Kontakt und Widerstand. Gordon Wheeler
Zielen im Feld.
Das Kriegsbeispiel ist natürlich in mancher Hinsicht ungewöhnlich, aber eine ganz ähnliche Analyse kann auf alltäglichere Situationen angewandt werden. Nehmen wir den Fall eines Studenten, der neu an ein College kommt. Seine Ziele mögen wenig definiert oder vielfältig sein, aber nehmen wir an, er hat ein klares Ziel, ein klares wahrgenommenes Bedürfnis, nämlich in vier Jahren mit einem annähernd guten Zeugnis abzuschließen, so dass er auf einem bestimmten Vergleichsniveau an einer Graduierten-Schule akzeptiert werden kann. Seine »Landkarte« des Campus, die sich teilweise aus diesem Ziel ergibt, wird sich sehr von der »Landkarte« eines anderen Studenten unterscheiden, dessen Ziele mehr auf Beziehungen oder eine Freundin ausgerichtet sind – oder die eher politisch, künstlerisch oder kriminell oder einfach wissenschaftlich usw. sind. Man kann sagen, dass jeder dieser Studenten innerhalb bestimmter Grenzen, die auf seine jeweilige »Landkarte« durch Merkmale und Beschränkungen der »objektiven« Umgebung eingezeichnet werden, in eine ganz andere »Schule« geht. Darüber hinaus hat jedes Subjekt, wie Goldstein in seinem nachfolgenden Werk behauptete (1940), vor allem jedoch auch das höherrangige Problem der Beziehung eines Bedürfnisses zu einem anderen, eines als wichtig wahrgenommenen Umweltmerkmals zu einem anderen sowie das Problem, dass sich die Aufforderungsqualitäten1 der in Wechselbeziehung miteinander stehenden Bedürfnisse und Merkmale im Laufe der Zeit verändern.
Obwohl all dies möglicherweise messbar ist, entspricht es jedoch einem starken Subjektivismus und ist daher genau von jenem Typ, den vor allem Wertheimer vermeiden wollte, als er das Gestaltmodell konstruierte und erweiterte (1925; s.a. Sherrill 1986). Wenn jeder Mensch aus den gleichen Elementen eine andere Gestalt oder »Landkarte« konstruiert, dann lässt man die Forderung danach hinter sich, jene verlässlichen messbaren Kriterien der Gestaltbildung in der Natur zu finden (um Wertheimers eigene Begriffe zu verwenden, 1922; 1925) – und damit auch die Hoffnung auf eine Psychologie, die vollständig auf Physik reduzierbar ist. Trotzdem scheint die Erweiterung des ursprünglichen Modells in Richtung auf die komplexe Interaktion zwischen Bedürfnissen und Feld im Rückblick eine natürliche Folge jener immer komplexer werdenden Forschungsfragen des Urteils, der Wahl und der Problemlösung (Koffka 1935), die bereits zuvor eine Tendenz hatten, das Modell von seiner früheren Betonung der externen Kriterien der Umwelt oder des Reizes wegzuverlagern. Gleichzeitig kann das neue Modell Lewins genutzt werden, um ein neues Licht auf einige der früheren Arbeiten unter dem Gestaltparadigma zu werfen. Nehmen wir beispielsweise Köhlers Arbeiten über die relative Größe und Distanz von Scheiben, bei denen er Hühner und Affen als Versuchstiere benutzte (1927). Entsprechend Lewins Vorstellungen können wir zu der ebenso einfachen wie entscheidenden Einschätzung gelangen, dass die Experimente mit den Hühnern, die ich zuvor ausführlich beschrieben habe, keinen Sinn ergeben, wenn man nicht in Betracht zieht, dass man mit einem hungrigen Huhn beginnt – denn ein sattes Huhn wird das unmittelbare Wahrnehmungsfeld nicht in größere oder kleinere Scheiben, die näher oder weiter weg sind, auflösen. Um noch einmal Lewins Behauptung zu wiederholen: Das Bedürfnis organisiert das Feld. Eine Betrachtung des Verhaltens müsste also einer vollständigen Gestaltperspektive zufolge das Wissen um die vorrangigen Bedürfnisse einschließen – oder, weniger subjektiv ausgedrückt, die vorexperimentellen Bedingungen (in diesem Fall den Hunger, der herbeigeführt wurde). Ein verschrecktes Huhn wird die Situation ganz anders organisieren und das Verhalten, an dem Köhler interessiert war, so oder so nicht zeigen können. Ähnlich ein sattes, durstiges oder brütendes Huhn usw.
