Dada. Friedrich Glauser

Dada - Friedrich  Glauser


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sie waren psychologische Studienobjekte. Es war interessant zu beobachten, wie sie sich verhielten, wenn man an einem Tag ihnen mit Interesse begegnete, um sie am nächsten Tage fallenzulassen. Eine schottische Dusche, psychologisch gehandhabt, warm, gleich darauf eisig kalt. Sie mussten uns ihre Träume erzählen, und diese dann durchzusprechen war geradeso interessant wie die chemischen Versuche, die wir im Labor machten.

      Das klingt reichlich zynisch, aber ich kann Ihnen nicht helfen. Die goldne Jugendzeit, die, ach so weit, so weit entschwunden ist, wie es im Liedchen heißt, sie war gar nicht so golden. Sie war manchmal reichlich gemein, wir wollen es eingestehen. Hatte man uns daheim eigentlich besser behandelt, war dort nicht auch die schottische Dusche Trumpf? Wenn ich an die Besuche denke, die die Eltern manchmal machten! Man kroch fast in sich zusammen, weil man sich schämte, vor sich, vor den andern. Es gab Ausnahmen, rühmliche Ausnahmen, sicher, aber an diese erinnere ich mich nicht. Geheult habe ich im Heim eigentlich nur, wenn mein Vater mich besuchen kam. Aber das war vielleicht meine Schuld. Schuld? Wer will da von Schuld sprechen? Ich denke an Daniel, der aus Königsberg stammte, ein guter Mathematiker, ein ausgezeichneter Schachspieler, daneben unbeholfen, und den wir quälten, weil er so hilflos war. Und an den Besuch, den er einmal erhielt, von seinem Vater und seiner Stiefmutter! Der Vater, ein finniger Fettkoloss mit ewig feuchten Händen, die Stiefmutter aufgedonnert mit Pleureusen. Und gerade an diesem Nachmittag, es war ein Sonntag, las der Hott die Weber vor. Er las ausgezeichnet, ohne schwülstiges Pathos, und wir horchten sehr still. Dann war die Vorlesung zu Ende, und wir hockten alle stumm. Da steht Daniels Vater auf (was will er? Er wird doch nicht? Doch …), mit watschelndem Gang tritt er auf den Hott zu: «Also prima, Herr Doktor», sagt er mit einer Stimme, wie sie von Komikern gebraucht wird, wenn sie jüdische Witze erzählen wollen, «ich danke Ihnen, Herr Doktor, für den unauslöschlichen Genuss, den Sie gegeben haben, mir und meiner Frau. Und ich bin sicher, dass ich im Namen aller spreche, der Jugend, die hier versammelt ist …» das ging weiter und plätscherte wie Herbstregen, der Hott wurde langsam rot. Da rettete der Direktor die Situation, schob seinen Stuhl zurück, geräuschvoll, und machte mit lauter Stimme eine nebensächliche Bemerkung. Wir atmeten auf. Daniel saß da und knabberte an seinen Fingernägeln. Wir ließen ihn still sitzen. Nachher mussten wir sein Zimmer lüften. Seine Stiefmutter, die er Tante nennen musste, war so parfümiert, dass sie das ganze Zimmer verpestet hatte. Daniel? Was aus ihm geworden ist? Ich glaube, er ist im Weltkrieg gefallen.

      Das Buch der verlornen Zeit hat viele Bilder, und sie drängen sich. Da war die «Andacht». Nichts Religiöses, wie Sie glauben könnten. Es war eine halbe Stunde Vorlesen am Abend, von halb acht bis acht Uhr. Und im Sommer am See. Gewöhnlich las der Hott vor, und er las gut; auch was er vorlas, war sorgfältig ausgewählt: Raabe und C. F. Meyer und Keller und von Spitteler den Olympischen Frühling. Chleb sagte: In zehn Jahren spricht kein Mensch mehr von diesem Autor. Wir glaubten ihm nicht, und er hat doch recht behalten. Wer interessiert sich heute noch für die gigantischen Götter aus Papiermaché des Herrn Spitteler? Germanisten. Und in der Hut solcher Leute schläft ein Autor seinen sanftesten Schlaf.

      Aber Keller hat mich damals sehr getröstet. Die Stelle im Grünen Heinrich nämlich, wo der Held, noch klein, seine Mutter bestiehlt. Ich hatte daheim auch gestohlen, und mein Vater hatte mir prophezeit, ich würde ins Zuchthaus kommen. Ich glaubte ihm natürlich. Aber dass Keller da auch eine Jugenderinnerung gestaltete, das verstand ich. Die Einsamkeit lockerte sich.

      Und Sommernachmittage sind da, Sonntage. Man liegt mit einem Buch auf irgendeinem Hügel und liest zur Abwechslung einmal Eichendorff. Eine Heuschrecke schnarrt mit roten Flügeln, Bienen ziehen Striche durch die Luft, es riecht nach Wald und dorrenden Wiesen, und manchmal bringt ein kleiner Wind den Geruch des Sees. Dann stützt man sich auf die Ellbogen und sieht unter sich das schmale blaue Seidenband, auf dem die Boote winzige unregelmäßige Muster sind. Bis der Abend kommt, und man steigt hinunter, die Andacht ist am See, unter dem Birnbaum, wir liegen alle im Kreis, die Wolken sehen aus wie angestrichene Tiere, unwahrscheinlich rote Foxterriers mit offener Schnauze oder violette Flamingos. Es ist entschieden friedlicher als im Gymnasium in Wien, denke ich, und letzthin hat der Vater geschrieben, dass in meiner frühern Klasse acht Schüler Selbstmord begangen haben. Aber das Grauen vor dieser Vergangenheit zergeht, der Hott liest gerade: «Frag mir nicht nach!»

