Der Mythos des Athamas in der griechischen und lateinischen Literatur. Manuel Caballero González
Bild von Ino gezeichnet wird224. Bernbeck sagt, dieser Bitte, die der Divinisierung vorhergeht, folgt der Darstellung epischer Tradition225.
Das Problem liegt darin, dass Ovid einen Anlass finden muss, dass sie sich für Ino einsetzt; Bernbeck denkt, dieses Motiv „besteht in der leiblichen Verwandtschaft“226. In der Tat bleibt alles im Schoße der Familie, weil VenusVenus ihrem väterlichen Onkel Neptun schmeichelt. Anderson schreibt eine interessante Anmerkung über diesen Gott: „Neptune intervened against Juno, of his own accord, in the storm of Aen. 1 and, in response to Venus’ appeal, in Aen. 5779 ffVergilAen. V 779“227. Neptuns Rolle als ‚Divinisierer‘ von Ino und Melikertes ist absolut neu. Aristides hatte schon Poseidon mit Leukothea in Verbindung gebracht, obwohl Aristides ihre Identiät mit Ino bestreitet228.
VenusVenus bittet Neptun direkt, Erbarmen zu haben229 und sie als Seegötter aufzunehmen. Dies ist tatsächlich die erste physische Metamorphose der Erzählung. Anderson denkt, das Verb iactari „implies that she and her son are still alive, tossed on the waves“230. So weit darf man nicht gehen: Ovid bezieht sich m.E. ganz einfach auf Inos Sprung.
Der lateinische Dichter lokalisiert den SturzSturz dank des ionischen MeerMeers, das „der südliche Teil des Adriatischen Meeres“231 ist. Anderson behauptet treffend, „it may be better to allow Ovid to be poetic and vague than to argue that Ino made it down to the Corinthian Gulf and that Ovid conceives of that body of water as part of the Ionian Sea“232; dieser Meinung ist auch Haupt233. Bömer äußert sich sehr ähnlich: „Es ist aus diesen Worten nicht zu ersehen, ob Ovid (oder seine Quelle) eine bestimmte Stelle, genauer: den Korinthischen oder den Saronischen Golf gemeint hat“234. Wenn man eine konkrete Angabe sehen will, wird angenommen, „daß er tatsächlich die Nordseite des Isthmus gemeint hat, die zum mare Ionium führt („Korinthische Version“)“235; das steht der megarischen Version, die auf den Molurischen Fels hinweist, entgegen. Andererseits verhindert Learchos’ Tod außerhalb der Herrschaft der Meeres offensichtlich, dass sich VenusVenus ihres ältesten Urenkels erbarmt.
Die Göttin bezieht sich auf ihren Namen, um gewisse Sonderrechte im Königreich des Meeres zu haben. Ovid denkt eigentlich an AphroditeAphrodite, wie es im Vers 538 gesagt wird; in der Tat heißt Schaum auf griechisch ἀφρός; von ihm sagt Hesiod (ThHesiodTh. 195–198. 195–198 ), dass sie aus ihm geboren ist. Merkwüdig ist, dass Bömer andeutet: „der Name ist nicht griechisch“236, weil Ovid an VenusVenus und nicht an Ἀφροδίτη denken muss. Auffälliger noch ist die Art, die Venus verwendet, um den Schaum anzuführen, denn sie sagt nicht, dass sie aus ihm geboren ist, sondern dass sie selbst als Göttin einst Schaum war (spuma fui, Vers 538). Das Problem ist „der Widerspruch … zu den Worten der Venus selbst, in denen sie sich nicht als Tochter Jupiters, sondern als die Schaumgeborene bezeichnet“237, das heißt, dass Ovid auf die Venus oder eher auf die Aphrodite Urania hinweist, deren Verwandtschaft mit Neptun sehr zweifelhaft ist. Schließlich ist die Verwechslung zwischen graium und gratum in der Antike interessant. In der Tat findet man graiumque gemäß Andersons Ausgabe in den Handschriften LM2 und gratumque in der Handschrift A.
Bernbeck fasst die verschiedenen Punkte der Bitte nach dem Schema der epischen ‚impetratoria‘-Rede ausgezeichnet zusammen: „Zuerst die Anrede mit einer Ehrerbietigkeitsformel (532f.), dann der Hinweis auf die Situation, die durch die Bitte geändert werden soll (534f.), darauf die Bitte selbst (536), zuletzt ein Gedanke, der an das Verhältnis gegenseitiger persönlicher Verpflichtung erinnert und dadurch die Bitte unterstreicht“238. Falsch ist aber die Behauptung von Bernbeck, worauf auch Bömer239 hinweist: „Dort wird die Verwandlung, soweit überhaupt eine Gottheit genannt wird, auf Bacchus zurückgeführt“240.
