Das poetische Theater Frankreichs im Zeichen des Surrealismus. Susanne Becker
wichtig für die Entwicklung des Theaters allgemein gewesen sei.6 Surrealistische Elemente in Monsieur Bob’le sind die Absenz von Handlungs- und Figurenkohärenz, Traumwirklichkeit, die Entpsychologisierung der Figuren und vor allem die Poesie. Diese nimmt hier in der Gestalt des Monsieur Bob’le die Hauptrolle ein und transformiert alles und jeden, mit dem sie in Berührung kommt. Es ist eine Sprachpoesie, die sich vor allem in Weisheiten und Redewendungen ausdrückt und in einem Buch, dem „Trémandour“, gesammelt wird. Durch einen poetischen Sprachgebrauch kann die Realität neu erschlossen werden.
Im fünften und letzten Kapitel sollen die Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst und analysiert werden. Warum war das poetische Theater nicht erfolgreich? Wie kann es definiert werden? Welche surrealistischen Elemente sind im poetischen Theater zu finden? In welchen Figuren kann das Avantgardetheater gedacht werden? Welche Bedeutung hat das poetische Theater für die Theatergeschichte des 20. Jahrhunderts, und wie ist es innerhalb des Avantgardetheaters zu situieren?
Diese Arbeit ist eine textbasierte und keine aufführungspraktische Untersuchung. Abgesehen von methodischen Schwierigkeiten, die mit einer aufführungsorientierten Herangehensweise verbunden sind, scheint eine textbasierte Untersuchung nur konsequent, schließlich liegt der Fokus beim surrealistischen und poetischen Theater hauptsächlich auf der Sprache. Wo Rezensionen vorhanden sind, wird auch die Rezeption des poetischen Theaters in die Untersuchung miteinbezogen, da die Publikumsreaktionen Aufschluss geben über Akzeptanz und Avantgardecharakter des poetischen Theaters zur damaligen Zeit. Anliegen dieser Arbeit ist es auch, die Autoren – soweit möglich – selbst sprechen zu lassen, was die teilweise sehr ausführlichen Fußnoten erklärt. Zur Wiedergabe französischer Zitate ist anzumerken, dass das im Französischen übliche Leerzeichen vor bestimmten Satzzeichen („espace insécable“) nicht eingehalten wurde. Um die Fußnoten nicht weiter in die Länge zu dehnen, wurden die Seitenzahlen bei Zitaten aus Theaterstücken direkt im Text hinter den jeweiligen Zitaten angegeben.
2 Avantgarde und Theater
2.1 Ursprung des Avantgardebegriffs
Der Avantgardebegriff entstammt ursprünglich dem Militärjargon und wird im Brockhaus von 1892 folgendermaßen definiert:
Avantgarde (spr. awáng-, Vorhut, Vortrab), diejenige Abteilung eines marschierenden Truppenkörpers, welche dieser (das Gros) auf eine gewisse Entfernung vorschiebt, um sich gegen die Erkundung durch den Gegner und seine überraschenden Angriffe zu sichern sowie Nachrichten über denselben zu erhalten. […] Eine A. teilt sich nach vorwärts in immer kleiner werdende Abteilungen bis zu der ganz vorn marschierenden Spitze. Jede dieser Abteilungen hat den Zweck, der nachfolgenden stärkern eine größere Sicherheit und Zeit zu gewähren, um sich in Gefechtsbereitschaft zu setzen. […] Die vorgeschobenen kleinern Abteilungen haben sich nach der ihnen folgenden größern in betreff der Fortbewegung zu richten.1
Zeitlich-örtliches Voraussein, Linearität, Kampfbereitschaft, die Existenz einer kleinen Gruppe an der Spitze, auf die mit einiger Verzögerung das Gros folgt, das Erforschen eines unbekannten und gefährlichen Terrains – diese Charakteristika der militärischen Avantgarde werden später auch mit der künstlerischen Avantgarde assoziiert.
In den gesellschaftlichen Kontext ging der Avantgardebegriff erstmals im 19. Jahrhundert über. Die Forschung schreibt dem Saint-Simonisten Olinde Rodrigues (1825) sowie dem Fourieristen Gabriel-Désiré Laverdant (1845) die erste metaphorische Verwendung des Avantgardebegriffs zu. Beide thematisierten die Beziehung zwischen Kunst und Gesellschaft und sahen den Künstler-Seher in einer sozialen Vorläuferrolle. Die Verquickung zwischen militärischem und metaphorischem Avantgardebegriff ist noch bei Baudelaire zu beobachten. In seinem Vademecum Mon cœur mis à nu (1859-1866) macht er sich über die Affinität der Franzosen zu militärischem Vokabular lustig, spricht sich gegen engagierte Kunst aus und nennt die linksradikalen Schriftsteller abschätzig „[l]es littérateurs d’avant-garde“2.
