Das poetische Theater Frankreichs im Zeichen des Surrealismus. Susanne Becker
des Theaters zu besinnen. Die Dramatiker der neuen Avantgarde hegten ein theaterspezifisches Interesse und machten sich mit den Regeln der Bühne vertraut. Zudem erforschten sie das Theater auch in seiner Differenz zu anderen Genres und Medien. Sie wollten die Institution Theater nicht abschaffen, sondern erkannten sie stillschweigend an. Das Theater war kein Mittel zum Zweck mehr, sondern der Zweck an sich, es war zu einer eigenen und ernst zu nehmenden Kunstform geworden. So schreibt das postdramatische Künstlerkollektiv SheShePop beispielsweise auf seiner Website, es sehe seine Aufgabe „in der Suche nach den gesellschaftlichen Grenzen der Kommunikation – und in deren gezielter und kunstvoller Überschreitung im Schutzraum des Theaters.“13 Und die Gruppe Rimini Protokoll konzentriert sich auf „die Weiterentwicklung der Mittel des Theaters, um ungewöhnliche Sichtweisen auf unsere Wirklichkeit zu ermöglichen“14. Weiterentwicklung des Theaters und Grenzüberschreitung im Schutzraum des Theaters – das strebt die Theateravantgarde nach 1945 an.
Die Rezeption des unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzenden nouveau théâtre begann Anfang der 1960er Jahre und damit früher als die des historischen Avantgardetheaters. Esslin (1961) etablierte in seiner viel beachteten Studie den umstrittenen Begriff des „absurden“ Theaters. Es folgten u.a. Barthes15 (1961), Pronko16 (1962), Corvin (1963) und Serreau (1966), die den Begriff des nouveau théâtre prägte, Guicharnaud (1967), Daus (1977) und Blüher17 (1982). Ende der 1960er Jahre, nach zwei Jahrzehnten also, waren die Autoren des nouveau théâtre bereits zu Klassikern geworden.
Das nouveau théâtre lässt sich in zwei Orientierungen unterscheiden: das Theater des Absurden (Beckett, Ionesco, Adamov, Genet etc.) und das poetische Theater (Pichette, Vauthier, Audiberti, Schehadé, Obaldia, Weingarten etc.). Während das absurde Theater in der französischen und deutschen Forschung auf eine kontinuierliche Rezeptionsgeschichte zurückblicken kann, kann für das poetische Theater davon nicht ansatzweise die Rede sein. Der Begriff des poetischen Theaters hat sich zwar etabliert18, die Strömung bleibt aber in der Forschung unterrepräsentiert. Das poetische Theater wurde bisher nicht in seiner ästhetischen Eigenexistenz untersucht. Allgemein wurden die Stücke der Theaterpoeten eher als späte Ausläufer des sich erschöpfenden Surrealismus angesehen oder als „minor works“19, die eine vorbereitende Funktion im Hinblick auf das absurde Theater gehabt hatten. Dem poetischen Theater wurde damit jegliches Neuerungspotential abgesprochen, es stand im Schatten des absurden Theaters, das „reléguait au second rang les beaux divertissements de nos poètes“20.
In den 1960er Jahren fand erneut ein Bruch im Avantgardetheater statt. Mit dem postdramatischen und performativen Theater war ein Paradigmenwechsel zu beobachten, der vor allem in der deutschsprachigen Theatertheorie aufgegriffen wurde. Der Begriff des postdramatischen Theaters wurde von Hans-Thies Lehmann (1999) in seinem gleichnamigen und breit rezipierten Buch geprägt. Erika Fischer-Lichte (2004) hat in ihrer Ästhetik des Performativen die „performative Wende“21 am Theater ab den 1960er Jahren beschrieben.
Während sich nach dem Zweiten Weltkrieg die äußeren Bedingungen avantgardistischen Theaterschaffens tiefgreifend verändert hatten, fand mit dem postdramatischen Bruch nun eine innere Transformation des Avantgardetheaters statt. Die Errungenschaften des historischen Avantgardetheaters und des nouveau théâtre wurden insofern relativiert, als diese noch einem dramatischen (also einem literarischen und textbasierten) Theater zugerechnet wurden.22 Die Unterschiede stellen sich folgendermaßen dar.
Während die dramatische Theateravantgarde noch überwiegend ein Sprachtheater machte und von Autoren dominiert wurde, herrscht im postdramatischen Theater die Gleichberechtigung aller Bühnenmittel sowie die Figur des Regisseurs.
Im historischen Avantgardetheater und im nouveau théâtre diente die Bühne zur Abbildung einer bereits existierenden (inneren) Realität. Die postdramatischen Theaterarbeiten sind dagegen „wirklichkeitskonstituierend“23, sie bringen eine noch nicht existente Realität erst hervor.
