Gesprochenes Portugiesisch aus sprachpragmatischer Perspektive. Bernd Sieberg

Gesprochenes Portugiesisch aus sprachpragmatischer Perspektive - Bernd Sieberg


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Lexikographie immer noch vorherrschen, doch wäre es ungerecht und ergäbe ein ‚verzerrtes Bild‘, nicht auch auf andere Studien mit unterschiedlichen Untersuchungszielen aufmerksam zu machen. Ohne an dieser Stelle einen kompletten Überblick geben zu können, folgt die Darstellung einer kleinen Auswahl solcher Projekte und Ziele11. Die Projekte sind dabei thematisch in folgende Sektoren unterteilt, bzw. unterschiedlichen Forschungszentren zugeordnet: (I) ANAGRAMA – Análise Gramatical e Corpora, (II) CLG – Grupo de Computação do Conhecimento Léxico-Gramatical, (III) Dialectologia e Diacronia, (IV) LabFon – Laboratório de Fonética, (V) Laboratório de Psicolinguística und (VI) Filologia.

      Was momentan laufendende und noch nicht abgeschlossene Projekte im Themenbereich des gesprochenen Portugiesisch betrifft, möchte ich als Beispiele das Projekt ‚COPAS‘ hervorheben, das darauf abzielt zu erforschen, wie Intonation und syntaktische Mittel beim Sprechen zur Hervorhebung des ‚Topiks‘ einer Äußerung beitragen; ‚LeCIEPLE‘ aus dem Bereich des ‚Portugiesisch als Fremd- und Zweitsprachenerwerbs‘ mit der Erstellung eines eigenen Lernkorpus; das Projekt ‚VAPOR‘, das sich um die Zusammenstellung von Korpora mit in Afrika gesprochenen Varianten des Portugiesisch bemüht; das Projekt ‚LETRADU‘, das sich der Entwicklung Computer gestützter Übersetzungsprogramme sowie der Erstellung verschiedener Wortatlasse widmet, die auch das gesprochene Portugiesisch in Afrika, Brasilien, Europa, Galizien und auf den Azoren mit einschließen.

       (g) Eine weitere mir bekannte und bereits abgeschlossene Arbeit, deren Planung und Realisierung aber außerhalb Portugals erfolgte, ist die auf Deutsch verfasste Arbeit von Viegas Brauer-Figueiredo (1999), die m.E. in Portugal bis jetzt nicht die ihr gebührende Beachtung gefunden hat. Wie die Autorin selber ausführt, wurde sie zu ihrer Arbeit durch Koch / Oesterreicher (1999, 9) angeregt, was als Folge hatte, dass sie sich bei ihrer Arbeit um eine Orientierung an dem Modell dieser Autoren12 bemühte, allerdings ohne dieses Konzept konsequent einzuhalten. Jedenfalls folgt die Arbeit dem für ihre Zeit neuartigen Konzept, morphologisch-syntaktische Erscheinungen der GS – u.a. Kontaktsignale, Überbrückungsphänomene, sprachliche Mittel zur Engführung13, polyfunktionales que, frases clivadas, passe-partout Konstruktionen (Viegas Brauer-Figueiredo 1999, 5sqq.) – auf der Basis eines entsprechenden Korpus14 und teilweise auch unter pragmatisch-funktionaler Perspektive15 zu beschreiben. Das bedeutet, der Gebrauch sprechsprachlicher Erscheinungen wird auch als Konsequenz ihrer Einbindung in Situationen und in Abhängigkeit von anderen Faktoren der pragmatischen Sprachdimension interpretiert. Das Korpus des Buches, das zwischen 1984 und 1994 zusammengestellt wurde und insgesamt 154584 Wörter erfasst, besteht aus (a) Interviews mit portugiesischen Immigranten, (b) Gesprächen und Interviews mit Studenten, (c) weiteren Interviews, die auf dem portugiesischen Festland, auf den Azoren und den Kapverden durchgeführten wurden, (d) Auszügen aus Diskussionen und Gesprächen mit portugiesischen Schriftstellern, die Vorträge an der Universität in Hamburg hielten, (e) Auszügen aus Vorlesungen, Seminaren und Kolloquien sowie (f) Mitschnitten aus portugiesischen Fernsehsendungen.

      Positiv bleibt festzuhalten, dass es der Untersuchung gelingt, die Funktionen von Ausdrücken und Strukturen, die aus einer formal-strukturalistischen Perspektive aus gesehen irrelevant sind, für das Gelingen mündlicher Kommunikation herauszustellen und zu begründen. Für die Bestimmung von Erscheinungen des gesprochenen Portugiesisch, die sich aus der dialogischen Struktur gesprochener Sprache ergeben, ist das (ansonsten sehr umfangreiche) Korpus allerdings nicht geeignet, weil die Transkriptionen keine Visualisierung dieser Strukturen und der entsprechenden Sprecherwechsel ermöglichen.

      Trotz des großen Fortschritts, den Viegas Brauer-Figueiredo dadurch erzielt, dass sie Erscheinungen des gesprochenen Portugiesisch durch die Einnahme einer neuen Perspektive untersucht, gelingt es ihr nicht, die von ihr erzielten Untersuchungsergebnisse im Rahmen eines homogenen und systematischen Konzepts zu interpretieren. Darum stellen sie sich dem Leser in vielen Zusammenhängen als zusammenhangslose Phänomene dar, die relativ heterogenen Kategorien – unterschiedlichen Wortklassen und Untersuchungsbereichen einer konventionellen Grammatik wie Morphologie, Wortbildung und Syntax – angehören. Ihre gewonnenen Erkenntnisse verfehlen somit den Effekt, Impulse für nachfolgende Untersuchungen zum gesprochenen Portugiesisch auszulösen. Aus der Sicht der in Portugal üblichen formal-strukturalistischen Grammatikbeschreibung werden ihr Konzept, ihre Methode und die von ihr gewonnenen Erkenntnisse m.E. kaum angemessen wahrgenommen.

