Es ist kalt in Brandenburg. Niklaus Meienberg
besorgte sich dort eine Art von Traveller Checks, Reisekreditbrief nannte man es damals, im Werte von Reichsmark 555.–, und fuhr darauf nach Baden-Baden, wo er gegen vierzehn Uhr eintraf. In dieser Stadt hatte er Verwandtschaft, nämlich eine Grosstante, die Karoline Gutterer, geb. Nofaier. Zwischen den Bavauds in Neuchâtel und den Gutterers in Baden-Baden hatte zwar schon jahrelang kein Kontakt mehr bestanden, aber in der Not erinnert man sich der entferntesten Verwandten. Maurice kannte sonst in Deutschland keine Seele.
Warum sich nicht ein wenig akklimatisieren beim deutschen Zweig der eigenen Familie, bevor man weiter in das unbekannte Land eindringt?
Die Gutterers waren kleine Leute wie die Bavauds, Peter Gutterer figurierte in den Akten als Werkmeister, nach Feierabend war er Hauswart. Aber der Sohn Leopold, in den sie ihre Hoffnung setzten, hat es weit gebracht. Er war
nach einem nicht abgeschlossenen Hochschulstudium, das unter anderem der Theaterwissenschaft galt, bereits 1925 der NSDAP beigetreten, fand dort eine hauptamtliche Stellung und wurde 1930 zum Gaupropagandaleiter in Hannover ernannt. Das «goldene Parteiabzeichen» wie das erhebliche Vorstrafenregister wegen in der Weimarer Republik begangener politischer Vergehen, das seine Personalakte «zierte», gereichten ihm ebenso zum Vorteil wie die hinlänglich bewiesene Fähigkeit, Massenaufmärsche wirkungsvoll arrangieren und inszenieren zu können. Schon 1937 wurde er zum Ministerialrat befördert, um im Jahr darauf mit der Leitung der Propagandaabteilung betraut zu werden, die vor dem Kriege als das wohl wichtigste Ressort des Ministeriums angesehen wurde. Am 20. April 1938 folgte die Ernennung zum Ministerialdirektor. (Willi A. Boelcke, Kriegspropaganda 1939–41)
1941 ist er sogar Staatssekretär im Propagandaministerium geworden, am 16. Mai, zwei Tage nachdem sein Verwandter hingerichtet worden war. Doch 1944 stürzte er wieder in die Anonymität ab. Einer, der noch tüchtiger war im Gebrauch der Ellenbogen, verdrängte ihn, Gutterer wurde 1944 als Unteroffizier zu den Panzerjägern einberufen, obwohl er mit dem Titel eines SS-Brigadeführers dekoriert gewesen war.
Er lebt immer noch.
Ein amerikanischer Historiker, Gay W. Baird von der Miami University, hat ihn kürzlich besucht. Gutterer habe ganz offen gesprochen, einen Nachmittag lang. Gegen Ende des Interviews sei bei ihm die Emotion durchgebrochen, er habe sogar einige Tränen vergossen und «vom grossen Idealismus jener Tage, der unterdessen zerstört worden sei», erzählt. «This to me was curious, coming from an SS general», schreibt der Historiker in seinem Brief an Villi Hermann (22. 8. 1978).
In derselben Verwandtschaft einer, der H. umbringen will, und ein anderer, der sich vor Eifer fast umbringt, um die Pläne von H. zu verwirklichen. Der grosse Idealismus jener Tage hat Spuren hinterlassen im Protokoll der Ministerkonferenzen des Reichspropagandaministeriums.
6. November 1939. Herr Gutterer soll Erkundigungen über die Brotzuteilung an Strafgefangene und Zuchthäusler einziehen, da diese nach Berichten angeblich gegenüber den Arbeitern bevorzugt behandelt werden.
(Damals sass Bavaud im Gefängnis Moabit, Untersuchungshaft.)
8. November 1939. Herr Gutterer soll Material über die Verjudung der britischen Presse, der Bankwelt und der Regierungskreise zusammentragen lassen.
Unter dem Motto «Es soll nicht jeder alles das kaufen, was ihm zusteht» soll in Rundfunk und Presse die Kauflust angegangen werden. Herr Gutterer erhält den Auftrag, sich für eine Sendung einzusetzen, die, zweimal wöchentlich unter dem Kennwort «Die deutsche Hausfrau spricht» gesendet, diese Fragen in Zwiegesprächsform behandeln soll.
20. November 1939. Gutterer wird beauftragt, sich um die Beseitigung des Zigeunerwesens zu kümmern.
19. Mai 1940. Der Minister beauftragt Herrn Gutterer, bei Stapo und Sicherheitsdienst darauf zu dringen, dass in den neu besetzten Gebieten, vor allem in Holland, sofort Jagd auf deutsche Emigranten gemacht wird.
25. Mai 1940. Herr Gutterer soll zusammen mit Herrn Raskin ein Tagebuch eines englischen Gefangenen herstellen lassen, in dem Erlebnisse pornographischer Art aus Paris geschildert werden. Dieses Tagebuch soll dann über Frankreich abgeworfen und eventuell auch durch den Geheimsender ausgenutzt werden.