Das dramatische Avantgardetheater gehörte in der Tendenz noch einem kodierten Theater an, in dem die einzelnen Bühnenelemente auf etwas anderes verwiesen als auf sich selbst. Michael Kirby spricht in diesem Zusammenhang von einer „information structure“24, wo alle Elemente (z.B. Text, Licht, Bewegung etc.) Bedeutung erzeugen und zusammengenommen helfen, das Stück verständlich zu machen. Das postdramatische Theater ist dagegen „selbstreferenziell“25 und basiert auf dem, was Kirby „[c]ompartmented structure“26 genannt hat: die einzelnen Elemente verweisen auf nichts anderes als auf sich selbst und erzeugen weder als Einzelteile noch in ihrer Gesamtheit Bedeutung.
Während die Kategorien Handlung, Zeit, Ort und Figur im Avantgardetheater der ersten Jahrhunderthälfte lediglich aufgeweicht wurden, werden sie in der zweiten Jahrhunderthälfte radikal erschüttert. Der Akteur spielt nun keine Rolle mehr in einer imaginierten Situation, sondern er stellt sich selbst dar in Echtzeit und dort, wo das Geschehen wirklich stattfindet. Kirby hat dies „[n]on-matrixed performing“27 genannt, weil hier die Zeit-Ort-Figur-Matrix nicht mehr respektiert wird.
Im dramatischen Avantgardetheater herrschte keine gleichberechtigte Beziehung zwischen Akteuren und Publikum, die „feedback-Schleife“28, also die Interaktion zwischen Akteuren und Zuschauern, wurde hier von den Akteuren gesteuert und manipuliert. Im Gegensatz dazu waren Akteure und Zuschauer im postdramatischen Theater gleichberechtigt: die Aufführung sollte nun ein gemeinschaftliches Erlebnis für alle Beteiligten sein, die Machtverhältnisse, die zuvor noch geherrscht hatten, waren aufgehoben.
Indem es versucht hat, die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum aufzuweichen, hat das dramatische Avantgardetheater Kunst und Leben als zwei sich voneinander unterscheidende Sphären wahrgenommen. Mit dem postdramatischen Theater wurde dagegen die Kunst-Leben-Dichotomie in Frage gestellt. Der Happening- und Performancekünstler Allan Kaprow stellte in seinem Manifesto (1966) klar: „Art and life are not simply commingled; the identity of each is uncertain.“29 Performance-Kunst zeige, so Kaprow in Performing Life (1979), „equally the artificial aspects of everyday life and the lifelike qualities of created art“30.
2.7 Die Avantgarde im 21. Jahrhundert
Angesichts der zahlreichen Avantgardemodelle kann man wohl mit Ionesco sagen: „L’avant-garde, c’est la liberté.“1 Es ist schwer, die Avantgarde auf eine Formel zu bringen. Der Avantgardebegriff ist ein pluralistischer, verschiedene Denkfiguren sind möglich, um ihn zu erfassen. Und auch die Bewertung der Beziehung zwischen historischer und Neo-Avantgarde hängt vom (geographischen und ideologischen) Standpunkt ab und steht damit zur Debatte.
Ergibt es also im 21. Jahrhundert noch Sinn, von der Avantgarde zu sprechen? Oder, wie Asholt jüngst in einem Essay titelte: „Brauchen wir noch eine Avantgarde-Theorie?“2 Für Philippe Dagen3 etwa hat das Avantgardekonzept in unserer globalisierten Welt nicht nur ausgedient, es hindert auch daran, die aktuelle Kunst in angemessenen Kategorien zu denken. Dagegen ist die Avantgarde für Gilcher-Holtey4, die deren Echo in den globalisierungskritischen Bewegungen des 21. Jahrhunderts erkennt, durchaus noch aktuell. Diese divergenten Meinungen zeigen, dass es immer noch Klärungsbedarf gibt.
Die Avantgardeforschung hat im 21. Jahrhundert neue Forschungsfelder erschlossen. Nachdem historische Avantgarde und Neo-Avantgarde mittlerweile beide historisch geworden sind, widmet sich die Forschung nun dem Altern der Avantgarde, d.h. den Problemen und Widersprüchen einer alternden, aber dennoch gerontophoben und auf Jugendlichkeit ausgerichteten Avantgarde. Einerseits will die alternde Avantgarde ihren einstigen revolutionären Intentionen treu bleiben und blendet dabei ihr Altern aus, wodurch sie riskiert, sich der Lächerlichkeit preiszugeben. Andererseits tendiert sie zu konservativen Lebensformen und sieht sich dem Vorwurf des Verrats ihrer früheren umstürzlerischen Absichten ausgesetzt. Hier steht eine „linke Avantgardenvergreisung einem rechten Greisenavantgardismus“5 gegenüber. Ein Beispiel dafür, welche Themen von alternden Avantgardisten heute besetzt werden, liefert der Ex-Kommunarde und Alt-68er Rainer Langhans: er macht sich nun Gedanken über das „Sterbenlernen“ und das Überleben des physischen Todes, zuletzt im 2014 erschienenen Dokumentarfilm Good luck finding yourself6 von Severin Winzenburg über Langhans, die krebskranke Jutta Winkelmann und weitere Mitglieder des „Harems“ auf ihrer spirituellen Reise nach Indien.
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