Das Wort. Eric Fuß

Das Wort - Eric Fuß


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Morpheme identifiziert, die im vorliegenden Beispiel zufällig gleichlautend sind (Pluralsuffix -er vs. Komparativsuffix -er).

      Es bleibt noch zu klären, wie sich der Begriff des Morphems relativ zu anderen grundlegenden grammatischen Analyseeinheiten wie Wort und Silbe verhält. Wir haben bereits am Beispiel von Wolke gesehen, dass Wörter und Morpheme zusammenfallen können. Wörter, die nicht mehr in kleinere morphologische Einheiten zerlegbar sind, bezeichnet man auch als einfache Wörter oder Simplizia (Vogel, Nest, Gold, Kind, grün, blau, aus, ein, Bau, etc.). Besteht ein Wort aus mehreren Morphemen, spricht man auch von einem komplexen Wort (Vogel+nest, Gold+kind, grün+blau, Aus+bau, Ein+bau, ein+bau+en, Kind+er, kind+lich, Kind+lich+keit etc.)

      Ähnlich wie bei der Relation zwischen Wort und Morphem können auch Morphem- und Silbengrenzen zusammenfallen (wie etwa in Ein-bau oder Gold-kind). Das Verhältnis von Morphem und Silbe wird aber dadurch verkompliziert, dass die Grenzen der beiden Analyseeinheiten oft nicht nur nicht-identisch sind, sondern sich auch überschneiden können. So besteht etwa steh-st (2. Person Singular von stehen) aus einer Silbe, aber zwei Morphemen, während die morphologische Struktur von Kinder (Kind+er) andere Grenzen aufweist als die Silbenstruktur (Kin-der).

      2.3.2 Typen von Morphemen

      Um die Bestandteile und den inneren Aufbau von Wörtern präzise beschreiben zu können, sind weitere begriffliche Unterscheidungen zwischen verschiedenen Typen von Morphemen notwendig. Wir haben bereits gesehen, dass bestimmte Morpheme auch gleichzeitig eigenständige Wörter sein können. In diesem Fall spricht man von freien Morphemen. Wortbausteine wie -en, -er, -lich, -keit, die nicht selbständig auftreten können, bezeichnet man hingegen als gebundene Morpheme. Gebundene Morpheme, die an ein lexikalisches Trägerelement bzw. eine lexikalische Basis herantreten, werden in der Sprachwissenschaft unter dem Oberbegriff Affix zusammengefasst. Abhängig von ihrer Position relativ zur Basis unterscheidet man zwischen Präfixen (z.B. ver-, ent-, be-) und Suffixen (-ung, -s, -er). Das Deutsche verfügt überdies über einige wenige Zirkumfixe, bei denen ein bestimmtes Merkmal durch eine Kombination aus Prä- und Suffix signalisiert wird wie im Falle des Partizip Perfekt/Partizip II:

(10)ge+V+t (schwache Verben)
ge-kauf-t, ge-sag-t, ge-lieb-t, ge-mach-t, ge-lach-t, ge-räucher-t etc.
(11)ge+V+en (starke Verben)
ge-sung-en, ge-seh-en, ge-ruf-en, ge-ronn-en, ge-rat-en, ge-fror-en etc.

      Einige der Partizipien in (10) und (11) enthalten eine lexikalische Basis wie sung oder ronn, die nicht ohne Weiteres als freies Morphem auftreten kann. Offenbar können also auch lexikalische Elemente in gebundener Form, d.h. unterhalb der Wortebene auftreten. Abhängig davon, ob die lexikalische Basis eines Wortes einfach oder (potentiell) komplex ist, unterscheidet man zwischen Wurzeln und Stämmen (Fuß 2012: 52):

      Wurzel: Wurzeln sind die einfachste, atomare Form lexikalischer Morpheme. Sie enthalten keinerlei Affixe und bilden den lexikalischen Kern von Wörtern.

      Stamm: Ein Stamm ist ein (potentiell komplexer) Teil eines Worts, der noch nicht Gegenstand von Flexionsprozessen gewesen ist.

      Die Unterscheidung zwischen Stamm und Wurzel ist unter anderem dadurch motiviert, dass in vielen Sprachen Stämme mithilfe morphologischer Prozesse aus lexikalischen Wurzeln abgeleitet werden.1 Stämme können also morphologisch komplex sein und eine Kombination aus einer Wurzel und weiteren Wortbausteinen darstellen. Die begriffliche Trennung von Stamm und Wurzel ist im Deutschen allerdings weniger leicht nachvollziehbar, da Wurzeln und Stämme oft zusammenfallen und auch frei auftreten können. Substantive wie Reim, Kauf, Rausch, Adjektive wie blau, gut, schön oder Adverbien wie oft, selten, gern sind gleichzeitig Wurzeln, Stämme und Wörter. Während Substantive und Adjektive Flexionsmorpheme tragen können (Reim-e, der blau-e Fisch) und somit Eigenschaften von Stämmen zeigen, treten Adverbien generell unflektiert auf.

