Zehn unbekümmerte Anarchistinnen. Daniel de Roulet
weil sie Zapfen rollierte – mitteilen, dass die Revolutionäre aus ganz Europa in Saint-Imier einen Kongress abhalten würden. Zur Vorbereitung auf das Ereignis würde der große Bärtige, den man in den Cafés von Sonvilier sitzen sah, Vorträge halten, würde die wichtigsten Herausforderungen einer nicht nur nationalen, sondern – so sagte der Straßenwärter Bourquin mit einem neuen Wort – internationalen Revolution erklären. Anfangs hielten wir den Bärtigen für Garibaldi, den Mann, der in Südamerika und in Italien gekämpft hatte. Doch dem Straßenwärter zufolge hieß dieser Garibaldi Bakunin und war in seiner Heimat Russland nichts Geringeres als ein Prinz.
Bei seinem ersten Vortrag im Café de la Place saßen wir hinten im Raum in einem Grüppchen zusammen und prägten uns jedes seiner Worte ein. Valentine rührten sie besonders ans Herz. Dem großen Bärtigen zufolge war der Kapitalist, der von der zu billig verkauften Arbeit des Werktätigen lebte, der Feind des Menschengeschlechts. Soweit klar. Außerdem müsse man sich vor der Autorität in Acht nehmen, sagte er, selbst dann, wenn sie von den Antikapitalisten komme. Er erzählte, dass in London ein gewisser Karl Marx, der von sich behaupte, Sozialist zu sein, eine Organisation kleiner Vorsitzender gründen wolle, um besser Revolution machen zu können. Er wolle den öffentlichen Delegiertenkongress durch eine private Konferenz ersetzen, die beschließen würde, sich an Wahlen zu beteiligen. Wo man doch wisse, was Wahlen seien! In Italien und Spanien stünden wunderbare Dinge bevor, die Massen seien bereit, sich zu erheben, nicht um an die Macht zu kommen, sondern um sie abzuschaffen. Es lebe die soziale Revolution, es lebe die Pariser Kommune!
Anfang September 1872 war unser Dorf voller Anarchisten, die aus ganz Europa zum Kongress ihrer Föderation gekommen waren. Sie schlugen vor, in den Sälen der Cafés Vorträge zu halten. Statt abends heimzugehen, gingen wir also dorthin, um uns diese Vorträge anzuhören, um Fragen zu stellen, Zweifel zu äußern. Es rumorte, und man debattierte. Es herrschte die allgemeine Ansicht, dass die Revolution vor der Tür stehe, den Unternehmern Angst mache und des Proletariers Herz erfreue. Bald werde eine Zeit kommen, da man alles, auch die Wissenschaft, neu erfinden müsse. Auf die Vergangenheit dürfe man nicht mehr zählen, die Situation sei so neu, dass sie mit nichts zu vergleichen sei. Man erlebe nichts anderes als die Heraufkunft einer neuen Menschheit. Valentine, Ihre Berichterstatterin, hatte da ihre Zweifel, aber da ihre große Schwester Blandine das behauptete, zog sie es vor, sich nicht mit ihr anzulegen, Blandine konnte unangenehm werden.
Die öffentlichen Diskussionen fanden im Café Schüpbach auf Deutsch, im Lion d’or auf Spanisch, im Bahnhofsrestaurant, im Boulevard, im Midi auf Französisch statt. Hier bekam man schöne Worte zu hören wie:
«Bedenkt man, dass die endgültige Emanzipation der Arbeit nur mittels einer Umwandlung der auf Privileg und Autorität basierenden politischen Gesellschaft in eine auf Gleichheit und Freiheit basierende ökonomische Gesellschaft herbeigeführt werden kann, dass jegliche Beteiligung der Arbeiterklasse an der bürgerlichen Regierungspolitik zu nichts anderem führen kann als zur Konsolidierung der bestehenden Ordnung der Dinge …»
Das entsprach genau dem, was wir von unserer lokalen Geschichte wussten, von der Vertreibung des guten Doktor Basswitz, weil er zu viel Gutes über Jean-Jacques Rousseau gesagt hatte. Es gab uns zu denken, und jede einzelne von uns bekam Lust, fortzugehen. Valentine konnte sich gut vorstellen, nach Genf auszuwandern, aber nicht weiter weg. Die anderen wollten ans Ende der Welt.
Uns alle beeindruckte der Feuereifer eines jungen italienischen Anarchisten, den sie Benjamin nannten. Er war erst achtzehn Jahre alt und hing an den Lippen von Bakunin, der achtundfünfzig Jahre alt war, von denen er zehn im Gefängnis verbracht hatte. Eines Abends erzählte der russische Prinz im Café de la Place von seiner Flucht aus Sibirien, wohin er deportiert worden war. Er war über Japan, Kalifornien, New York geflohen, bevor er nach London zurückgekehrt war, um mit Karl Marx zu streiten, dessen Bücher er ins Russische übersetzt hatte. Benjamin spendierte die Runde, sagte, es sei ganz natürlich, für eine Idee um die Welt zu reisen. Dem stimmte Bakunin hinter seinem Bart mit zusammengekniffenen Augen zu. Einige von uns, besonders Mathilde, konnten ihre Augen nicht mehr von dem jungen begeisterten Italiener wenden.
