Tanner. Urs Schaub

Tanner - Urs Schaub


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Einheit bildet, schließt sich ein großes Eternitdach an, getragen von schlanken Holzbalken auf Betonsockeln. Dieser Anbau dient dem Unterstellen von Wagen, einem Jauchedruckfass und einem alten Traktor. An die alte Hauswand schmiegt sich ein großer Stapel Holz. Links von der neuen Halle sind zwei Garagen. Die eine ist fürs Auto. Sie ist leer. Die zwei Türen stehen offen. Der Boden der Garage ist voller Ölflecken, die in der tief stehenden Aprilsonne dunkel leuchten. In der anderen Garage steht ein großer Traktor mit Hebegabel. Die Garage ist zu klein. Das Hinterteil der Maschine steht im Freien.

      Tanner durchquert die Einstellhalle und gelangt hinter das Haus. Weite Wiesen, eingezäunte Weiden, dann Wald. Sanft ansteigend in die anschließenden Hügel, scheinbar endlos. Hinter dem Haus liegt kreisrund ein Jauchetank aus Beton, etwa in der Größe von Artus’ Tafelrunde. Daran lagern aber keine Ritter, sondern einige Stapel Bauholz, bedeckt mit altem Wellblech.

      Daneben duckt sich verschämt ein lang gestreckter Schweinestall, mit zwei kleinen Futtersilos an seiner Stirnseite.

      Eine träge Stille liegt über diesem Ort. Als ob jemand vergessen hätte, das abgelaufene Uhrwerk wieder aufzuziehen. Schlafen die Schweine oder sind die Ställe leer? Er wagt nicht, die Tür zu öffnen. Nach dem Geruch zu schließen, sind sie da, oder erst seit kurzem weg. Wenn sie heute Morgen in den Schlachthof kamen, sind sie bereits in essbare und nicht essbare Einzelteile zerlegt. Die essbaren Teile werden abgepackt. Der Rest ausgekocht, gemahlen oder weggeworfen.

      Ich esse kein Fleisch mehr, sonst würde ich mich auf der Stelle schuldig fühlen, bemerkt er zur Katze, die ihm gefolgt ist. Es interessiert sie nicht.

      Gemeinsam biegen sie um die Ecke des Wohnhauses und stoßen auf einen Gemüsegarten, noch ganz in winterlicher Kargheit. Die meisten Beete sind leer. Nur eines ist mit großblättrigem Gemüse bewachsen.

      Ist das Kohl?, fragt er die Katze.

      Sie springt mit einem Satz über den kleinen Zaun aus Maschendraht und riecht an den Blättern. Sie niest und schüttelt ihren Kopf so heftig, dass ihr kleiner Körper ebenfalls mitgeschüttelt wird und sie hinfällt. Verwirrt springt sie hoch. Ein richtiger Raubtiersatz wird das und sie guckt sich misstrauisch um, wer sie denn wohl umgestoßen habe.

      Ja, zum Straucheln braucht's doch nichts als Füße, zitiert Tanner leise Dorfrichter Adam und ruft die Katze zu sich.

      Dann halt nicht, meine Rosalind.

      Er geht zum Auto, öffnet den Kofferraum und betrachtet seine Taschen, Kisten und Schachteln. Er hat sich geschworen, nur das mitzunehmen, was im Auto Platz hat. Keine weiteren Transporte. Der ganze Rest seiner Bücher, Möbel, Geschirr und so weiter lagert, schön verpackt, in einem Möbellager. Was braucht der Mensch?

      Vor allem: Was braucht Simon Tanner?

      Er verscheucht jegliche Anwandlung philosophischer Art und verbietet sich strikt jede Melancholie. Kurz bevor das selbst verordnete Denkverbot offiziell in Kraft tritt, entwischt ein einzelner, stoßgebetartiger Gedanke der inneren Inquisition.

      Ach, ich wüsste auf jeden Fall, wen ich zum Leben brauche!

      Die Katze guckt.

      Habe ich etwas gesagt?

      Er fragt mit scheinheiliger Miene seine neue Freundin.

      Hey, Rosalind, habe ich was gesagt? Hast du irgendetwas gehört? Sie schaut ihn gelangweilt an.

      Na also, wozu dann die Aufregung?

      Er schließt den Kofferraum. Zuerst will er sich das Zimmer anschauen, in dem er die nächsten Monate leben wird.

      Das Zimmer ist klein. Vier mal vier Meter. Ein schmales Bett mit weißer Bettwäsche. Ein Tisch. Ein Stuhl. Ein Schrank mit Schiebetüren. Die Wände sind weiß. Ebenso die gestrichene Holzdecke. Das einzige Fenster blickt auf den Gemüsegarten, auf die dahinter liegenden Obstbäume und auf einen benachbarten Bauernhof. Es riecht gut in dem Zimmer. Eine blaue Vase mit einem kleinen Bund Osterglocken steht auf dem Tisch.