Neptun nimmt das Flehen auf und führt einen kleinen Prozess von DivinisierungDivnisierung durch, indem er alles von ihnen wegnimmt, was sterblich ist, und ihnen alles verleiht, was an ihnen ewig ist. Anderson achtet auf Ovids Gebrauch des Wortes maiestas in Met. II 847OvidMet. II 847 und er glaubt nicht, „we may doubt that Ovid really wants us to admire the exchange of mortality for this and of greatness“241. Bömer vermutet, dass dieses Merkmal der Götter, das sich in grauitas deorum spiegelt, eine griechische Tradition ist, die in die lateinische Welt zu Ciceros Zeit aufgenommen wurde. Allerdings erklärt der deutsche Forscher, „es verdient angemerkt zu werden, daß die Handbücher über die römische Religion die maiestas deorum nicht behandeln“242. Ein Hinweis auf diese Verwandlung ist nicht nur die Änderung des Aussehens, sondern auch die Namensänderung in LeukotheaLeukothea und PalaimonPalaimon. Die lateinischen Versionen dieser Namen aber werden nicht erwähnt; es sieht so aus, als ob Ovid nur die griechische Tradition dieser Besonderheit übernehme. Anderenteils wird die Umgestaltung ihrer Körper nur angedeutet (faciemque nouauit, Vers 541). Allerdings „gibt es keine anschauliche, allmähliche Veränderung, wie sie Ovid in anderen Erzählungen beschreibt“243.
Bernbeck schließt daraus: „So hat Ovid vom Schluß der SageSage ausgehend die Ereignisse gewissermaßen rekonstruiert und die Überlieferung um eine Bittszene erweitert, um eine Szene also, die für epische Darstellung charakteristisch ist“244. Viarre meint, „[la] métamorphose d’Ino et de Mélicerte s’opère de la même façon245 au moyen de l’amour – Vénus – et de l’eau – Neptune – [Cfr. IV, 536ss]“246. Er denkt, dass dieses Erbarmen über Ino durch die Linderung einer unhaltbaren Situation zu einer echten Apotheose führt.
8’) Anhang: Inos sidonische Gefährtinnen (543–562)
Zunächst muss man sich nach der Szene selbst fragen, weil sie kein anderer literarischer bzw. mythographischer Autor überliefert hat, worauf Bömer in seinem Kommentar hindeutet: „Die Geschichte ist anderweitig nicht bekannt“247. Da die Verwandlung in Steinfiguren oder in Küstenvögel ein Element ad hoc für die Metamorphosen ist, wird logischerweise angenommen, dass diese Textstelle am plausibelsten eine Erfindung Ovids ist. Dazu kommt noch: „Dies Motiv der auf die Haupthandlung folgenden Verwandlung von ‚Begleitpersonen‘ findet sich bei Ovid öfter, immer variiert: II 340ff. Heliaden. VIII 533ff. Meleagriden. XI 67ff. Maenaden“248. Ovid gefällt es nach Anderson „to note how sympathy for a victim leads to metamorphosis for friends“249. Man darf jedoch nicht ausschließen, dass der römische Dichter sich auf eine dunkle Tradition bezieht, die die Gegenwart der Ismeniden nahe den Felswänden auf diese Weise erklären wollte.
Ovid schildert ein Gefolge von sidonischen Frauen, die Ino begleiten. Sein Vater KadmosKadmos kam ursprünglich aus Sidon in Phönizien250; die Schwierigkeit ist aber deutlich, wie Anderson anführt: „These women can hardly be first-generation Sidonians“251. Außerdem ist Ino in ThebenTheben geboren und nicht in Sidon. Sie folgen ihr bis zum Rande der Klippe252, bis zum selben Ort, wo Ino ins Meer gesprungen ist; sie halten sie für tot253. Dann werden die typischen Attribute der damals üblichen Klageweiber254 beschrieben: sich die Haare raufen und die Kleider vom Leib reißen. Die zusätzliche laute Klage sidonischer Frauen füllt die Lücke des Trauerns. Den Gesten fügen sie nämlich die Worte hinzu: Juno ist ungerecht und sehr grausam. Dies ruft noch ein weiteres Mal Junos Zorn hervor: Die anklagenden Worte werden das deutlichste Denkmal dessen, worüber sie klagen, nämlich Junos Grausamkeit.
Res dicta secuta est (550)255. Die Worte der Göttin werden unverzüglich durchgeführt. Dies steht im Widerspruch zur großen Paraphernalia der früheren Verse. Junos Absicht wird dort durch einen langen und leidvollen Besuch in der Unterwelt und durch die Erinnye Tisiphone ausgeführt; noch dazu ist Athamas ein Mittel von ZeusZeus’ Frau, um KadmosKadmos’ Haus das Böse zu schicken. Hier nicht: Die Aktion ist zeitnah und unmittelbar. Junos Worte sind keine bloße Redefigur: Die sidonischen Frauen werden selbst zu einem Denkmal. Die Versteinerung der Gefährtinnen von Ino ist ein Zeugnis von Junos Grausamkeit, ein Denkmal für Paralyse, Ruhe, Tod. Merkwürdig ist, dass die ungerechte JunoJuno ihr bösartiges Werk mit der treuesten Gefährtin Inos beginnt; auf diese Weise zeigt sich noch deutlicher Junos Ruchlosigkeit. Bömer erklärt, „pietas ist als Bezeichnung eines Verhältnisses gegenüber Menschen außerhalb der consanguinitas (VII 169) selten“256.
In diese Skulpturengruppe kommen Viarre zufolge nach und nach „quatre attitudes différentes, signe d’un même deuil et d’une même