      Wir spielten Theater, und Hott machte Regie. Er machte sie gut, wie alles, was er anpackte. Warum waren wir immer misstrauisch? Wir spielten Grillparzers Der Traum ein Leben, wir spielten Shakespeare: Was Ihr wollt. Und dem «Heim» (wie der Direktor sein Besitztum nannte), dem Heim gegenüber, auf der andern Seite des Sees, war ein Mädcheninstitut, und die Mädchen übernahmen die Frauenrollen. So kam es, dass eine Rivalität ausbrach zwischen Rösel und Ted, weil beide die Rolle des Herzogs spielen wollten, der während des Stückes sich sehr mit Viola beschäftigt. Der Konflikt wurde beigelegt: Wir spielten das Stück viermal, die beiden Rivalen lernten jeder zwei Rollen, den Malvolio und den Herzog, weil beide neben dem «Getragenen» auch eine Neigung zum Komischen hatten. Mit Hott gab es natürlich noch einen Krach, ich weiß nicht mehr, weswegen, er kotzte uns an mit ciceronischer Beredsamkeit, er wolle nichts mehr mit uns zu tun haben. Wir probten ruhig allein weiter. Am Abend der Vorstellung kam er uns nach dem ersten Akt beglückwünschen. Und dabei hatte die Viola furchtbar dicke Waden; übrigens währte die Verliebtheit der beiden nicht lang. Schwierigere Probleme tauchten auf. Wir entdeckten die Politik.

      Denn wir hatten eine Landsgemeinde, die aus der Versammlung aller sechzig Schüler bestand. Kein Lehrer durfte an ihr teilnehmen; denn wir verhandelten, kritisierten, und manchmal ging es ein wenig rabiat zu. Abgehalten aber wurde sie in dem kleinen Sälchen neben dem Speisesaal, von dem ich Ihnen schon erzählt habe.

      Noch ein Bild: Vor uns thronten, um einen langen Tisch, die fünf Ausschussmitglieder. In der Mitte der Präsident, Cavaluzz, der Komponist, der die Narrenlieder vertont hatte, rechts von ihm die Zwetschge, an der Schmalseite des Tisches Rösel, den klobigen Kopf eingezogen, wie eine Schildkröte. Auf der andern Seite saß Paul, der nicht einmal einen Übernamen hatte, weil er allzu bedeutungslos war, und Pfumpf, ein Basler, dessen Gesichtshaut nicht nur im Frühling Blüten trieb. Vier von den Ausschussmitgliedern gehörten unserer Klasse an, nur Cavaluzz stand knapp vor der Matur.

      Wir wollten den Paul «blackboulieren», wie Rösel in seinem Jargon sagte, und Ted an seine Stelle wählen. Das hatten wir in einer Geheimsitzung ausgemacht, in einer Nacht, nach zehn Uhr (und bekanntlich war um zehn Uhr Lichterlöschen; aber dann verhing man die Fenster mit Wolldecken und rauchte, obwohl Rauchen verboten war). Bei dieser Geheimsitzung war ich die Hauptperson, denn ich hatte gerade einen Triumph über den Direktor davongetragen: er hatte mich geohrfeigt, war beim Nachtessen, gerade als er (das war das Essensbeginnritual) «gesegnete Mahlzeit» sagen und sich den nach hinten geschwungenen Stuhl in die Kniekehlen hauen wollte, was ihn automatisch zum Absitzen brachte, gerade in diesem Moment war er ausgepfiffen worden. Solidaritätserklärung, beschlossen mit Stimmenmehrheit vom Ausschuss: einzig Paul hatte dagegen gestimmt. Rösel fand, das müsse ihn jetzt den Kragen kosten. Der Direktor hatte sich nachher bei mir entschuldigt (es war ja wirklich ein gröblicher Verstoß gegen die heiligen Prinzipien der modernen Pädagogik – Prügelstrafe: Verpönt!) – übrigens tat mir der Mann sehr leid, er war so ehrlich zerknirscht, und er konnte doch nichts dafür, dass ihm die Hand ausgerutscht war, ich hatte doch wirklich ein Ohrfeigengesicht – kurz, diese Ohrfeigengeschichte hatte mir die notwendige Popularität gebracht. Ich sollte bei den Kleinen Unterschriften sammeln, unter eine von Rösel entworfene Petition, die Pauls Entfernung aus dem Ausschuss wegen Unfähigkeit forderte. Und zugleich sollte ich für Stein Propaganda machen. Es war aber dieser Stein ein kleiner, turmschädliger Kerl, mit viel Witz, Alleskönner, Mathematiker, auch Verse verbrach er, satirische Verse in Heines Manier. Die Zwetschge und Pfumpf wurden nicht in den Plan eingeweiht; sie waren verdächtig, zur Gegenpartei zu halten.

      Nun, die Unterschriften brachte ich mühelos zusammen. Ich war ja der jüngste der Klasse und hatte Anhänger bei den Kleinen, vielleicht, weil ich mich nicht getraute, die schottische Dusche anzuwenden. «Du hast ja schauspielerisches Talent», hatte Rösel gesagt und mir dabei auf die Schulter geklopft, «du wirst es dann noch brauchen in der Landsgemeinde!»

      Vor der Landsgemeinde hatte mir noch Rösel mitgeteilt, soviel er wisse, würde die Gegenpartei eine Kontermine springen lassen, er könne nicht viel sagen,


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