und deshalb auch nie ein Editorial zugunsten der Armeeabschaffung erschienen sei, in Wirklichkeit. Und obwohl es zutreffe, dass Henry Hächler die ehemalige Kantine zu seinem Naherholungsgebiet umgebaut habe, sei dagegen nicht protestiert worden. (Keine Sauna-Benützung durch SJU-Mitglieder.) Auch sei nach der Entlassung des Kollegen Roland Kreuzer kein effizienter Druck auf die Geschäftsleitung ausgeübt und Kreuzer nicht wieder angestellt worden, in Wirklichkeit, und Rosemarie Waldner keineswegs in die Chefredaktion aufgenommen worden (statt dessen beschloss die Generalversammlung der SJU am Nachmittag des 6. Okt. die Schaffung einer Stelle für Frauenfragen; wenn der Arbeitgeber nicht zahlt, muss die Gewerkschaft zahlen). Das dümmlich-reisserische Schawinski-Heftchen «Bonus 24» werde, in Wirklichkeit, dem «Tages-Anzeiger» einmal pro Monat beigelegt, bei der NZZ wäre man nie auf dieses Niveau heruntergegangen, und die vom Verleger eingebrockte Kolumne des Schawinski habe auch nicht verhindert werden können, ebensowenig die Einsetzung des Herrn Heu samt Sparmassnahmen. Angesichts dieser Gravamina müsse jedoch in Anschlag gebracht werden, dass der «Verband des Personals der öffentlichen Dienste», also jene Dach-Gewerkschaft, der die SJU angeschlossen sei, eine etwaige kämpferische oder gar aufmüpfische Haltung der SJU keineswegs zu decken, geschweige denn zu ermuntern gesonnen sei und also die SJU, falls sie denn heftig aufzutreten gewillt wäre, auf keinerlei Unterstützung des grossen Bruders würde zählen können. Auf die Frage, warum man diesenfalls, als Linker, die beträchtlichen Mitgliederbeiträge der SJU nichtsdestotrotz zu entrichten bereit sei, wenn doch, in allen kapitalen Machtfragen, die Gewerkschaft den Schwanz einzuziehen sich bemüssigt fühle und nicht einmal der Inhalt der Zeitung, geschweige denn der Gang der Geschäfte auch nur im entferntesten beeinflusst werden könne, soll keine zufriedenstellende Antwort erteilt worden sein, obwohl doch immerhin, so wurde gesagt, ein psychologischer Gewinst insofern erzielt werden könne, als die vielen Sitzungen, ausserhalb der Geschäftszeit, ein Gefühl der Nähe zwischen den SJU-Mitgliedern durchaus begünstigen. Übrigens müsse auch berücksichtigt werden, dass man, als «Tages-Anzeiger»-Angestellter, so viele materielle Vorteile geniesse und soviel intellektuellen Komfort wie sonst selten irgendwo und selbstredend niemand seine handfesten Privilegien zugunsten etwa einer vermutlich doch nicht erfolgreich verlaufen könnenden Machtprobe mit der seltsamen, in völlig unjournalistischen Kategorien denkenden Geschäftsleitung aufs Spiel zu setzen gewillt sei.
Der Unmut des Publikums richtete sich des weiteren gegen die, wie man behauptete, «Tages-Anzeiger»-Fixation des Festredners, der, wie verlautete, sich immer wieder zwanghaft-psychotisch an dieser Firma vergreifen müsse, worauf der Redner erwidert haben soll: Der «Tages-Anzeiger» bedeutet für ihn schon seit geraumer Zeit kein psychisches oder gar materielles Problem mehr, seelisch sei er jetzt in andern Nöten, sintemalen er von allen Seiten, auch aus dem deutschsprachigen Ausland, mit zahlreichen, kaum mehr zu bewältigenden Aufträgen von intellektuellster Seite eingedeckt oder zugedeckt sei, wohingegen das sozusagen objektive Machtproblem der SJU, die nur in einem einzigen grossen Betrieb, nämlich eben im «Tages-Anzeiger», über eine gewissermassen beherrschende Stellung verfüge, nach wie vor zu bestehen scheine; und ob er denn vielleicht die Problematik des gewerkschaftlichen Einflusses am Beispiel der NZZ, oder des «Wiler Tagblatts», oder des «Wynentaler Boten», hätte aufscheinen lassen sollen!
Mut zur Feigheit
Ein offener Brief an Salman Rushdie
Sehr geehrter, sehr begehrter, lieber Salman Rushdie,
fünf Jahre lang haben Sie an den «Satanischen Versen» geschrieben, etwa so lang wie Flaubert an seiner «Madame Bovary», sind also fünf Jahre lang in Klausur gegangen, weil Literatur nur in der Abgeschiedenheit entstehen kann (hin und wieder von ein paar Exzessen, Reisen, Freundschafts- und Liebesbezeugungen unterbrochen). Eine Tortur und eine Lust, Aufschwünge und Stockungen, diszipliniertes Phantasieren, phantastische Disziplin, die Verdichtung Ihrer Erfahrungen: Geschichte des indischen Films, Emigrationsgeschichte eines muslimischen Inders, von Bombay nach London und zurück, Traumsequenzen, die Chemiekatastrophe von Bhopal, Flugzeugentführung, der neu und frei interpretierte Koran als Fremdenführer im Labyrinth Ihrer kontrolliert wuchernden Erzählkunst (etwas allzu frei und neu, protestierten die Fundamentalisten), Humor und böser Realismus – ein von orientalischer Vitalität und Gescheitheit strotzender Schmöker.
