Sprachliche Mittel im Unterricht der romanischen Sprachen. Группа авторов
Möglichkeiten der Auswahl und Stufung des Sprachmaterials. Eine systematische Unterrichtsanalyse65 muss jedoch genau dort ansetzen, indem sie zuvörderst die Frage nach den sprachlichen Lerneinheiten stellt, die einem Lehrgang zugrunde gelegt, d.h. ausgewählt und in einer bestimmten Reihenfolge oder Stufung präsentiert werden (cf. Segermann 2014a).
Da der Gegenstand des Fremdsprachenunterrichts – im Unterschied zu anderen Fächern – nicht ein bestimmter Stoff66 ist, sondern die Sprache selbst, also die sprachlichen Mittel, die für eine erfolgreiche Kommunikation gebraucht werden, wäre es an der Zeit, die von jeher geltende und nie in Frage gestellte Auffassung vom Spracherwerb als dem Lernen von Wörtern/Vokabeln und grammatischen Regeln im Lichte aktueller Forschungsergebnisse zur Sprachverwendung einer wissenschaftlichen Prüfung zu unterziehen. Es spricht vieles dafür, dass lexikalisch-grammatische Konstruktionen, die die unnatürliche Trennung von Lexik und Grammatik überwinden, sich sehr viel besser als Lerneinheiten eignen, weil sie näher am Sprachgebrauch sind.67 Diese größeren lexiko-grammatischen Einheiten könnten als Pendant zu semantisch-syntaktischen Funktionseinheiten (wer tut was mit wem unter welchen Umständen) konzipiert werden68, die in spezifischer Abfolge vorkommen und damit die grundlegenden (Satz)-Strukturen einer Sprache repräsentieren. Die Auswahl der neuen sprachlichen Einheiten müsste aus einem noch zu erstellendem Inventar solcher lexiko-grammatischen Konstruktionen und Satzstrukturen erfolgen. Dieses Inventar könnte nach Themen geordnet sein und damit den Anspruch einer formal-grammatischen Progression69 aufgeben zugunsten strikter Inhaltsorientierung. Eine progressive ‚Systematik‘ der Vermittlung würde von der wachsenden Komplexität der Funktionseinheiten und Satzstrukturen übernommen werden. Damit könnte das motivationsfördernde Prinzip der Inhaltsorientierung mit dem für den gesteuerten Fremdsprachenunterricht unverzichtbaren Prinzip der sprachlichen Systematik in Einklang gebracht werden (cf. Segermann 2014a).
6.2.2 Konsequenzen für die methodische Gestaltung
Die Entscheidung für eine inhaltsbasierte Stufung des Lehrgangs würde einschneidende Konsequenzen für die methodische Gestaltung des Unterrichts nach sich ziehen. Ohne die Vorgabe einer die inhaltsbezogene Kommunikation massiv einengenden grammatischen Progression könnten die Lerneinheiten an die Äußerungswünsche der Lernenden gebunden werden. Damit würden die in den letzten Jahrzehnten bildungspolitisch geforderten und auch von der Fremdsprachendidaktik ausführlich diskutierten Unterrichtsprinzipien Schülerorientierung, Inhaltsorientierung, Handlungsorientierung, Ganzheitlichkeit, Selbstbestimmung, Eigeninitiative, Kreativität, Individualisierung und soziales Lernen sehr viel leichter im Fremdsprachenunterricht verwirklicht werden können.70 Auch die Forderungen nach Interkulturalität im Sinne vergleichender Bewusstmachung sprachlich-kultureller Konzeptbildungen und Strukturen ließen sich durch den Fokus auf Inhalt-Form-Verknüpfungen statt auf formale Gesetzmäßigkeiten besser integrieren.
Ein von der ‚Zwangsjacke‘ einer grammatischen Progression befreites ‚Vermittlungskonzept‘ würde in den der Entscheidung des einzelnen Lehrers überlassenen methodischen Verfahren sowohl bei der Darbietung als auch beim Prozess des Verfügbar-Machens71 des jeweils einzuführenden Sprachmaterials sehr viel mehr Spielraum lassen für Differenzierung und Individualisierung.72 Die Phasen der Darbietung – also der Erarbeitung von neuem Sprachmaterial – und des Verfügbar-Machens – also des Übens – könnten beide gleichermaßen in den Dienst der Entwicklung der Kommunikationsfähigkeiten gestellt werden. Der Unterricht würde die Lernenden so durchgängig in einer echten kommunikativen Haltung belassen. Sie würden erfahren, dass sie ihre eigenen individuellen Äußerungsbedürfnisse immer besser versprachlichen und dass sie Texte mit für sie interessantem Inhalt immer besser verstehen können. Das bedeutet, dass sich ihre Lernanstrengungen unmittelbar als kommunikativer Fortschritt auszahlen.