      Nach der Lektüre einiger Beiträge der portugiesischen GSF ergibt sich für mich abschließend der Eindruck, dass sich viele der in ihnen gewonnenen Erkenntnisse mit den an dieser Stelle formulierten Einsichten decken. Allerdings folgen sie unterschiedlichen, oft nicht explizit dargestellten Konzepten, und es mangelt ihnen an einer umfassenden Gesamtdarstellung. Dieser Umstand schmälert erheblich ihren Wert und Einfluss auf weitere Untersuchungen zur portugiesischen gesprochenen Sprache. Außerdem fehlt m.E. die vorausgehende Phase einer epistemologischen Reflexion oder ‚Grundlagenforschung‘, wie sie in den Naturwissenschaften gang und gäbe ist, an der es aber zugebenerweise auch in der germanistischen GSF lange Zeit gemangelt hat, bzw. die auch in weiten Bereichen der germanistischen Philologie und ihrer Einstellung zur GS immer noch fehlt. Zu diesen Ausgangsüberlegungen würde eine vorausgehende Reflexion über die prinzipielle Beziehung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit gehören, die Einsicht, dass sich nicht alle sprachlichen Erscheinungen im Rahmen einer formal-strukturalistischen Sprachtheorie deuten lassen sowie die Infragestellung der unreflektiert unterstellten Priorität der Schriftgrammatik und ihrer Regeln, die als Untersuchungsmaßstab und als Kriterien zur Bewertung von Erscheinungen der Mündlichkeit ungeeignet sind. Weiterhin wäre es einer Überlegung wert, Regelmäßigkeiten und Gebrauchsregularitäten, die sich als Ergebnis von Korpus basierten Untersuchungen der portugiesischen GS herausstellen, einer neuen Bewertung zu unterziehen: Von zentraler Bedeutung wäre es hierbei, die hergebrachte saussurianische Dichotomie ‚parole vs. langue‘ durch die Einführung eines vermittelnden Begriffs der ‚Norm‘, wie ihn Coseriu vorschlägt, neu zu überdenken. Schließlich mangelt es an Überlegungen, ob und welche sprechsprachlichen Erscheinungen bereits zum jetzigen Zeitpunkt mehr als bloße Gebrauchsregularitäten eines ‚normalen‘ Sprechens darstellen und die Erstellung einer entsprechenden Grammatik des gesprochenen Portugiesisch einfordern. Momentan erkenne ich allerdings noch keine Öffnung für ein solch alternatives Konzept zur angemessenen Untersuchung von Erscheinungen des gesprochenen Kontinentalportugiesisch. Dieses würde m.E. einer konsequenten pragmatischen Sicht auf die Ausdrucksweisen und Strukturen des gesprochenen Portugiesisch bedürfen. Hinzu käme die Anwendung von neuen linguistischen Konzepten, wie sie z.B. die ‚Interaktionale Grammatik‘, die ‚Construction Grammar‘ oder auch das ‚Modell des Nähe- und Distanzsprechens‘ bereitzustellen.

      Als ein Schritt auf diesem Weg sollen die Überlegungen und Ergebnisse mit beitragen, die ich in der vorliegenden Arbeit zur Verfügung stelle.

      In Brasilien könnte die Lage hinsichtlich der Erforschung des gesprochenen Portugiesisch kaum unterschiedlicher sein. Bereits ein kleiner Streifzug durch die Bibliotheken der FLUL oder eine Recherche im Internet führen zu dem Schluss, dass es an vielen brasilianischen Universitäten und Forschungszentren in den letzten Jahren eine große Zahl von Projekten mit einer entsprechend hohen Zahl von Veröffentlichungen gibt, die sich der Erforschung der brasilianischen Variante des gesprochenen Portugiesisch widmen. Entsprechende Forschungen scheinen auch in den letzten Jahren nichts von ihrer Attraktivität eingebüßt zu haben.

      Im Zentrum dieser Forschungen zur gesprochenen Sprache steht das Projekt NURC (Estudo da Norma Urbana Culta), das sich seit Beginn der Forschungen als Ziel die Beschreibung des brasilianischen Portugiesisch in den urbanen Zentren Brasiliens São Paulo, Rio de Janeiro, Recife, Porto Alegre und Salvador gesetzt hatte16. Um sich der Bedeutung und der historischen Voraussetzungen dieses Ziels bewusst zu werden, sollte sich der Leser daran erinnern, dass es noch Mitte der 60er Jahre in Brasilien an allen Voraussetzungen für ein solches Projekt kultureller Identitätsfindung mangelte. Zudem sollte man bedenken, dass dieses ‚Riesenland‘ noch bis in die 80er Jahre durch einen sehr hohen Anteil von Analphabeten geprägt17 war, und die strengen Vorlagen des damals herrschenden Militärregimes das akademische Leben an den Universitäten in seinen Möglichkeiten erheblich einschränkten18. Nicht zuletzt weil die Darstellung einer eigenen Nationalsprache aus Gründen


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