Spanische Lexikologie. Bernhard Pöll
boicote + -e(ar) → boicotear, carbón + -iz(ar) → carbonizarA → V:simple + -ific(ar) → simplificar; estable + -iz(ar) → estabilizar (Stammallomorphie); verde + -e(ar) → verdear
3.3.1.2 Im Unterschied zur Suffigierung tritt bei der Präfigierung nie ein Wortartenwechsel ein. Da manche Präfixe auch als Präpositionen bzw. Adverbien frei vorkommen (a, ante, con, contra, en, entre, sobre, tras) wird die Präfigierung in der Literatur manchmal zur Komposition gezählt oder als zwischen Derivation und Komposition stehend betrachtet. So unterscheiden Berschin et al. (2012) z.B. zwischen Präpositionalkomposition (mit Beispielen wie entreacto, sobrecargar oder transnacional) und Präfigierung (im Rahmen der Derivation; Bsp.: panamericano, paramilitar, archifamoso etc.). Wir folgen hier vor allem aus beschreibungsökonomischen Gründen in der Darstellung Schpak-Dolt (2012, 106) und betrachten alle Fälle als Präfixbildungen im Rahmen der Derivation. Dies setzt die Annahme einer Homonymiebeziehung5 zwischen (freien) Präpositionen und (gebundenen) Präfixen voraus.
Die meisten Präfixe verbinden sich mit verschiedenen Wortarten. Von den gut 200 spanischen Präfixen, die Rainer (1993, 299–379) beschreibt, können wir hier nur die geläufigsten aufführen und mit Hilfe eines Beispiels grob nach ihrer semantischen Leistung klassifizieren, wobei viele der klassifizierten Präfixe natürlich auch andere Funktionen haben können:
Negations-/Privativpräfixe: a- (mit Allomorph: an-; ahistórico, anorgánico); in- (mit Allomorphen: i-, im-; indisciplina, ilegal, imposible); anti- (anticonceptivo); contra- (contradecir); des- (Allomorphe: dis-, de-; desvalorizar, discontinuo, devaluar) etc.;
Richtungspräfixe: a- (acorrer); retro- (retroactivo); en- (enterrar); re- (reexportar);
Temporale Präfixe: pos(t)- (posponer); pre- (precolombino);
Graduierungs-/Intensivierungspräfixe: hipo- (hipotensión); super- (superdenso); ultra- (ultraligero); sub- (subdesarrollo); archi- (archicatólico);
Quantifizierende Präfixe: mono- (monocultivo); tri- (trimensual); poli- (policéntrico); pan- (panarabismo).
Diese Liste enthält auch zahlreiche Präfixoide, das sind ursprünglich griechisch-lateinische Vollwörter (meist Substantive und Adjektive), die im Spanischen in aller Regel nicht frei vorkommen. Deshalb kann man sie zur Präfigierung zählen. Beispiele: geo- (gr. ‘Erde’; geofísica), hidro- (gr. ‘Wasser’; hidro-avión), auto- (gr. ‘selbst’; autocensura), video- (lat. ‘ich sehe’; videoconferencia) usw. Aufgrund des erwähnten Vollwortcharakters werden solche Bildungen manchmal auch als Komposita klassifiziert (z.B. Thiele 1992, 110ff.).