      Ruth M. lässt grüßen.

      Über dem Kopfende des Bettes befindet sich das einzige Bild im Zimmer. Eine vergilbte Farbfotografie. Aus einer Illustrierten ausgeschnitten. Das Foto zeigt eine kleine Baumgruppe um ein winziges, merkwürdig spitzes Rundhäuschen mit einer Holztür, aber ohne Fenster. Das Bild hat einen schlichten Holzrahmen aus Birnholz. Seine Großmutter besaß mehrere solche Rahmen, die nach ihrem Tod alle verschwunden waren. Neben dem Bild klebt eine zerdrückte Mücke. Allerdings ohne Rahmen.

      Er hört ein leises Kratzen an der Tür. Er ignoriert es und legt sich probeweise aufs Bett. Es ist etwas kurz für seine Länge, aber schön hart.

      Beim Aufstehen spürt er wieder diesen Druck im Bauch. Es ist kein Schmerz. Die Vorahnung von einem Schmerz. Es fühlt sich an wie ein noch rundes Ding, das da nicht hingehört und das seine scharfen Krallen nicht ausgestreckt hat. Noch nicht.

      Tanner, geh endlich mal zum Arzt.

      Er öffnet das Fenster und atmet die frische Landluft ein. Gott sei Dank! Kein Geruch vom Schweinestall.

      Aus der Ferne schwillt das Geräusch eines Autos an. Auf der Basslinie der Motorengeräusche hört man dumpfe Technoschläge. Mit überhöhter Geschwindigkeit braust ein schwarzer Golf GTI über die regennasse Straße. Bauernsöhne auf dem Weg in die Disco. Schließlich ist es Freitagabend.

      Er schließt das Fenster und überlegt sich, wie er die Möbel des Zimmers umräumen soll. Es ist wie ein Zwang. Um sich eine fremde Umgebung schneller anzueignen. Leider stellt er fest, dass alles perfekt an seinem Ort ist, und er verzichtet vorläufig aufs Möbelrücken. Er holt seine Sachen aus dem Auto. Die Katze wartet schon auf ihn. Allerdings ist sie keine große Hilfe. Sie inspiziert lieber schnuppernd seine Schachteln und Taschen.

      Er packt einige notwendige Dinge aus. Die Kleider kommen achtlos in den Schrank. Einige seiner Lieblingsbücher legt er auf den Tisch.

      Einmal Shakespeare. Zweimal Shakespeare. Dreimal Shakespeare.

      Dann seine geliebte Doppelausgabe der Odyssee/Ilias und ein schmales Bändchen von Pascal, das sie ihm geschenkt hat und von dem sie schwärmt. Seine gähnend leeren Notizbücher und seine beiden Nikons.

      Er holt die kleine, geschnitzte Kuh aus der Schachtel. Er nimmt sie überallhin mit. Ein Geschenk von einem Freund, der unbegreiflicherweise tot ist. Zwischen seinen Hemden liegt, in Seidenpapier eingewickelt, sein einziges Originalbild. Das Mädchen von Leonor Fini. Seit dreißig Jahren begleitet ihn dieses Bild. Genauso lange sucht er das lebendige Ebenbild. Eigentlich hat er es schon gefunden. Ein sehr selbständiges Ebenbild.

      Dabei kommt ihm in den Sinn, dass er ihr versprochen hat anzurufen, wenn er wohlbehalten angekommen ist.

      Er greift nach seinem Handy.

      Als sich der Anrufbeantworter einschaltet, trennt er sofort die Verbindung.

      Nur jetzt nicht ihre Stimme hören. Tanner beschließt, einen Abendspaziergang zu machen.

      Abendspaziergang? Das passt perfekt zu seinem neuen Leben als Zimmerherr.

      Lesen, spazieren, lange Briefe schreiben. Kein Fernseher! Kein Nikotin! Das kann ja heiter werden.

      Er schließt die Tür hinter sich und steigt die Holztreppe hinunter.

      Rosalind begleitet ihn auf Schritt und Tritt.

      Aus seinem Auto holt er sich ein letztes Käsebrot aus seinem Reiseproviant.

      Er weiß nicht, ob er sich das Dorf anschauen oder lieber in Richtung des kleinen Friedhofs gehen soll, an dem er vorbeigekommen ist. Morgen das Dorf und jetzt den Friedhof. Eine Kirche, die er besichtigen könnte, gibt es ja nicht.

      Unterdessen hat der Wind deutlich aufgefrischt, und Tanner schlägt den Kragen seiner Jacke hoch und vergräbt seine Hände tief in den Hosentaschen.

      Nach ungefähr fünfhundert Metern steht er an dem Tor zu dem wohl kleinsten Friedhof, den er je gesehen hat. Der Friedhof ist nahezu quadratisch. Neun auf zehn Meter. Er ist von einer brusthohen Mauer umgeben. Dicht an der Mauer, das Tor


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