Die Stimme des Atems. Ernst Halter
und winzige Tintenspritzer bekleckern die Seite; in der Hast, sie aufzutrocknen, vergesse ich die mit Tinte vollgesogene Löschblattecke, und quer durch drei Zeilen zieht sich ein hellblauer Schmierstrich. Über mich schwappt die verzweifelte Gewissheit des Tintenfritzen, dass er es nie, nie können werde. Zwar wird Fräulein K. mir mein Ungeschick wohl nachsehen, doch die Makellosigkeit der Heftseite ist dahin. Eine Weile quält und lähmt mich der Widerstreit der Gefühle – Verehrung und Faszination der Tinte gegen Gewissheit ewigen Versagens vor ihren Tücken –, und wie in einem ausweglosen Traum muss ich ihm standhalten, ohne in Tränen auszubrechen. In Angst, nun alles falsch zu machen, tunke ich ein, streiche ab; doch die Papierfaser steckt bereits im Federspalt und überzieht die Säcke von b, g, k mit einem bläulichen Tintenfilm. Ich greife nach dem Tintenlappen und reisse im Reinigen die Feder aus der Steckritze, und plötzlich verlassen mich die Kräfte, ich kann nicht mehr.
Das rötliche Licht der Kugellampen überflutet die blauen Linien und gilbt das Heftpapier; es ist still, zuweilen kratzt eine Feder oder seufzt ein Kind; die Lehrerin am Pult liest. Oder schläft sie mit offenen Augen? Vor den drei hohen Fenstern wird die violette Schneedämmerung dichter.
→Gestank →Hefte austeilen →Der Geruch
Kalligraphie
Herr Kuhn, unser Drittklasslehrer, ist Präsident der Eidgenössischen Schriftkommission; in der letzten Stunde des ersten Schultags sagt er: Passt mal auf, wie schön Schreiben sein kann.
Was wir zu sehen bekommen, übersteigt jede Vorstellung; ich bin beglückt, überwältigt, eingeschüchtert, sprachlos vor Bewunderung und Ehrfurcht. Herr Kuhn zaubert die Wandtafel voll mit Schriften: kaiserlich daherschreitende Antiqua, mager tanzende Grotesk, deutsche und französische Schreibschrift, gotische Schwabacher, gotische Kurrend, Sütterlinschrift, Fraktur, gotische Zierinitialen. Ich sehe das grosse A, das F, das O, das ebenso bauchige wie verschnörkelte G unter seiner Hand hervorblühen und weiss: Das ist der Buchstabenhimmel. Wie nur bewahrt Herr Kuhn all die Buchstabenblumen voller Blätter, Schleifen und Häkchen in seinem Gedächtnis? Und ich verehre und liebe ihn für das Wunder an der schwarzen Schiefertafel, daran er uns teilhaben lässt. Nicht ein einziges Mal, ob er sie mit der Spitze oder stumpf oder gar der Länge nach ansetzt, fiept und knirscht die Kreide in seinen Fingern oder kreischt, als müsse sie den Geist aufgeben; sie hat sich in seiner Hand in den weichen Pinsel eines Malers verwandelt.
Man staune: Lehrer Kuhn hat trotz seiner kalligraphischen Höhenflüge unsern in Tolggenpanik verkrampften Kinderhänden eine natürliche Schreibhaltung beigebracht. Das sei ganz einfach, meinte er, Angst brauchten wir keine zu haben, ein Tolggen sei kein Landesunglück, für den habe er einen Spezialradiergummi. Er gab uns den neuen Federhalter, bog unsre Finger zurecht, mahnte zur Lockerheit und führte uns einige Male die Hand.
Wenn nur der neue Federhalter nicht die sogenannte gute Form besessen hätte, glatt, walzenförmig, naturlackiert, auf halber Länge stumpf abgesägt! Ich habe mich nie an seine Missgestalt gewöhnt.
Zofinger Tagblatt, 26. Oktober 1946
Eine neue Schulschrift
Verschiedene am guten Schreibunterricht interessierte Fachverbände des praktischen Lebens waren gegen die jetzige Schulschrift Sturm gelaufen. Für die einen war sie zu schematisch, für die andern unleserlich, den meisten aber schien sie unpraktisch, da ihre vielen Ecken ein flüssiges Schreiben verunmöglichten. Und da das Tempo auch heute eine so grosse Rolle spielt, verzerrten sich die Schriftformen beim schnellen Schreiben oft. Wo lag der Fehler bei der jetzt noch gelehrten Schulschrift?