Ein solcher, für die konkrete unterrichtliche Realisierung prinzipiell offener Theorieentwurf des gesteuerten Fremdsprachenerwerbs erfordert die Kooperation der Schulbuchverlage. Die traditionelle Konzeption von Lektionstexten als Lieferanten für Vokabeln und grammatische Kapitel müsste aufgegeben werden zugunsten einer Unterscheidung von Texten als Vorlage für die Produktion einerseits und (ungleich anspruchsvolleren) Hör- bzw. Lesetexten für die Rezeption andererseits. Um dem Postulat der sprachlichen Systematisierung nachzukommen, müsste ein Instrumentarium, am besten in elektronischer Form73, entwickelt werden, das die semantisch-syntaktischen Funktionseinheiten in ihrer Musterhaftigkeit abbildet. Dieses an den Regeln der Sprachverwendung orientierte Ordnungssystem würde die spezifische Struktur oder ‚Bauweise‘ der fremden Sprache für die Lernenden sichtbar und durch die Prozesse von Analogiebildung, Generalisierung und Transfer lernbar machen.74 Hier wäre die enge Zusammenarbeit von Wissenschaft und Verlagen vonnöten.
6.2.3 Erarbeitung alternativer Theorieentwürfe
Aus der oben vorgestellten Unterrichtskonzeption ergibt sich als Anregung an die Fremdsprachendidaktik, den ursprünglichen Anspruch einer einzigen konsistenten Theorie des gesteuerten Fremdsprachenunterrichts aufzugeben zugunsten der Entwicklung diversifizierter Theorieentwürfe, die Alternativen für unterrichtliche Handlungen anbieten. Was im Unterricht geschieht, basiert auf spezifischen spracherwerbs- und lerntheoretischen Prämissen, die sowohl die Curriculum-Entscheidungen als auch die von der Lehrkraft praktizierten methodischen Entscheidungen75 maßgeblich bestimmen. Es gilt also, den bestehenden Unterricht im Hinblick auf seine bisher kaum in Frage gestellte theoretische Basis kritisch zu analysieren und daneben alternative Denkansätze in das Blickfeld qualitativer Forschung zu nehmen und hermeneutisch unterfütterte, d.h. auf unterrichtspraktischer Kompetenz aufbauende kreative Unterrichtskonzeptionen zu erarbeiten. Dies erfordert die Bündelung aller Kräfte – in Theorie und Praxis – für das gemeinsame Ziel, der Erarbeitung innovativer methodischer Verfahren.76 Die Fremdsprachendidaktik als angewandte Disziplin sollte ihre ‚Wissenschaftlichkeit‘ gemäß ihrem gesellschaftlichen Auftrag wieder in den Dienst der Optimierung des Unterrichts stellen77, und die Praktiker sollten ermutigt werden, sich in ihrem Unterricht freier zu fühlen und ihrem kreativen Gestaltungsdrang – je nach Wollen und Können – nachzugeben.78
Ein weiterer Grundsatz, der die Fremdsprachendidaktik auch methodologisch weiterbringen könnte, wäre die Verpflichtung auf eine theoretische Konzeptbildung, die die Integration aller am Fremdsprachenunterricht beteiligten Faktoren ermöglicht. In der Vergangenheit sind verschiedene Aspekte oft als einander ausschließende oder sogar sich gegenseitig störende Faktoren betrachtet worden. Diese Polarisierung war vielleicht der Profilierung der jeweiligen Kontrahenten dienlich, der wissenschaftliche Fortschritt wurde dadurch eher verzögert. Alle bisher in der Fremdsprachenforschung diskutierten dichotomischen Begriffe haben sich erst dann als fruchtbar erwiesen, wenn sie als miteinander interagierende Faktoren in das Gesamtphänomen integriert wurden (Segermann 1996). Dafür gibt es zahlreiche Beispiele: Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit – Habitualisierung vs. Kognitivierung – Analyse vs. Automatisierung – Einsprachigkeit vs. Benutzung der Muttersprache – Wissen vs. Können bzw. deklaratives vs. prozedurales Wissen – Grammatikvermittlung vs. Wortschatzvermittlung – Formorientierung vs. Inhaltsorientierung – Außenfaktoren vs. Binnenfaktoren – Kognition vs. Emotion – Input-Orientierung vs. Output-Orientierung – Instruktion vs. Konstruktion – Lehrerzentrierung vs. Schülerzentrierung. Die jüngste, ebenso unfruchtbare Polarisierung heißt: Kompetenzorientierung vs. Sprachmittelorientierung.79 Das Denken in Kategorien des Entweder-Oder sollte auf jeden Fall vermieden und durch das Bemühen um ein integrierendes Denken des Sowohl-als-Auch ersetzt werden. Es sind nicht zuletzt die mit schöner Regelmäßigkeit erfolgenden ‚Pendelausschläge‘ in der wissenschaftlichen Diskussion – seien sie auch nur die Folge von Akzentverschiebungen und unterschiedlichen Fokussierungen – die die Praxis verunsichern.
6.2.4 Experimentelle Kontrollstudien
Die Anerkennung der primären Funktion von Unterrichtstheorien bedeutet gleichzeitig ein Umdenken in Bezug auf empirische Forschungen. Die Untersuchung des Ist-Zustands hat ihre Berechtigung, wenn es sich um Sprachstandserhebungen handelt, die auf Erfolge oder Defizite in der aktuellen Unterrichtsrealität hinweisen (cf. Fußnote 3). Aus der Beobachtung von konkretem Unterricht lassen sich jedoch mitnichten die „necessary foundations for