Internationale Beziehungen. Anja Jetschke
Dies waren vor allem die USAUSA, die durch ihre neuen kolonialen Besitzungen in Zentralamerika (Kuba) und im Pazifik (Hawaii, Philippinen) im Vergleich zu vorher nun mehr Interessen im Pazifik entwickelten, sowie Japan und Deutschland, die in diesem Zeitraum eine enorme technologische Entwicklung vollzogen und ebenfalls begannen, sich in Konkurrenz zu Großbritannien zu positionieren. Das Deutsche ReichDeutsches Reich hatte durch seine nationalstaatliche Einigung flächenmäßig in Europa Großbritannien und Frankreich überholt. Zwischen 1850 und 1910 hatte sich seine Bevölkerung von 36 auf 65 Millionen Einwohner vergrößert. Im Vergleich dazu war die französische Bevölkerung nur sehr maßvoll gewachsen, von 36 auf 40 Millionen. Großbritanniens Bevölkerung war von 28 Millionen auf 45 Millionen angestiegen (Osterhammel 2012). 1898 begann das Deutsche Reich eine Flottenpolitik, die explizit darauf angelegt war, Großbritanniens HegemonieHegemonie auf den Weltmeeren zu brechen.
Außenpolitisch gelang es dem Deutschen Reich unter Bismarck, die sich abzeichnenden Konflikte durch ein kompliziertes Allianzsystem einzuhegen. Bismarcks AllianzpolitikAußenpolitik: Bismarck’sches Bündnissystem zielte nach 1871 darauf ab, immer mindestens ein Dreiergespann einer Allianz gegen Frankreich und Großbritannien zu bilden und gleichzeitig Konflikte zwischen gegensätzlichen Interessen innerhalb der Dreierkonstellation auszutarieren (vgl. Tabelle 1.4). Die Interessenkonvergenz zwischen dem Deutschen Reich und Großbritannien bzw. Russland verschwand jedoch im Zuge der verschiedenen Balkankonflikte sowie der Interessen des Deutschen Reiches an der Türkei und am Horn von Afrika, die das britische Misstrauen weckten. Gleichzeitig einigten sich Großbritannien und Frankreich sowie Großbritannien und Russland über koloniale Einflusssphären und näherten sich an. Damit zeichnete sich eine außenpolitische Isolierung des Deutschen Reichs ab. Wilhelm II. (Bismarck war abgesetzt) empfand die Selbstverpflichtung, die in dem BündnissystemBismarck’sches Bündnissystem angelegt war, als Beschränkung seiner Möglichkeiten, verfolgte eine Politik der freien Hand, und verlängerte wichtige Abkommen nicht, darunter das Rückversicherungsabkommen mit Russland. Damit war die Grundkonstellation des Ersten Weltkriegs entstanden, mit dem Deutschen Reich und Österreich auf der einen Seite und Großbritannien, Frankreich und Russland auf der anderen Seite.
Vertrag | Beteiligte | Zweck |
Bündnissystem Bismacks | ||
Dreibund (1882) | Italien, Österreich, Deutschland | wechselseitiger Schutz vor Angriff |
Rückversicherungsvertrag (1887) | Deutschland, Russland | wechselseitiger Schutz vor Bündnis mit Großbritannien oder Frankreich;Abschirmung gegen Nebeneffekte der österreichisch-russischen Spannungen |
Mittelmeerabkommen (1887) | Deutschland, Großbritannien | Verhindern eines französischen Vorstoßes ins Mittelmeer bzw. russischer Vorstöße auf Balkan oder türkische Meerengen |
Gegenallianzen | ||
Französisch-Russisches Bündnis (1892) | Russland, Frankreich | sofortige und gleichzeitige Mobilmachung von Streitkräften gegen Deutschland bei Angriff |
Entente Cordiale (1904) | Frankreich, Großbritannien | Schutz vor Deutschland |
Britisch-Russisches Abkommen (1907) | Großbritannien, Russland | Schutz vor Deutschland und Österreich |
Das Bündnissystem Bismarcks und seine Gegenallianzen
Ähnlich wie Deutschland in Europa hatte auch Japan seine Position in Ostasien stark verbessert. Es war vom potentiellen Kolonisationsobjekt bis 1905 – nach dem Krieg mit Russland – zu einem vollwertigen Mitglied der Völkerrechtsgemeinschaft aufgestiegen (Osterhammel 2011: 689). Beide Staaten gehörten zur Gruppe der Staaten, die sich schnell industrialisierten. Bei beiden Staaten handelte es sich also um aufstrebende Mächte. Japan und Deutschland schickten sich auch zunächst unabhängig voneinander an, eine regionale Vormachtstellung zu erreichen. Für Deutschland ging es dabei jedoch recht schnell auch um die Ablösung Großbritanniens als Weltmacht. Dies sollte über die Herausforderung der britischen HegemonieHegemonie im Schlachtschiffflottenbau geschehen, entsprach aber ebenfalls einem allgemeinen „Trend im internationalen System […], die britische Seehegemonie durch ein neues Gleichgewicht auf den Ozeanen abzulösen“ (Osterhammel 2011: 676). Europa und Asien traten damit in einen offensiven Rüstungswettlauf ein, der aneinander gekoppelt war, weil er sich gegen ein in beiden Regionen präsentes Großbritannien richtete.