3.3.1.3 Drei Sonderfälle im Zusammenhang mit der Derivation müssen noch erwähnt werden:
1 die regressive Derivation (oder Rückbildung), bei der aus einem morphologisch komplexen Wort durch Tilgung – und gegebenenfalls nachfolgende Anfügung eines anderen Wortbildungselements – ein neues Wort abgeleitet wird, z.B. legislador → legislar; teledetección → teledetectar;
2 die Konversion (oder Nullableitung), die zu einem Wortartenwechsel führt, ohne dass ein Flexionsaffix hinzutritt: deber → el deber; bueno → lo bueno; derecho → el derecho; entonces (Adv.) → entonces (A) usw. und
3 die parasynthetische Derivation, bei der gleichzeitig ein Präfix und ein Suffix an die Basis treten. Dies lässt sich daran erkennen, dass keine der Zwischenformen existiert: des- + alma- + -ado und nicht *desalma + -ado oder des- + *almado, analog enmohecer, atemorizar u.v.a. Eine parasynthetische Derivation ist allerdings nur dann anzunehmen, wenn andere (binäre) Konstituentenanalysen nicht möglich sind. Unter diesem Gesichtspunkt ist z.B. enriquecimiento nicht als Parasynthetikon zu interpretieren, sondern als regelmäßige deverbale Ableitung von enriquecer. Dieses Verb ist freilich parasynthetisch (en + rico + ec(er), weil *enrico und *riquecer).6
3.3.2 Komposition
Bei der Komposition treten zwei freie lexikalische Morpheme oder flektierte Formen zu einer größeren Einheit zusammen: sordo + mudo → sordomudo ‘taubstumm’; guardar + barrera → guardabarrera ‘Bahnwärter’; pelo + rojo → pelirrojo ‘rothaarig’; hombre + rana → hombre-rana ‘Froschmann’; por + venir → porvenir ‘Zukunft’ usw. Als Erst- und Zweitkonstituenten kommen alle Wortarten vor; besonders häufig sind Substantive, Adjektive und Verben. In einigen Fällen treten Fugenelemente auf (z.B. -i- in pelirrojo).1
Anhand der Beispiele sordomudo und hombre-rana kann man die beiden grundlegenden Beziehungen zwischen den Komponenten von Komposita beschreiben: (a) koordinativ: sordomudo bedeutet das gleichzeitige Vorhandensein der durch die Adjektive ausgedrückten Eigenschaften, (b) subordinativ: in hombre-rana ist das zweite dem ersten Nomen untergeordnet und bestimmt dieses näher. Diese Einteilung in koordinative (Kopulativ-) Komposita und subordinative (Determinativ-) Komposita ist sehr grob, wie die folgenden Beispiele zeigen, in denen das Verhältnis zwischen den Komponenten der N+N-Komposita durch eine Paraphrase verdeutlicht wird (cf. Zierer 1993, 120f.):
alumno problema: N1 ist N2
vestido sastre: N2 ist der Urheber von N1
viaje relámpago: N1 hat ein wesentliches Merkmal von N2
radio periódico: N1 dient als Medium oder Instrument für N2
papel periódico: N1 ist für N2 bestimmt
decreto ley: N1 hat die Wirkung von N2
usw.
Im Vergleich zum Deutschen sind echte Komposita im Spanischen relativ selten; in vielen Fällen behalten die spanischen Komposita gewisse Eigenschaften von freien Kombinationen bei, insbesondere, wenn die zugrundeliegenden Beziehungen syntaktisch interpretiert werden können. Dies gilt insbesondere für Bildungen des Typs N + N,2 N + A und A + N. Während z.B. Komposita des Typs V + N oder A + A vollständig verschmolzen sind und die Pluralmarkierung daher am Ende der neu entstandenen lexikalischen Einheit erfolgt, zeigen die erwähnten Kompositionstypen ein sehr uneinheitliches Verhalten: contestador automático ‘Anrufbeantworter’ markiert den Plural an beiden Konstituenten, ricadueña ebenfalls, obwohl es im Unterschied zum ersten Beispiel nur eine Akzentstelle hat und auch graphisch verschmolzen ist; das nach dem gleichen Prinzip gebildete caradura wiederum bildet den Plural “regelmäßig” (caraduras), obwohl formal der gleiche Verfestigungsgrad festzustellen ist (eine Akzentstelle, graphische Amalgamierung). Diese Unterschiede korrelieren nicht mit der Bedeutungsstruktur der Komposita und betreffen gleichermaßen endozentrische wie exozentrische Komposita.
Mit diesen Begriffen beschreibt man den Umstand, dass im ersten Fall die Bildung das bezeichnete Objekt auch formal ausdrückt und das Determinatum die grammatische Kategorie, das syntaktische Verhalten und die Distribution festlegt, während im zweiten Fall keine Komponente auf das Denotat hinweist, cf. hombre-rana ‘Froschmann’ vs. piel roja ‘Indianer’: Ein hombre-rana ist ein hombre, das Kompositum übernimmt von dieser Komponente die syntaktischen und kategoriellen Merkmale; piel roja bezeichnet keine spezifische Form von Haut und erhält weder das Genus noch die Distribution von piel.
Ein im