      Die Unterscheidung zwischen Stamm und Wurzel lässt sich aber auch für das Deutsche motivieren, und zwar an Vokalwechseln, die die Klasse der sog. starken Verben betreffen. Hier können wir beobachten, dass unterschiedliche Tempus- und Modusformen des Verbs nicht nur durch Affixe, sondern durch Veränderungen des Stammvokals markiert werden, die bestimmten Mustern folgen. Dieses Phänomen nennt man Ablaut; die bei den Vokalwechseln auftretenden Muster werden als Ablautreihen oder Ablautgruppen bezeichnet (vgl. die erste Spalte in Tabelle 2):2

VokalalternationPräsensPräteritumPartizip Perfekt
i-a-ufind-fand-(ge)-fund-(en)
e/i-a-egeb-, gib-gab-(ge)-geb-(en)
i-a-orinn-rann-(ge)-ronn-(en)
ie-o-ofrier-fror-(ge)-fror-(en)
ei-ie-ieschein-schien-(ge)-schien-(en)

      Tabelle 2: Beispiele für Ablautreihen im Deutschen

      Die in einer Zeile stehenden Verbformen sind jeweils verschiedene Stämme einer zugrundeliegenden Wurzel, die noch flektiert werden können. Ein Verbstamm lässt sich also durch die Faustregel „flektierte Verbform minus Flexionsendung = Stamm“ ermitteln. Die Wurzel, aus der die verschiedenen Stämme per Ablaut abgeleitet werden können (die sog. Nenn- oder Zitierform), entspricht im Deutschen dem Stamm, der im Infinitiv bzw. der 2. Person Plural Präsens Indikativ erscheint (ihr findetfinden). Da die Unterscheidung zwischen Stamm und Wurzel aber in vielen Fällen keine Rolle spielt, werden im Folgenden meist die Begriffe „Stamm“ oder „Basis“ verwendet.

      2.3.3 Das Phänomen der Allomorphie

      Eine andere Art von Morphemalternation zeigt sich bei der Pluralbildung (vgl. 4.1 für die Unterscheidung zwischen Ablaut und Umlaut):

PluralendungBeispiele
-eTag, Tag-e
-e (mit Umlaut)Gast, Gäst-e (fem.: Laus, Läus-e)
-(e)nBett, Bett-en; Hantel, Hantel-n
-erBrett, Brett-er
-er (mit Umlaut)Haus, Häus-er
-Ø (endungslos)Engel, Engel-Ø
-Ø (endungslos mit Umlaut)Tochter, Töchter-Ø
-sAuto, Auto-s

      Tabelle 3: Pluralendungen im Deutschen

      Nach gängiger Auffassung kann der Plural von Substantiven im Deutschen auf insgesamt acht verschiedene Weisen gebildet werden. Entscheidend ist dabei, dass die Varianten dazu dienen, ein- und dieselbe grammatische Eigenschaft zu kodieren (den Wert „Plural“ des Merkmals Numerus), während durch Ablautreihen Varianten lexikalischer Stämme erzeugt werden, die eine jeweils unterschiedliche morphosyntaktische Funktion besitzen (z.B. Imperativ: Gib mir das Buch vs. Präteritum: Sie gab mir das Buch). In Anlehnung an die phonologische Unterscheidung zwischen Allophonen und Phonemen1 spricht man in diesem Zusammenhang auch von Allomorphen eines Morphems.2

      Allomorphie: Allomorphe sind Varianten eines Morphems, die in einem bestimmten lautlichen, morphologischen oder lexikalischen Kontext auftreten.

      Dass die Wahl von Allomorphen von der Umgebung bestimmt ist, in der ein Morphem auftritt, lässt sich ebenfalls anhand der Pluralbildung im Deutschen anschaulich machen (vgl. Duden 2016: 181ff.). Ein wesentlicher morphologischer Faktor für die Verteilung der Pluralallomorphe ist das Genus des Substantivs. So lautet eine Grundregel, dass der Plural von Feminina mit -en oder -n gebildet wird. Die Wahl zwischen -en und -n ist aber phonologisch gesteuert: Enthält die vorangehende Silbe den sog. Schwa-Laut [ə], so muss -n gewählt werden (RegelRegel-n, *Regel-en). In allen anderen Fällen


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