A votre santé. Karl L. Holtz

A votre santé - Karl L. Holtz


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es aber Kriterien, um beim Erwerb eines Weines dessen Lagerfähigkeit und Entwicklung im Keller vorherzusehen?

      Ein burgundischer Winzer hat mir einmal seine Daumenregel verraten:

       ▸ Unter der Voraussetzung eines dunklen und genügend feuchten (ca. 60–70 %) Weinkellers, der erschütterungs- und geruchsfrei relativ konstante Temperaturen von 10–16° C bietet, empfiehlt sich folgendes Vorgehen:

       ▸ Man öffnet die gekaufte Flasche nach den Regeln der Kunst und probiert ca. 0,1 l.

       ▸ Dann verkorkt man die Flasche leicht und stellt sie in den wohltemperierten Keller.

       ▸ Am nächsten Tag verfährt man ebenso und prüft die Geschmacksveränderung gegenüber dem Vortag. So verfährt man auch an den Folgetagen, bis man den Eindruck hat, der Höhepunkt des Genusses sei erreicht und werde nun überschritten. Die Anzahl der Tage bis zu diesem Zeitpunkt soll nun der Anzahl der Jahre entsprechen, in denen der gelagerte Wein sich wie verkostet entwickelt.

      Meine bisherigen Erfahrungen mit dieser Methode lassen mich annehmen, dass man so zumindest Hinweise darauf bekommt, ob ein Wein über einen überschaubaren Zeitraum hinweg Entwicklungspotenzial hat.

      Die Frage, ob nun der junge oder der alte Wein der angemessenere ist, lässt sich also aufgrund der Komplexität der Bedingungen nicht einfach beantworten.

      Lässt sich die Frage nach dem optimalen Alter eines Coachs nun leichter und eindeutiger beantworten? Wohl kaum. Auch hier haben wir eine gewisse Tradition und implizite Vorannahmen. Da Erfahrung wohl mit dem Alter korreliert, Feldkompetenzen erst mal erworben werden müssen und die erfolgreich Innovativen zumeist eine längere Odyssee bis zur Anerkennung hinter sich gebracht haben, gehen viele Ratsuchende davon aus, dass Kompetenz etwas mit Alter zu tun hat. Auch die Coachingverbände scheinen, zumindest implizit, dieser Meinung zu sein. Erstrebenswert ist die Ausbildung als »Senior-Coach«, die Anforderungen an eine solche Qualifikation sind zumeist ein Mehr an Praxiserfahrung und zusätzliche, auf die vorherigen Weiterbildungsgänge aufbauende Kriterien. Die bereits oben erwähnte jugendorientierte Leistungsgesellschaft goutiert zwar die jungen, dynamischen Shooting-Stars. Aber es ist wie bei den jungen enthusiastisch aufgebauten Fußballtrainern, die viel kreatives und motivationsförderndes Potenzial mitbringen, bei denen das mehr oder weniger sachkundige Umfeld jedoch mahnend darauf hinweist, doch erst mal die ersten Krisen nach anfänglich euphorischen Erfolgen abzuwarten.

      Und doch ist es wie beim Wein: Junge wie alte haben ihre spezifischen »Aromen«, und die Konsumenten haben bestimmte Erwartungen und Anlässe, die nicht allgemein mit der komplexen Strukturiertheit des Gegenübers, die sich ja erst im Alter zu voller Blüte entfaltet, bedient werden können.

      Wir hatten bereits gehört, dass bei außergewöhnlichen Weinen diese Komplexität ja auch schon in sehr jungen Jahren aufscheinen kann. Und komplexe Strukturiertheit kann auch zum Selbstzweck werden, wenn etwa der Senior-Coach vor lauter selbstgefälliger Komplexität die ebenso komplexen Bedürfnisse seines Gegenübers gar nicht angemessen wahrnehmen kann.

      Andererseits gibt es auch junge Shooting-Stars – ich denke da an einige sogenannte Motivationscoachs, die ihren Mangel an fundiertem Wissen lautstark mit Binsenweisheiten und Bullshit aus dem Esoterikkästchen der Psychologie und Neurowissenschaften kaschieren. Wenn ein Weinkenner einen Wein als laut oder zu laut bezeichnet, dann meint er damit häufig, dass statt Komplexität etwas im Vordergrund steht, das auf den allerersten Blick Aufmerksamkeit erheischt, dann aber die Unausgewogenheit des Gesamtkonzepts sehr schnell deutlich werden lässt.

      Auch hier also das Fazit wie beim Wein: Es gibt gute und sehr gute junge wie alte Coachs. Aber neben dem Methodenrepertoire tragen ja nun auch noch andere Variablen zur Veränderungsvarianz bei. Je nach Fragestellung und persönlichen Vorlieben ist eine gelingende Beziehungsgestaltung von sehr vielen Bedingungen abhängig. Erlebte Authentizität und wahrgenommene Empathie, das subjektive Gefühl, dass die wahrgenommene Beziehung tragfähig sein kann, wird nur mittelbar vom Alter beeinflusst.