Diese Frage zu lösen, setzte sich eine Studienkommission zum Ziele. Diesmal ging man anders als früher vor. Mit den Vertretern des beruflichen und praktischen Lebens besprachen sich die Fachleute des Schreibunterrichtes. Und ein Kaufmann gar warʼs, der den Vorsitz der Arbeitsgruppe führte. Der Sekretär des Schweizerischen Kaufmännischen Vereins, ein Vertreter des eidgenössischen Import- und Grosshandels, des Schweizerischen Stenographenvereins und die kantonalen Erziehungsdirektionen setzten sich in gemeinsamer Arbeit mit dieser Frage auseinander. Nun liegt das Resultat der Besprechungen vor.
Das Hauptergebnis: Die Eckwende wird aufgegeben. Die eckigen Buchstaben werden also durch schreibflüssigere Formen ersetzt. Und da es nun die Praxis und das praktische Leben selbst ist, das die Forderungen stellte und das mit den Fachleuchten die neue Schrift ausarbeitete, ist zu hoffen, dass der Schriftenkrieg nun endgültig abgeblasen werden kann.
Kurt Schenk
Er war ein magerer mittelgrosser Junge mit dunklem Haar, oder vielleicht schien es mir nur so, da es ein bleiches Gesicht verschattete. In der 3. Klasse, es war Winter, Schnee lag, fehlte er eines Morgens. Keine Sorge, Kurt war von der zähen, herausfordernden Sorte, das Gegenteil von mir; wir pflegten kaum Umgang. Im Lauf des Vormittags traf die Nachricht ein, er sei beim Schlitteln verunfallt. Tot.
Er hatte im engen Mühletal gewohnt, in einem Kosthaus der Fabrik, wo sein Vater arbeitete. Er war am schulfreien Nachmittag des Vortags einen der abschüssigen Holzerwege, die in den Wald hinaufführen, mit dem Schlitten Kurve um Kurve hinuntergerast – und frontal in ein Automobil, das die Talstrasse herauffuhr. Schädelzertrümmerung. Zwei Jahre nach dem Krieg waren Motorfahrzeuge auf abgelegeneren Strassen noch ein Ereignis; der Automobilist hatte über den kleinen Pass der Linden nach Uerkheim fahren wollen. Die ganze Klasse nahm an der Beerdigung teil; es reichte für ein Holzkreuz mit Namen, Daten und einem wahren Spruch: «Zu früh für uns». Sein Grab dürfte seit fünfzehn, zwanzig Jahren aufgehoben und umgewälzt sein.
→Strohkappen →Eisweiher →Schlitteln →Tödlein
Züchtigung
Ich habe nie lernen müssen, mich zu ducken, meine Eltern haben nicht geschlagen. Ich erinnere mich an eine einzige Drohgebärde des Vaters, ein Ausholen mit dem Arm; sie hat mir unauslöschlichen Eindruck gemacht. In der Schule bin ich nur Zuschauer bei Tatzen, Ohrläppchenreissen, Den-Kopf-auf-die-Bank-Schlagen, Ohrfeigen, Tschuppen, Maulschellen und dergleichen gewesen. Das Rutenstreichen des nackten Hinterns war abgeschafft, das Knien auf einem scharfkantigen Scheit abgelöst vom Eckestehen oder Vor-die-Tür-gestellt-Werden. Zwar stand ein Stock in jedem Schulzimmer, doch er war vom Strafinstrument zum verlängerten Zeigefinger degeneriert. Nur einen Lehrer gab es, von dem ich sicher weiss, dass er ihn in alten Ehren hielt. Die Schüler dieses Dreinschlägers lebten in ständiger Angst, und die chronischen Magenkrämpfe meines Bruders, der sich zwei Jahre lang unter seiner Fuchtel krümmte, hat man aus der Welt zu schaffen versucht, indem man ihm den Bauch auf- und den Blinddarm herausschnitt. Dieser «Näppu» galt als herausragender Pädagoge. Als ich hörte, die Schüler hätten ihm frisch geschnittene Ruten geschenkt, stand mir der Verstand still. Wie konnte man der eigenen Züchtigung auf halbem Weg entgegenkommen?
Ich bin brav gewesen, mich hat die Angst im Zaum gehalten, weniger vor den Schmerzen – meine Krankheit hatte mich Schlimmeres ertragen gelehrt – als vor einer mir unerträglichen Verletzung: brutal angefasst und geschlagen zu werden. Wer schlägt, nimmt mit dem Körper die Würde des Geschlagenen in Besitz, ein Stück schreiendes Fleisch, das vom Mitleiden, das fremder Schmerz uns zumutet, ausgeschlossen und der Lust des Peinigers ausgeliefert ist. Das war meine Angst.
Erinnere dich, wie Schulkameraden ihre Hände zur Bestrafung hingestreckt haben. Die einen zitterten, und der Lehrer musste die Finger der krampfhaft geschlossenen kleinen Faust mit Gewalt aufbrechen, das Vierkantlineal