Genderlinguistik. Helga Kotthoff
bzw. Rentners nimmt von a) bis h) sukzessive ab, und in diesem Maß vermutlich auch die Vorstellung eines männlichen Vertreters. Damit ist nicht gesagt, dass in f) bis h) beide Geschlechter gleichermaßen aufgerufen werden, sondern Geschlecht scheint zurückzutreten, irrelevant zu sein. Diese Irrelevanz gilt nicht für a) bis e). Hier erbringen Tests Evidenz dafür, dass kaum Frauen assoziiert werden: Weibliche Rentner müssen hier als movierte Rentnerin erscheinen (Doleschal 1992). Wie dies bei Gast aussieht, wozu nur selten Gästin gebildet wird, ist noch ungeklärt.1 Evozieren nichtmovierbare maskuline Personenbezeichnungen (Gast, Fan) mehr weibliche Vorstellungen als movierbare (Rentner, Kunde), die auf die Existenz einer spezifisch weiblichen Form verweisen? Die Exponierung von Einzelpersonen erfordert Geschlechtsspezifizierung.
Bekanntlich ist es nicht möglich, sich eine geschlechtslose Einzelperson vorzustellen. Daraus resultiert das notorische Problem, auf Straßenschildern oder Ampeln, geschlechtslose Figuren darzustellen. Aus der experimentellen Psychologie weiß man, dass ein Mensch ohne deutlich weibliche Geschlechtsinsignien (Brust, Rock, Stöckelschuhe) als Mann gelesen wird (Heintz 1993, 28). Bei jeder noch so flüchtigen Begegnung mit einem Menschen erwarten wir, sofort das Geschlecht zu erkennen (Heintz 1993; Hirschauer 2001). Bei sprachlichen Zeigegesten auf individualisierte Personen (Fälle a) bis e)) greift das Genus-Sexus-PrinzipGenus-Sexus-Prinzip am verlässlichsten. Dies unterstreicht auch Becker (2008): „Da wir uns kaum eine geschlechtslose Person vorstellen können, ist es nahezu immer relevant, beim sprachlichen Bezug auf eine Einzelperson das Geschlecht zu erwähnen“ (66). So komme es einer Lüge gleich, wenn „ein Mann seiner Ehefrau mitteilt: ‚Heute abend gehe ich mit einem Kollegen zum Essen‘“ (ebd.) und es sich dabei um eine Kollegin handelt. Diese Mitteilung entspricht Typ e) mit hoher Geschlechtsrelevanz.
In den letzten vier Fällen e) bis h) tritt der Indefinitartikel – in unterschiedlicher referenzieller Ausprägung – auf: in e) handelt es sich um einen zwar unbekannten, aber konkreten und für die SprecherIn spezifischen Referenten, der mit bestimmt oder gewiss erweiterbar ist (heute abend gehe ich mit einem bestimmten/gewissen Kollegen zum Essen). Dagegen enthält f) keinen spezifischen Referenten mehr, was das Nomen mit irgend kombinierbar macht. In g) und h) versiegt jegliche ReferenzialitätReferenzialität; in g) liegt echte Generizität (abstrakter Bezug auf die Klasse) vor, in h) prädikative Verwendung, die nur die zentralen Seme (Bedeutungskomponenten) abschöpft (Doleschal 1992, 72). Ebenso sind Determinationsglieder von Komposita nicht-referenziell: Raucherabteil, Ausländeranteil, Verbraucherdienst. Bei der Verwendung von Prädikatsnomen ist das Personengeschlecht durch das Subjekt in der Regel bekannt (auch bei ich und du durch die Anwesenheit dieser Personen); hier stellt sich vielmehr die Frage, ob ein maskulines Prädikatsnomen mit einem weiblichen Subjekt kookkurrieren kann, z.B. sie ist ?Lehrer/?Rentner/?Nichtraucher (Kap. 5.1.11 und 6.1.1.2). In den Fällen a) bis g) stellt sich dagegen die interessante wie relevante Frage, was Hörer- oder LeserInnen tun, wenn sie gebeten werden, solche Bezeichnungen zu konkretisieren, z.B. indem sie die assoziierten Personen zeichnen, ihnen Namen geben oder Geschichten über sie erfinden sollen.