      Vor Jahren machte ich eine Weiterbildung bei Frank Farelly, dem Begründer der provokativen Therapie. Ich war neugierig auf die Workshops, da mir humorvolle Provokationen eine Bereicherung meiner Interventionen versprachen. Zunächst war ich jedoch enttäuscht und fand keinen Bezug zu den Beispielen in den Therapiegesprächen. Bisweilen hatte ich den Eindruck, dass die in die Therapien eingestreuten Provokationen platteste und derbe Witzchen waren, die vielleicht Klienten aus dem mittleren Westen goutierten. Es war nicht mein Humor, und ich war trotz allem überrascht, wie diese Direktheiten bei den »mitteleuropäischen« Klienten zu Veränderungsprozessen führten. Kurz: Ich habe mich nach einiger Zeit aus dieser Art Provokation ausgeklinkt, aber es war auch etwas für mich dabei. Auf meine Frage nach der Qualifikation eines erfolgreichen Therapeuten sagte Farelly (pers. Mitteilung):

      » Als ich meine grauen Haare bekam, wusste ich, dass ich die zwei wesentlichen Eigenschaften hatte, die einen guten Therapeuten auszeichnen: Die grauen Haare für das würdevolle und die Hämorrhoiden für das sorgenvolle Aussehen.«

      Nun muss eine langjährige sitzende Lebensweise nichts mit Kompetenzsteigerung zu tun haben, Psychotherapie ist ja auch nicht Coaching. Dennoch geistert der etwas unscharfe Begriff der Lebenserfahrung durch die Professionalisierungsdebatten der Coaching-Verbände. Es gibt sogar einen Fachbegriff dafür: die Seniorität (vgl. Migge 2011).

      Aber nicht jeder sucht – wie oftmals die Führungselite selbsternannter Weinkenner – die Edelfirne der Großen Gewächse.

      In den USA hat sich die Unterscheidung zwischen Business- und Life-Coaching eingebürgert. Es gibt einige Anzeichen dafür, dass die Anliegen des Business, verbunden mit der Trainermentalität des »höher-weiter-schneller« einen Trend zur Selbstoptimierung eingeläutet haben, der – wie die Fitnesswelle – allen Beschäftigten offen oder unausgesprochen nahelegt, Leistungssteigerung in allen nur denkbaren Bereichen zu praktizieren. Einige Autoren sprechen schon von einer neuen Ersatzreligion – mit den Coachs und Fitnesstrainern als neuen (Hohe-)Priestern (z. B. Linke 2018). Und in der Tat folgen sehr viele mit den leuchtenden Augen der Bekehrten einer versprochenen Win-win-Situation, die dem Individuum und der Firma gleichermaßen zukommen soll. Die Grundbedürfnisse des Menschen nach Kompetenz und Autonomie (Selbstoptimierung) sowie nach sozialer Zugehörigkeit (im Betrieb) scheinen auf ideale Weise getriggert zu werden. Coachs berichten bereits, dass Kursangebote zu Stressabbau, Achtsamkeitsintensivierung und Wellness von den Mitarbeitern nur dann angenommen werden, wenn sie im Gewande der Selbstoptimierung auf der nach oben offenen Coachingskala daherkommen.

      Und wie die Merkmale des Business-Coaching (ausgehend von US-amerikanischen Tendenzen) nach und nach in das Life-Coaching übernommen werden, hat die Nachfrage nach Selbstoptimierung nun den gesamten Coachingbereich erreicht. Gesundheitscoaching entfernt sich von einer gesunden Lebensführung wie die Erfüllung im Beruf von der Selbstausbeutung. Lern- und Elterncoaching läuft Gefahr, die unendliche Selbstoptimierung so früh wie möglich zu implantieren. Tante Klaras mit reichlich Entbehrungsgeschichten begleitete Aussage: »Ihr sollt es später einmal besser haben« verändert sich in die implizite Grundannahme: »Es ist nie zu früh, aus unseren Kindern Spitzensportler mit Nobelpreishoffnungen zu machen.«

      Nun hat Darwin ja nie behauptet, dass der allseitig Kompetenteste und Tüchtigste die besten Überlebenschancen hat. »Survival of the fittest« bedeutet bekanntermaßen, dass derjenige gute Zukunftschancen hat, der sich den sich ändernden Umweltbedingungen am ehesten anpassen (to fit) kann. Und hiermit ist nicht die wahnwitzige Anpassung an Modetrends gemeint. Und auch nicht das Sich-Versammeln in einer nivellierenden Mitte. Dies wird dankenswerterweise in den Präambeln und Menschenbildannahmen einiger Beratungs- und Coachingverbände reflektiert.

      Die Deutsche Gesellschaft für Beratung (DGfB) beispielsweise betont auf ihrem Wege zur Qualitätsentwicklung die reflexive Funktion von Beratung, die nicht nur davon ausgeht, dass der Mensch ein rationales, reflektierendes Wesen ist, sondern dass eine angemessene Beratung auch immer Reflexion der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen beinhalten sollte. Verhalten heißt


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