Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911-1991. Urs Bircher
zu sorgen.«9
Die Familie lebte in bescheidenen Verhältnissen. Frisch überlieferte manchen Notstand: Es fehlt der »Groschen« fürs Gas – »Der grüne Gas-Automat hat mich gelehrt: Was wir uns nicht leisten können, das kommt uns auch nicht zu.«10 Man sammelte Fallobst und Bucheckern, um Kaffee zu brauen. »Der Vater, als Architekt arbeitslos, versuchte sich als kleiner Makler. Wir hatten Kartoffeln im Keller. Auch die braunen Briketts, die ich aus dem Keller holte, reichten vorerst, wenn man nur die Wohnstube heizte. Meine Mutter, die sich dabei entsetzlich schämte als Tochter einer Familie Schulthess von Basel, stand Schmiere, wenn ich über die Zäune kletterte, um Fallobst zu sammeln. Eicheln zu sammeln im Wald machte mir mehr Spaß als der Eichel-Kaffee.« Der Vater »versteht sich nicht aufs Sparen – so müssen wir es lernen«. Als er starb, hinterließ er Schulden. Der Bruder stotterte sie ab, »um der Mutter die Schande zu ersparen«.11
Viele Schweizer Familien waren damals arm. Das war nichts Besonderes. Daß Armut als »Schande« empfunden wurde, verweist auf das geistige Klima in der Familie. Politisch dachte man konservativ. Der Vater hatte im Ersten Weltkrieg sein Auskommen als Architekt verloren und sah sich vom sozialen Abstieg bedroht. Im Generalstreik 1918 wetterte er »gegen den roten Mob, der damals auf die Straße ging, ja, sogar auf den Paradeplatz in Zürich: unbewaffnet«.12 Je drohender der eigene Abstieg, desto rigider die Abgrenzung nach unten. In Kreisen der Schweizer Baumeister galten Streiks als Aktionen von »ein paar brutalen, gewissenlosen, allen Verantwortlichkeitsgefühls barer Individuen«. Zum Generalstreik 1918 schrieb zum Beispiel die Schweizerische Arbeitgeber Zeitung, »daß wir in Zürich einen ausgewachsenen Großstadtpöbel besitzen, der nur durch Maschinengewehre und Handgranaten im Zaume zu halten ist«13 . Die Mutter, aus besserem Haus, vermittelte dem Sohn ein idealisiertes Bild des vorrevolutionären Rußland. »Rußland war für mich immer das Märchenland. Wie sie von den Wölfen erzählt hat! Wenn man krank war, durfte man das russische Album anschauen. So war Rußland: Mütterchen Rußland!«14
Die Beziehung des jungen Max zu den Eltern war ungleich. »Zum Vater eine schwache, eigentlich eine Nicht-Beziehung. Ich rede auch nie von meinem Vater. Dabei ist nicht etwa irgend etwas Fürchterliches zu überdecken. Es ist von meiner Seite eine Gefühlslücke.«15 Der Vater hatte sich wenig um den jüngsten Sohn gekümmert und war ihm auch keine Vorbildfigur.16 Stärker war die Bindung an die Mutter. Frisch hat bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr bei ihr gewohnt und für ihren Lebensunterhalt mitgesorgt. »Die Mutter war zentral. Aber ich glaube nicht, daß es eine Ödipus-Situation war.«17 – »Das Bild, das ich von meiner Mutter habe, ist eine Art Ikone«.18 Wie eine Ikone behandelte Frisch denn auch sein Leben lang ein oval gerahmtes Jugendfoto der Mutter. Er trug es von Wohnung zu Wohnung und hängte es jeweils an einen Ehrenplatz. In späteren Jahren war Caroline Frisch »eine sehr schwerfällige, dicke Frau, eine sehr gute Hausfrau, die wunderbar kochen konnte und backen, aber ein sehr einfaches Gemüt, sensibel und sehr ehrlich und konnte fabelhaft stricken.« Sie hatte offene Beine, die bestrahlt werden mußten, was teuer war und Frisch, der sie jeweils zur Therapie begleitete, viel Geld und Zeit kostete.19
Soweit die Familienchronik, wie Frisch sie überliefert hat. In seinem Bewußtsein sah Frisch sich als Sproß typisch kleinbürgerlicher Verhältnisse, Verhältnisse, an denen er litt und die ihm zugleich Fundus waren für seine Literatur.
Der einjährige Max Frisch. Foto Ph. & E. Link, Zürich. Max-Frisch-Archiv/Stiftung für die Photographie Zürich.
Kleinbürgerliche Verhältnisse
Frischs Vorfahren waren als Handwerker Kleinbürger im soziologischen Sinn. Nach dem Scheitern der Revolution von 1848 emigrierten viele davon in die Schweiz, wo, im Unterschied zu Deutschland und Österreich, das liberal-fortschrittliche Bürgertum gesiegt und sich eine demokratisch-föderalistische Verfassung gegeben hatte. Die Einwanderer integrierten sich in das einheimische Kleinbürgertum und strebten nach oben. Gleichzeitig waren sie besonders abstieggefährdet, denn sie besaßen weder den Sippenrückhalt der Alteingesessenen noch die ökonomische Basis des Bürgertums. Ihre Kinder erlebten stürmische Zeiten. Die Kindheit der Eltern Frischs fällt in den Wirtschaftsboom der Gründerjahre. Der rasche Aufschwung von Industrie, Handel und Banken mit den damit verbundenen Krisen und konjunkturellen Einbrüchen erschütterte das traditionell bäuerliche Sozialgefüge der Schweiz bis in die Fundamente.