Der Einfachheit halber haben wir nur Singulare verwendet (außer in g). Allerdings dürfte die Numeruswahl hochrelevant sein. Kontrastiert man diese Sätze mit Pluralen, schwächt sich die männliche Lesart ab. Wie bereits gesagt, ist im Plural Genus grundsätzlich unsichtbar (‚Genusneutralisierung‘Neutralisierung). Die Frage ist nur, ob das singularische Genus im Plural ‚vergessen‘ wird. Tatsache ist, dass Nomen, die nur im Plural vorkommen (sog. Pluraliatantum wie Leute, Ferien, Unkosten) tatsächlich kein Genus haben (aber anscheinend dennoch ein Geschlecht, zu Leute s. Kap. 5.1.11). Daraus resultiert die wichtige Frage: Führt die Pluralisierung von Maskulina zu einer ausgewogeneren Geschlechterassoziation? Die meisten Tests (mit Ausnahme von Kusterle 2011 und De Backer/De Cuypere 2012) haben die Numerusopposition nicht oder eher zufällig berücksichtigt. Grundsätzlich tritt die kognitive Geschlechtswahrnehmung bei den Mitgliedern einer Gruppe in den Hintergrund, da es eine Überforderung wäre, jedem einzelnen ein Geschlecht zuzuweisen, vgl. ein Tourist kam auf mich zu vs. Touristen kamen auf mich zu. Im Singular besteht eher Geschlechtsspezifizität, während im Plural auch Frauen enthalten sein können, denn im Deutschen gilt das Prinzip, dass Movierung auch dann unterbleibt, wenn sich in einer Gruppe mehr Frauen als Männer befinden: 99 Sängerinnen und ein Sänger bilden nach deutscher Grammatik 100 Sänger (Pusch 1984). Nur reine Frauengruppen werden moviert (Touristinnen). Daher: Einige Touristen – alles Männer/?alles Frauen / darunter auch Frauen/*darunter auch Männer – kamen auf mich zu. Doch gibt es durchaus Belege für GM, bei denen die Anwesenheit männlicher Mitglieder thematisierbar ist, Frauen somit präsupponiert sind: „Die Täter sind überwiegend Männer, viele der Taten geschehen im nahen sozialen Umfeld“ (Pettersson 2011, 15); „Mit ‚Männer und andere Irrtümer‘ hat die […] Kabarettistin Simone Mutschler […] vor etwa 60 Zuhörern, darunter auch Männer, ihr Debüt gegeben“;2 selbst im Singular (aus einem Bericht über Osteoporose): „Jeder vierte Patient ist ein Mann“. Hierzu besteht noch intensiver Forschungsbedarf.
Hinzu kommt, dass jedes Lexem ein sog. soziales Geschlecht hat (genderisiert ist), das sich aus außersprachlichen Geschlechterverteilungen oder -vorstellungen (die oft historisch befrachtet sind) speist: Piloten und Professoren werden eher männlich gelesen als Touristen, Zuhörer und Patienten.
Schließlich sind auch die syntaktischen Funktionen und die damit verbundenen semantischen Rollen von Bedeutung: Der Grad an ReferenzialitätReferenzialität ist z.B. eingeschränkt, wenn Gast kein direkter Partizipant (Handlungsbeteiligter) ist – d.h. weder Subjekt (Agens) noch Dativ- (Rezipient) oder Akkusativobjekt (Patiens) –, sondern (meist innerhalb einer Präpositionalphrase) nur der räumlichen Verortung von etwas anderem dient und somit adverbiale Funktion innehat: gestern war die Heizung bei dem Gast nicht aufgedreht; sie geht nachher in den Blumenladen neben dem Biobäcker; sie ist immer noch beim Arzt. Da bislang die Abhängigkeit möglicher Geschlechtsassoziationen von den graduellen Gehalten an Referenzialität kaum untersucht ist, wird im Folgenden öfter auf solche Faktoren hingewiesen. Gerade bei dieser überaus kontrovers und oft ideologisch geführten Debatte um die Funktionstüchtigkeit des GM ist der Forschungsstand besonders gering (s. jedoch Doleschal 1992; Pettersson 2011; Kusterle 2011).
Wir beginnen mit Studien zur fraglichen Geschlechtsneutralität maskuliner Substantive (5.1.) und gehen anschließend zu (maskulinen) Indefinitpronomen über (5.2).
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