Sie über sich. Paul Metzger

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die einzige Instanz des Glaubens sein darf: „Danach müssen wir die heil. Schrift für die einzige Norm und Richtschnur unseres Leben erkennen, aus welcher allein auch alle Streitfragen über göttliche Dinge müssen erledigt werden, so dass es also in keinem Falle noch des Hinzukommens einer anderen Auktorität bedarf, durch welche dieselben entschieden werden.“21 Falls die Schrift auf den ersten Blick nicht hinreichend klar eine Streitfrage entscheiden kann und selbst der „Lehrstande“ der Kirche dies nicht vermag, so liegt dies nicht an der Schrift, sondern daran, „dass dieselbe nicht recht ausgelegt oder die rechte Auslegung nicht angenommen wird.“22 Die Klarheit der Schrift ist demnach bereits in der „auctoritas normativa“ enthalten, sodass diese als weitere Eigenschaft gelten kann. Genauer wird hier darauf verwiesen, dass „alles das, was zum Heil zu wissen nötig ist, klar und deutlich in ihr gesagt“23 sein soll. Die Deutlichkeit (perspicuitas) der Schrift muss dabei freilich so lange lediglich äußerlich und natürlich bleiben, „bis durch die Erleuchtung des heil. Geistes ein inneres Verständnis und das Vermögen gewirkt wird, sich die in den heil. Schriften enthaltenen Heilswahrheiten auch im Herzen zu eigen zu machen.“24

      Dementsprechend ist klar, dass die Schrift in sich suffizient sein muss. Wenn sie in aller Deutlichkeit all das enthält, was zum Heil zu wissen nötig ist, dann folgt daraus, dass „wir nie Ursache haben, dasselbe anderswoher zu ergänzen, daher also alle Lehren, welche aus mündlicher Tradition wollen abgeleitet werden, zu verwerfen sind.“25 Weil deshalb die Schrift Gottes einziges Wort an uns ist, „folgt weiter, dass, wenn wir überhaupt den Weg kennen sollen, der zum Leben führt, er auch vollkommen in der heil. Schrift angegeben sein muss, und dies ist es, was mit der perfectio seu sufficientia ausgesagt werden soll.“26

      Wenn in der Schrift aber der Heilsweg vollkommen dargelegt ist und keine andere Erkenntnisquelle herangezogen werden darf, wenn die Schrift die höchste Autorität hat und durch den Geist aufgerichtet wird, dann ist folgerichtig, dass der Geist die Schrift nicht nur um ihrer eigenen Autorität, Suffizienz und Normativität im Menschen als Wort Gottes erweist, sondern um im Menschen zu dessen Heil zu wirken. Die Schrift kann deshalb als „medium salutis“ betrachtet werden, indem ihr die Kraft zugeschrieben wird, den Menschen in den Stand der Gnade zu erheben. Diese Kraft ist derart, „dass sie immer Erfolg hat, wo ihr nicht von seiten des Menschen Widerstand entgegengestellt wird.“27 Der Schrift kommt „efficacia“ zu, sodass sich sagen lässt: „Solch eine Kraft kommt dem Wort dadurch zu, dass der heil. Geist zu demselben hinzutritt, […] so dass die Kraft und die Wirksamkeit des Wortes mit der des heil. Geistes völlig identisch, eine wahrhaft göttliche ist.“28

      Auf wenige Sätze konzentriert die wirkungsvolle und weit verbreitete „Theologia positiva acroamatica“ von Johann Friedrich König die altprotestantische Schriftlehre.29 Das „Erkenntnisprinzip der Theologie“ wird bei ihm als Lehre von der „Heiligen Schrift“ behandelt.30 Deshalb gehört sie in die fundamentaltheologische Grundlegung der Dogmatik. Nach König ist alles, was sie lehrt, „von Gott eingegeben und insoweit unfehlbar wahr“ (§ 79).31 Dass überhaupt von der „Schrift“ gesprochen werden kann, wenn die biblischen Texte gemeint sind, ist berechtigt, „wegen des gottgeleiteten Tuns der dienenden Ursache, nämlich der äußerlichen Tätigkeit der Schreiber“ (§ 80). „Heilig“ ist sie aber vor allem, „wegen der Wirkursache“ (§ 81), also Gott selbst, „wegen des Gegenstands, der heiligen Dinge, (3) wegen des Zwecks und der Wirkung, der Heiligung und (4) wegen der nur ihr eigenen Besonderheit, durch die sie sich nicht nur von allen weltlichen, sondern auch von allen kirchlichen Schriften unterscheidet“ (§ 81). Gott gibt dabei nicht nur „die Sachaussagen, sondern auch den Wortlaut der Schrift“ ein (§ 86). Gott schenkt den Menschen die Schrift, damit „wir ihn zu unserem Heil erkennen und seiner Würde entsprechend verehren“ (§ 103). Für uns ist „der letzte Zweck“ der Schrift „das ewige Heil“ (§ 105), während die „Unterweisung“ und die „Heiligung“ die beiden „vorläufigen“ Absichten der Schrift sind (§ 106). So kommt König zur allgemeinen Definition: „Die Heilige Schrift ist das Wort Gottes, das aufgrund der unmittelbaren Eingebung des Heiligen Geistes durch die Propheten im Alten sowie durch die Evangelisten und Apostel im Neuen Testament schriftlich aufgezeichnet wurde, um den Menschen zu seinem Heil zu unterweisen“ (§ 107). Der Testimonium-Gedanke wird bei König zu dem entscheidenden unfehlbaren Erkenntnisprinzip der Schrift: „Die unfehlbaren [Erkenntnisprinzipien], durch welche die Autorität der Schrift so unfehlbar erwiesen wird, daß sie mit göttlichem Glauben angenommen wird, sind (1) das Zeugnis, das die Schrift von sich selbst und von der ihr innewohnenden göttlichen Herkunft und Autorität darbietet, (2) das Wirken des Heiligen Geistes, durch das er in uns mittels der Schrift göttlichen Glauben wirkmächtig hervorbringt und besiegelt“ (§ 113).