Globaler Wandel und der Weg in den Ersten WeltkriegErster Weltkrieg
Zum Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts hatten sich somit bedeutende globale Veränderungen vollzogen:
Die USA, Deutschland und Japan waren – beeinflusst durch eine enorme wirtschaftliche Entwicklung – die aufstrebenden Staaten am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. Sie standen nicht nur im Wettbewerb mit den etablierten Mächten Großbritannien, Frankreich und Russland, sondern konkurrierten auch untereinander um Anerkennung als neue Großmächte.
Die bisherigen Großmächte stiegen zum selben Zeitpunkt in eine verstärkte Konkurrenz um Kolonien ein. In Afrika und Asien ging es um Handelsprivilegien und politischen Einfluss. Verschärft wurde dieser Wettbewerb durch einen nationalstaatlichenNationalstaat Protektionismus: Die neuen Kolonien wurden durch exklusive Handelsbeziehungen mit ihren Kolonialmächten integriert, was andere Staaten benachteiligte.
Auf dem Balkan standen die führenden Großmächte Großbritannien, Frankreich, Österreich-Habsburg, Deutschland und Russland im Wettbewerb.
In Asien kam es zum Krieg zwischen Japan und Russland.
Global betrachtet war die Wahrscheinlichkeit eines Kriegsausbruchs somit relativ hoch.
Dass sich dieser Krieg ausgerechnet im Balkan entzündete und dann globale Ausmaße annahm, hatte viele Ursachen.
Kriegsauslöser war die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand und seiner Frau in Sarajevo durch einen serbischen Nationalisten. Österreich stellte daraufhin Serbien ein Ultimatum, den Attentäter auszuliefern, das die serbische Regierung verstreichen ließ. Das österreichische Ultimatum aktivierte eine Reihe von Bündnisverpflichtungen, bzw. löste Reaktionen auf antizipierte Gegenmaßnahmen aus, wie den preußischen Präventivangriff auf Belgien (Schlieffen-Plan) zur Einkreisung der französischen Truppen. Dies führte zur schnellen Eskalation und machte den Krieg letztlich schwer vermeidbar.
Bündnisverpflichtungen und Eskalation bis zum Kriegsausbruch
Nachdem die Serben das österreichische Ultimatum verstreichen ließen, führte dies zu einer Reihe von Aktionen und Reaktionen, die letztlich in den Krieg führten:
Österreichs Truppenmobilisierung löste für Russland, das wiederum mit Serbien ein Beistandsabkommen hatte, den Verteidigungsfall aus.
Der Kriegseintritt Russlands hätte aufgrund des Französisch-Russischen Bündnisses den unmittelbaren Kriegseintritt Frankreichs nach sich gezogen. Preußen verfolgte deshalb die Option, einer französischen Mobilisierung zuvorzukommen und über Belgien die französischen Truppen einzukreisen. Allerdings geriet der Vormarsch schnell ins Stocken. Auf dem Vormarsch durch Belgien verübten deutsche Truppen Massaker an der belgischen Zivilbevölkerung und zerstörten die belgischen Städte Löwen und Lüttich. Auch die belgische Stadt Ypern wurde völlig zerstört.
Der völkerrechtswidrige Angriff auf Belgien führte zum Kriegseintritt Englands und damit zu einem Dreifrontenkrieg für das Deutsche Reich.
Von Kriegsauslösern zu unterscheiden sind die tieferliegenden UrsachenTieferliegende Ursachen des Ersten WeltkriegErster Weltkriegs, die jedoch sehr unterschiedlich bewertet werden:
Die Standardursache, die Historiker anführen ist, dass das nach dem Reichsaußenminister benannte Bismarck’sche Bündnissystem als ein defektes Allianzsystem zu betrachten ist, über das sich das Deutsche Reich und Österreich wechselseitig in die Balkan-Konflikte verstrickten und dann in einen Krieg zogen (vgl. Craig/George 1988; Clark 2012: Kap. 3, vgl. Einheit 6).
Eine andere Erklärung zielt auf territoriale Expansion und damit zusammenhängend auf die Bedeutung der Konzentration von Großmachtinteressen ab: Laut Barraclough (1991) wurde der Balkan kriegsauslösend, da sich die