(Protokoll der Geheimen Ministerkonferenzen im Reichspropagandaministerium, Stuttgart 1966)
Herr Gutterer kümmerte sich auch um Details, am 26. Mai schlug er vor, dass in den Kinos während der Wochenschauen die Türen geschlossen bleiben. Am 3. Juni wurde er beauftragt, am Wannsee alle englischen Grammophon-Platten zuzüglich Grammophon-Apparaten beschlagnahmen zu lassen und ihre Besitzer, wenn sie nicht «unabkömmlich» seien, in Arbeitskolonnen zu beschäftigen (das wird ihnen die Liebe zur deutschen Musik beibringen). Am 20. Juli sollte er sich darum bemühen, aus Italien weitere grosse Pfirsichmengen für Berlin aufzukaufen, da die erste Sendung zum Preis von 36–40 Pfennig das Pfund recht guten Absatz gefunden hatte. Es sollte aber dafür gesorgt werden, dass die Pfirsiche nicht in überreifem Zustand nach Deutschland kamen. Am 5. März 1941 wurde er vom Minister beauftragt, für die Juden in Berlin – «die wir augenblicklich nicht herausbringen können, weil sie als Arbeitskräfte unentbehrlich sind» – ein Abzeichen zu schaffen.
Etc., etc., treu und fleissig, Pornographie und Pfirsiche, Emigrantenhatz und Wochenschau, Judenabzeichen und Hausfrauenbetreuung. Und immer Acht geben auf das Räuspern des Ministers, und keine Emotion zeigen, und die Sprache der Obern umsetzen für die Ohren des Volkes. Amtlich und korrekt. Kein Bluthund, nur ein Entwerfer von Reglementen, Weisungen, Richtlinien. Er hätte keiner Fliege etwas zuleide tun können, auch keinem Juden, persönlich. Am 27. April 1943 schrieb er an Himmler: «Reichsführer! Für die Glückwünsche und ehrenden Worte, die Sie zusammen mit dem Buchgeschenk anlässlich meines Geburtstages an mich gerichtet haben, sage ich Ihnen meinen herzlichen Dank. Ich nehme diese Gelegenheit zum Anlass, Sie meiner steten Einsatzbereitschaft zu versichern. Mit Hitler Heil; Ihr treu ergebener Gutterer».
Eine grosse Nummer ist er trotz aller Dienstbeflissenheit nicht geworden, nur ein hochgestellter Ausführungsbeamter. Der Sohn des Hauswarts hat den raschen Aufstieg nicht verkraftet, die Intrigen im Reichspropagandaministerium wuchsen ihm über den Kopf. Es genügt nicht, sich immer anzupassen, man muss manchmal brutal auftreten können gegen die Konkurrenten und hart zuschlagen, nicht nur nach unten. Der schlauere, jüngere und schnellere Naumann hat ihn 1944 als Staatssekretär ersetzt. Und der treu ergebene Gutterer musste im letzten Moment sein Büro verlassen und in den wirklichen Krieg ziehen, den er bis jetzt nur propagandistisch geführt hatte.
Er lebt heute in Aachen.
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Maurice wurde nicht unfreundlich empfangen von seinen Verwandten in Baden-Baden. Wie geht es dem Vater, was macht die Mutter, wir haben schon lange nichts mehr von Euch gehört! Und was macht die schöne Schweiz?
Wie es so ist, wenn Verwandte sich jahrelang nicht mehr gesehen haben. Auch wenn man sich nicht wirklich freut: man tut so, als ob. Man kann nicht gut anders, auch wenn der Gast unangemeldet kommt und jetzt einer mehr am Tisch sitzt. Aber der Grossneffe macht einen manierlichen Eindruck, sauber, bescheiden, und er suche, sagte er sofort, Arbeit in Deutschland, und zwar als technischer Zeichner, und wolle ihnen also nicht auf der Tasche liegen. Und hatte eine politische Einstellung, welche Anklang fand bei den Eltern des Ministerialdirektors, gab seiner Bewunderung für die Leistungen des Nationalsozialismus Ausdruck; in den schönsten Farben.
Familie Gutterer war beruhigt. Man hatte sich über die Verwandten in Neuchâtel schon allerhand Gedanken gemacht in der letzten Zeit, die Mutter von Maurice galt als deutschfeindlich und hatte den Kontakt abreissen lassen. Und überhaupt die Schweiz … Aber da war anscheinend eine junge Generation herangewachsen, welche sich durchaus auf der Höhe der Zeit bewegte. Es traf sich gut, dass an diesem 9. Oktober 1938 auch der Werkmeister Karl Gutterer, ein Neffe der Karoline, in Baden-Baden zu Besuch war, der konnte fliessend Französisch und hat Maurice den Familienanschluss erleichtert. Zwei Tage nach der Ankunft begann bereits die Arbeitssuche, die Stieftochter der Karoline, Paula Gutterer, fuhr mit Maurice nach Rastatt zum Arbeitsamt. Dort kannte sie einen Beamten,
der sofort fernmündlich bei der Firma Daimler-Benz nach einer Arbeitsmöglichkeit für den Angeschuldigten nachfragte, jedoch den Bescheid erhielt, dass die Firma Ausländer nicht