      Die altprotestantische Orthodoxie errichtet um Luthers „sola scriptura“ also ein beeindruckendes und in sich logisch geschlossenes Gebäude der Schriftautorität.32 Die Bibel wird zur „Schrift“, sie gerinnt zu ihrem eigenen Dogma.33 Die Schrift besitzt absolute Autorität und Normativität. Sie ist in sich suffizient, vollkommen und entfaltet mit Hilfe des Geistes im Grunde die gleiche Wirkungskraft wie dieser selbst. Das „Papier“ hat den „Papst“ nicht nur ersetzt, es wurde zum „papiernen Papst“34 und in diesem Zug geradezu vergöttlicht. Die Autorität der Bibel als Prinzip von Theologie (und damit auch von Kirche35) erfordert also gleichsam die Aufwertung der Bibel als „einer Art literarischer Inkarnation Gottes.“36 Diese Bewegung führt folgerichtig in historischer Perspektive zur Entzweiung von „Altgläubigen“ und „Protestanten“: „Die Einheit der abendländischen Kirche bricht […] im Verständnis der Autorität der Schrift auseinander.“37

      Literarische Denkmäler und Mausoleum auf der einen, absolute Autorität, Richterin, Königin und Heilsmittel auf der anderen Seite. Was ist zwischen Luther, der Konkordienformel und der altprotestantischen Theologie auf der einen Seite und Theologen wie Schleiermacher und Barth auf der anderen Seite geschehen?

      2.3. Der Zusammenbruch des „Schriftprinzips“

      Luthers Ersetzung des Lehramtes durch die Schrift wird hinterfragt. Es liegt eine gewisse Tragik in der Erkenntnis, dass gerade die nachdrückliche Betonung und ausführliche Begründung der Schriftautorität durch die Orthodoxie bereits den Keim ihres Endes in sich trug, da jede „ausdrückliche Inanspruchnahme von Autorität stets ein gefährliches Manöver“1 darstellt. Denn die explizite Betonung der Autorität „irritiert die Routine“,2 die zur ungestörten und oft unbemerkten Ausübung von Autorität nötig ist. Im Regelfall lädt die Betonung von Autorität zu deren Überprüfung ein, was oft genug zum Nachteil der nun ausdrücklich geforderten, also nicht mehr fraglos akzeptierten Autorität ausfällt.3 Diese allgemeine Erkenntnis schlägt durch die Aufklärung auf die Anerkennung der Schriftautorität durch und die einzelnen Argumente, die sie eigentlich absichern sollten, fallen dahin. Das Schriftprinzip wird durch die von der Schriftautorität emanzipierte Vernunft der Aufklärung überprüft.4

      Die Aufklärung, zu deren Idealen „die Bevorzugung der menschlichen Vernunft als höchster Autorität, der Toleranz als höchster Tugend und des Glaubens an Fortschritt und Höherentwicklung in allen Bereichen als beste Philosophie, dazu die Skepsis gegen alles Geheimnisvolle und Übernatürliche“5 gehören, gebiert die historisch-kritische Methode und diese Methode hat Folgen für das Schriftprinzip, was zunächst aber nicht in seiner ganzen Tragweite gesehen wird.6 So behauptet der Protestantismus deshalb „überwiegend die historisch-kritische Schriftauslegung als spezifisch neuzeitliche Gestalt des reformatorischen Schriftprinzips“7 und kommt so allmählich zu der Erkenntnis, dass die Methode letztlich das Prinzip zerstört: „Es ist die Methode der historischen Kritik, die das altprotestantische Schriftprinzip auflöste.“8

      Das historische Bewusstsein wendet sich mit der menschlichen Vernunft als Kriterium der Wahrheitsfindung den biblischen Texten zu. Exegese und Dogmatik werden als eigenständige Disziplinen geboren.9 Fragen kommen auf, die das Lehrgebäude der Orthodoxie zum Einsturz bringen.10 Das beginnt mit grundlegenden Feststellungen, die die Text- und Kanonsentstehung beschreiben, geht weiter mit der Frage, ob die Wunder Jesu und schließlich seine Auferstehung wirklich stattgefunden haben können, konfrontiert die Schöpfungserzählungen der Genesis mit den aufkommenden Erkenntnissen der Naturwissenschaften und führt schließlich zu dem Urteil, dass selbst die Institution „Kirche“


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