Der Unterschied in der Betonung liegt hier nicht so sehr auf einem theoretischen Widerspruch, sondern auf einer Verlagerung der Diskussion von Fähigkeiten zu Verhalten – eine Unterscheidung, die später wichtig sein wird, wenn wir erläutern, dass das Modell der Gestaltpsychotherapie, wie es von Perls und Goodman entwickelt wurde, sich zu sehr auf Ausdrucksfähigkeit und zu wenig auf die tatsächliche Organisation des Feldes, im Leben des Menschen und seinem Verhalten, konzentriert. Schlicht gesagt ist Köhler am ersten dieser beiden Konzepte und Lewin am zweiten interessiert. Offensichtlich machen die Fähigkeiten eines Menschen (einschließlich der entscheidenden, aber theoretisch vernachlässigten Fähigkeit, diese Fähigkeiten zu organisieren) sein gesamtes Verhalten aus; genauso offensichtlich ist jedoch, dass nicht alle Fähigkeiten eines Menschen in einem gegebenen Augenblick – oder überhaupt – ihren Ausdruck im Verhalten oder in den Auflösungen der Wahrnehmung finden. Es ist also die alte Gestalt-versus-Assoziationismus-Frage auf einer höheren Ebene, die jetzt in den ver schiedenen Zweigen der Gestaltbewegung diskutiert wird: Nämlich, kann man annehmen, dass das komplexe Verhalten (und die Wahrnehmung) des Menschen lediglich aus elementaren Wahrnehmungsfähigkeiten irgendwie »aufgebaut« wird, oder müssen wir nicht von der Organisation bestimmter Fähigkeiten, bestimmter Figur-Grund-Auflösungen in Strukturen höherer Ordnung sprechen? Das ist der Kern der Argumentation, die Goldstein gegen das Assoziationsmodell erhob – und auch gegen einen großen Teil der frühen Gestaltarbeit (Goldstein 1940).
Die ursprüngliche Gestaltgeneration war andererseits überhaupt nicht glücklich über diese Erweiterungen ihres eigenen »objektiven« Modells für das »wirkliche Leben«, die subjektiven Bereiche in den Arbeiten Lewins und später auch Goldsteins, auch wenn sie diese Arbeiten selbst bewunderten (Koffka 1935, 345f). Nichtsdestoweniger muss eine vollständige Theorie der Persönlichkeit wie auch jedes Modell der Psychotherapie, das von solch einer Theorie abgeleitet wird, in der Lage sein, sich mit »wirklichem« Verhalten in diesem Sinne zu beschäftigen und nicht nur mit den verschiedenen Fähigkeiten oder dem »Laborverhalten«, die die »Bausteine« komplexerer und anspruchsvollerer Verhaltensmuster sein können oder auch nicht. Zumindest müsste gezeigt werden, dass, wenn die Theorie an dieser Stelle reduktionistisch sein soll, die Reduktion notwendig aus vollständigen Persönlichkeitstheorien folgt (eine rein immanente Kritik der frühen Freudschen Triebtheorie könnte tatsächlich um nur diesen Punkt herum vorgenommen werden). Dieser Punkt wird in den folgenden Kapiteln immer wieder aufgegriffen werden, wenn die Argumentation entwickelt wird, dass das Modell der Psychotherapie von Goodman und Perls, wie oben behauptet, zu einseitig auf eben diese frühe Laborforschung der Gestalt gegründet war und viel zu wenig auf Lewins und Goldsteins eher holistische Erweiterungen.
Schließlich bringt das Modell Lewins noch mindestens zwei weitere Konsequenzen mit sich, die wichtige Erweiterungen des eingeschränkteren Zugangs der »Labor-Gestalt« waren und die direkte Folgen bei der Anwendung des Modells auf Psychotherapie haben werden. Die erste dieser Konsequenzen hat mit der Tatsache zu tun, dass das Wertheimersche Gestalt-Modell wie das frühe Freudsche Modell (und zweifellos aus denselben Gründen der Fixierung auf die Naturwissenschaften) im wesentlichen ein Spannungsreduktions-Modell war. Als solches unterliegt es wegen seines tautologischen Denkens der gleichen Art von Kritik, wie sie für die »Gesetze« von Wertheimer ausgeführt wurde (s.a. Guntrip 1971 über die theoretischen Probleme des Spannungsreduktions-Modells). Die Spannungsreduktion ist nicht nur schwer zu definieren und zu messen, außer auf zirkuläre Weise (der Endzustand muss per Definition als Zustand geringerer Spannung angenommen werden), sondern es ergibt sich das zusätzliche Problem, dass lebende Organismen offensichtlich – zumindest zeitweise – Anstrengungen unternehmen, um Spannungsniveaus zu erhöhen, nicht zu vermindern (Goldstein 1940). Indem Lewin die Spannungsreduktion durch Bedürfnisbefriedigung ersetzt, beseitigt er zumindest die empirischen Widersprüche, wenn nicht gar die Probleme des Zirkelschlusses in der früheren Gestaltarbeit.
Eine zweite Schlussfolgerung der Arbeiten Lewins hängt mit der Problemlösung zusammen. Mit seiner Sichtweise des »Kartierens und Manövrierens« kommt Lewin tatsächlich der Behauptung nahe, dass das, was wir uns normalerweise als Problemlösung vorstellen, kein Sonderfall des Denkens ist, sondern das Paradigma jeder kognitiven Aktivität einschließlich der Wahrnehmung selbst. Wir haben bereits gesehen, wie die Gestalttheoretiker mit beträchtlichem Erfolg zu demonstrieren versuchten, dass scheinbar einfache Prozesse wie das Sehen von Form oder das Urteilen über Farben tatsächlich sehr differenzierte Auflösungen von komplizierten Reiz-»Problemen« durch den Menschen sind, auf die es offensichtlich eine Vielzahl unterschiedlicher »Antworten« gibt (tatsächlich sollten die frühen Arbeiten mit zweideutigen Reizen, welche die »Gestalt-Eigenschaften« in den Reizen selbst nachweisen wollten, eher diese subjektive Bandbreite veranschaulichen). Aber dies ist fast eine vollständige Definition des Problemlösens – und sie wird sogar noch nützlicher, wenn wir mit Lewin die Überzeugung hinzufügen, dass die »Lösungen«