Rechts vom freisinnig-liberalen Bürgertum, das in langen Jahren der Macht korrupt geworden war, wuchs eine breit gefächerte konservative Opposition. Links vom Freisinn entstand mit der Industrialisierung die sozialdemokratische Bewegung. 1890 stellte die Sozialdemokratie ihren ersten Nationalrat. Auch diese politische Polarisierung destabilisierte die Schweiz. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges drohte das Land entlang der Sprachgrenzen auseinanderzubrechen: die deutsche Schweiz stand zum Deutschen Reich, die französische zu Frankreich.
Zu den innenpolitischen Spannungen traten außenpolitische. Seit der deutschen Reichsgründung war die Schweiz ein strategisch sensibel gelegener Kleinstaat, der wirtschaftlich von den umliegenden Großmächten abhing. Sie lavierte zwischen den aggressiven Blöcken, wobei die politische Moral des öftern auf der Strecke blieb.
Umbruchzeiten sind Zeiten der Angst. Besonders für kleinbürgerliche Schichten wird die Gefahr des Absturzes ins Proletariat zum Trauma. Fleiß und Leistungswille einerseits, Existenzangst und Versagensangst anderseits, Minderwertigkeitsgefühle nach oben, auf Distanz erpichter Blick nach unten, Autoritätshörigkeit und autoritäres Gehabe, all die typischen Merkmale des gespaltenen kleinbürgerlichen Sozialcharakters werden manifest. Frisch hat sie in seiner Jugend stark empfunden und später immer wieder exemplarisch beschrieben. Er fühlte sich selber davon tief geprägt. Seine lebenslangen Existenzängste, philosophisch mit Kierkegaard und Heidegger gedeutet, dürften ebenso im Grundstrom kleinbürgerlichen Denkens und Fühlens wurzeln wie seine Körperscham, seine Sexualnot, seine »Versagensängste«, seine »Hysterie«, seine »Unsicherheit, die aggressiv macht«, sein Bedürfnis nach »Selbstbezichtigungen«, seine »krankhafte Empfindlichkeit als Kehrseite der Selbstbezichtigung, die eine Kehrseite der Selbstherrlichkeit ist«. Die Liste dieser negativen Werte, die Frisch sich in der späten Erzählung Montauk zuschrieb, ließe sich beliebig verlängern. Und wenn auch Montauk ein Kunstwerk und kein Protokoll ist, so ist diese Selbstcharakterisierung, wie Zeitzeugen bestätigen, zugleich weitgehend authentisch.20
Kindheit und Jugend
Als Max zur Welt kam, wohnte die Familie an der Heliosstraße 31 in Zürich-Hottingen, einem von kleinen Leuten bewohnten Quartier am Fuß des großbürgerlichen Zürichbergs. Max fing beim Metzger Fliegen für den Laubfrosch, bestand Mutproben in der Kanalisation, um zur Bubenbande zu gehören,21 und spielte mit den Kriegskindern aus Wien, was nicht gerne gesehen wurde.22 Er sei, berichtete Frisch, kein großer Stubenhocker und Bücherwurm gewesen. Außer Onkel Toms Hütte und Don Quichote habe er damals kaum etwas gelesen. Er träumte von einer großen Karriere; allerdings nicht als Schriftsteller, sondern als Torwart. »Was mich unersättlicher begeisterte, war Fußball.«23 Diese Körperbetonung ist mit Vorbehalt zu lesen. Frisch war klein gewachsen, rundlich, und seine schlechteste Maturanote erhielt er im Turnen. »Sobald ihm sein Körper bewußt wurde, wurde er zum Clown«, erinnerte sich Peter Bichsel.24
Auf die Fußballbegeisterung folgte diejenige für das Theater. Der Besuch einer Räuber-Aufführung habe sie ausgelöst: »Sie wirkte so, daß ich nicht begriff, wieso Menschen, Erwachsene, die genug Taschengeld haben und keine Schulaufgaben, nicht jeden Abend im Theater verbringen … Eine ziemliche Verwirrung verursachte das erste Stück, wo ich Leute in unseren alltäglichen Kleidern auf der Bühne sah; das hieß ja nicht mehr und nicht weniger, als daß man auch heutzutage Stücke schreiben könnte.«25
Dieser Text, geschrieben 1948, mag eine Selbststilisierung des inzwischen erfolgreichen Bühnenautors sein. Aber er hatte, wenn die Erinnerung stimmt, ein reales Fundament. Frisch berichtete, er habe in der Pubertät einige (verlorengegangene) Stücke geschrieben. Unter anderem eine Ehekomödie – »Ich hatte noch nie ein Mädchen geküßt!« –, eine »Farce über die Eroberung des Mondes«