Seine Locken waren zerzaust, sein Gesicht leicht verfinstert von jugendlichem Bartwuchs. Er erzählte, dass er in einer Stadt in der Nähe von Neapel geboren sei. Mit sechs Jahren hatte er die Ankunft von Garibaldi miterlebt, erinnerte sich aber nur daran, dass der rote Bart seines Helden und dessen rotes Hemd gut zusammenpassten. Mit vierzehn kannte er Rousseaus Werke auswendig und verfasste ein Pamphlet gegen den italienischen König. Der Präfekt ließ ihn verhaften. Sein Vater, ein reicher Kaufmann, holte ihn aus dem Gefängnis und mahnte ihn: Mein Sohn, mit solchen Ideen wirst du dein Leben im Straflager beenden. Recht hat er, mein Vater, sagte Benjamin, aber nicht mehr lange, denn wir machen Revolution.
Im Jahr zuvor hatte er nochmals sechs Monate im Gefängnis gesessen und wurde anschließend in Neapel der Universität verwiesen. Er nahm Kontakt mit der Internationale auf, um über die Pariser Kommune zu diskutieren, und gründete in Italien eine Sektion. Sechs Wochen vor seiner Reise nach Saint-Imier war er nach Zürich zu dem großen Bärtigen gefahren. Beide verteidigten mit derselben Verve dieselben Ideen. Bakunin fand, Benjamin sehe schlecht aus. Wie sein Vater sagte er ihm voraus, er werde an Erschöpfung zugrunde gehen.
Genau das machte aber Benjamins Charme aus: seine düstere, kränkliche, romantische Ausstrahlung. Mit richtigem Namen hieß er Errico Malatesta. Wir waren alle ein bisschen in ihn verliebt. Sein nächstes Ziel war Bologna, wo bald, so sagte er, die libertären Ideen triumphieren würden. Wir wären ihm gern gefolgt, besonders die Jüngste von uns, die sechzehnjährige Mathilde. Mehr als einmal hatte sie Benjamin abends in sein Logis begleitet.
Die Kommune hatte der Fantasie an die Macht verholfen, hatte Dinge in Gang gebracht, auf die vorher kein Mensch gekommen wäre. Die Beziehungen zwischen den Leuten, den Kindern, die Arbeit, alles war für kurze Zeit anders gewesen, hatte jeden überzeugt, Männer wie Frauen, auch die, die nichts dazu beigetragen hatten wie wir. Wir nannten uns ab jetzt Kommunardinnen, obwohl wir bei der Verteidigung von Paris gar nicht dabei gewesen waren. Hat man das Glück gehabt, Bakunin zu begegnen und in Malatesta verliebt zu sein, wenn auch nicht ganz so heftig wie Mathilde, blickt man von da an mit dem Lachen des einen und der Ironie des anderen auf die Welt. Ein kurzer Moment kann den Tag hell erstrahlen lassen. So ließ die Kommune, die wir nur von Weitem gesehen hatten, unser Leben erstrahlen.
Jeanne war in Übersee aufgewachsen, besaß aber kaum noch Erinnerungen an ihre frühe Kindheit. Wir im Tal, sagte sie, hätten einen Akzent, über den sich die Leute in Québec lustig machten, diesen Jura-Akzent, den der aus Frankreich stammende Lehrer uns auszutreiben versucht hatte. Jeanne, unsere hübsche Dunkelhaarige, sollte ihr Leben lang einen leichten Québec-Akzent behalten. Ihr Mann, der bei Blancpain entlassen worden war, arbeitete im Eisenbahnbau. Er saß auf einem Stapel Gleise, als in der Kurve vor Courtelary die ganze Ladung vom Waggon rutschte. Er wurde zermalmt und hinterließ drei kleine Knaben mit wachen Augen: Joseph, Louis und Thomas. Jeanne arbeitete weiter als Emailleurin, konnte sich und die Kinder aber nur mit Mühe und Not durchbringen.
Auf noch schlimmere Weise hatte Lison ihren Mann und ein Kind verloren. In Saint-Imier, wo sie sie vom Zug abholen wollte, hatten es die beiden nicht geschafft, rechtzeitig auszusteigen, und waren bis zum Bahnhof von Sonvilier weitergefahren. Der Vater war mit dem kleinen Knaben an der Hand zu Fuß entlang der Gleise nach Hause gelaufen und hatte den zurückkehrenden Zug nicht kommen hören. Nun musste Lison ihre vier Töchter Albertine, Alphonsine, Anna und Alice alleine aufziehen. Von der Gemeinde bekam sie Armenhilfe. Aber um ihr diese fünfzig Franken im Monat nicht länger zahlen zu müssen, hatten die Herrschaften ihr einen Handel angeboten: Vierhundert Franken auf einen Schlag, genug für eine Reise nach Amerika, aber nur unter der Bedingung, dass sie nie mehr zurückkehrte, denn mit dieser Summe sollten sämtliche Forderungen beglichen sein. Das hat sie dann schließlich unterschrieben.
Für Jeanne, deren Eltern einst bei der Auswanderung nach Québec auf jede weitere Hilfe von der Gemeindeverwaltung verzichtet hatten, stand keinerlei Unterstützung in Aussicht, weder für die Erziehung ihrer drei Knaben hier im Tal noch für eine erneute Reise.
Die beiden Frauen, die wir die Eisenbahnwitwen nannten, standen mit ihrem Elend nicht alleine