Wie schmeckt zum Beispiel England dem aus Bombay eingetroffenen, frisch ins Internat gesteckten Salahuddin Chamchawala?
So: «Eines Tages kurz nach seinem Schuleintritt kam er zum Frühstück herunter und fand einen Hering auf seinem Teller. Er sass da, starrte ihn an und wusste nicht, wo anfangen. Dann schnitt er hinein und hatte den Mund voller winziger Gräten. Und nachdem er sie alle herausgezogen hatte, den nächsten Bissen, mehr Gräten. Seine Mitschüler sahen schweigend zu, wie er litt; nicht einer von ihnen sagte, schau, ich zeige es dir, du musst ihn so essen. Er brauchte neunzig Minuten für den Fisch, und er durfte nicht vom Tisch aufstehen, bevor er fertig war. Mittlerweile zitterte er und hätte weinen können, hätte er es jetzt getan. Dann kam ihm der Gedanke, er habe eine wichtige Lektion gelernt, England war ein seltsam schmeckender, geräucherter Fisch voller Dornen und Gräten, und niemand würde ihm je sagen, wie man ihn ass. Er merkte, dass er ein sturer Mensch war. ‹Ich werd's ihnen zeigen›, schwor er sich. ‹Wir werden ja sehen.› Der aufgegessene Hering war sein erster Sieg, der erste Schritt bei seiner Eroberung Englands.
Wilhelm der Eroberer, so sagt man, ass als erstes einen Mundvoll englischen Sand.»
Nun ist bekanntlich dieses Buch mit all seinen Leckerbissen und Gräten einigen Religionsvorstehern in den falschen Hals geraten, und seit drei Jahren leben Sie deshalb in unfreiwilliger Klausur. Ist sie dem Schreiben förderlich? Fünf Millionen Dollar kann jeder gläubige Muslim verdienen, der Sie umbringt: tut's ein ungläubiger Profi-Killer, bekommt er immerhin noch eine Million. Stirbt der gläubige Attentäter beim Mord, weil Ihre Leibwachen zurückschiessen, so ist ihm das Paradies sicher, während die Zukunft des ungläubigen Mörders von den Imams nicht detailliert vorausgesagt werden kann. Dem Todesurteil, 1989 von Ayatollah Khomeini verhängt und neuerdings von schiitischen Religionsvorstehern wieder bestätigt, hätten Sie nur durch Abschwören (im Stil von Galilei) und das Versprechen, die «Satanischen Verse» aus dem Markt zurückzuziehen, entgehen können. Dazu konnten Sie sich nicht entschliessen und leben nun also schon drei Jahre lang in einem Hochsicherheitstrakt, unter Aufsicht von Leibwächtern, die Ihnen Maggie Thatcher zur Verfügung stellen musste, vermutlich zähneknirschend, weil sie in Ihrem Roman als Schmelzende-Wachspuppe-auf-dem-elektrischen-Stuhl verspottet wurde; und bedroht von pakistanischen Muslims, die Ihnen sympathisch sind, wie alle underdogs. (Sie haben oft gegen den englischen Rassismus angeschrieben.)
Wie lebt so einer wie Sie? Ab und zu ein unangekündigter Blitzbesuch in der Öffentlichkeit, dann sofort wieder ins Versteck. Die Aussicht, eingesperrt zu bleiben auf Lebenszeit oder Ihr Buch zu verleugnen oder als Zielscheibe herumzulaufen. Als Held des freien Wortes und Inkarnation der Aufklärung verehrt von fast allen westlichen Schriftstellerkollegen, die vor einem andern kulturellen Hintergrund schreiben, und verabscheut von Millionen, die in Ihrer angestammten Welt verwurzelt sind. Und vor allem: Wie lebt man als Schriftsteller, wenn für die Kritik nicht mehr der literarische Gehalt eines Buches zählt, sondern nur noch der Skandaleffekt? Das ist tödlich, da kann man sich nicht entwickeln, auch wenn die Auflage steigt und Sie unterdessen reich geworden sind; schätzungsweise 6 Millionen wurden von der englischen Ausgabe verkauft, die Übersetzungen laufen auch nicht schlecht.
Was macht man in Ihrer Situation mit dem Reichtum? Die einen begehren Ihre Bücher, die andern Ihren Tod.
Sie fragen sich vermutlich wie Ihre Romanfigur Gibril, ob Sie jetzt träumen oder wachen, ob Ihre Realität eine Vision ist oder handgreiflich, und vermutlich würden Sie vorübergehend gern mutieren wie Saladin, auch eine Romanfigur, der sich in einen Ziegenbock verwandelt, bevor er wieder Menschengestalt annimmt. Jede Form wäre Ihnen vielleicht jetzt lieber als Ihre eigene, jede neue Identität besser als die gegenwärtige.