Eine Politisierung des Avantgardebegriffs ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu beobachten. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert verliert der Begriff allmählich seine militärische und politische Bedeutung und etabliert sich im literarisch-künstlerischen Feld, mit dem er nun ausschließlich assoziiert wird. Die Neo-Impressionisten gelten als erste Kunstbewegung, die sich selbst als Avantgarde bezeichnet hat. Im Rahmen der letzten Ausstellung der Impressionisten im Jahre 1886 präsentierten Maler um Georges Seurat, der in seinem Gemälde Un Dimanche à la Grande-Jatte als erster die neo-impressionistische Technik angewandt hatte, ihre Werke der Öffentlichkeit. In einem Artikel über diese Ausstellung schrieb der Kunstkritiker Félix Fénéon, der den Ausdruck „néo-impressionnisme“ erfunden hatte, über Seurat, Signac, die Pissarros und Dubois-Pillet, sie seien „à l’avant-garde de l’impressionnisme“3. Der Avantgardebegriff war damit mitten in der Kunst angekommen, auch wenn er aufgrund der Aufsplitterung der avantgardistischen Bewegungen in Ismen nicht als Eigenbezeichnung verwendet wurde. Spätestens mit dem Aufkommen der Neo-Avantgarde ab den 1950er Jahren ist der Avantgardebegriff im Mainstream gelandet, wo er heute omnipräsent ist.
2.2 Aktualität der Avantgarde
In der Kunstwelt ist die Avantgarde noch immer aktuell. Davon zeugen beispielsweise die Ausstellungen Marcel Duchamp. La peinture, même im Jahr 2014/15 und Le Surréalisme et l’Objet im Jahr 2013/14 am Pariser Centre Pompidou. Die Documenta 13 im Jahr 2012 bezog sich gestalterisch explizit auf den Surrealismus, sodass einige Besucher sie kritisch als „Surrealismus für Zuspätgekommene“1 bezeichnet haben.
Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis heute ist die Avantgarde auch in der Wissenschaft alles andere als erledigt. Zum „Jahrhundert der Avantgarden“2 oder „Zeitalter der Avantgarden“3 wurde das 20. Jahrhundert erklärt – eine schmeichelnde Bezeichnung, wenn man bedenkt, dass die Avantgarde nur etwa die Hälfte des letzten Jahrhunderts aktiv war. Dass die Avantgarde auch im wissenschaftlichen Diskurs noch hochaktuell ist, belegten in den letzten Jahren die Tagung „Avant-garde or Modernism: What remains of the Avant-garde Project?“4 am Freiburg Institute for Advanced Studies im Juni 2012 oder die seit dem Jahr 2008 alle zwei Jahre stattfindenden Konferenzen des European Network for Avant-Garde and Modernism Studies5 sowie das Kolloquium „Zwischen Kunst und Kommerz – zur Aktualität des Surrealismus“6 an der Universität Siegen im November 2007.
Vor allem aber hat sich der Avantgardebegriff in der Konsum- und Mediengesellschaft etabliert, wo er zur Vermarktungsstrategie geworden ist. So wirbt ein Hersteller von Hundegeschirr mit seinen „Avant Garde Dog Harnesses“ in vielfältigen Ausführungen. Ein Unternehmen für Sanitärtechnik verspricht „Erlebnis und Genuss für Anspruchsvolle“ in seiner „Avantgarde Massagewanne“. Ein Tester der Apple Watch für Die Zeit fragt: „Ist das Avantgarde oder nervt das nur?“7 Und als Antwort auf die Frage, wie Verlage ihre Autoren dazu bringen könnten, ihre Werke im Sinne des „transmedialen Storytellings“ an den app-versierten Leser zu bringen, antwortet ein Texttheoretiker: „Indem man sagt, das ist Avantgarde!“8
Eine „Entgrenzung“9 des Avantgardebegriffs vom künstlerischen ins kommerzielle Feld hat stattgefunden. Der Begriff ist von Kunst und Wissenschaft in alle anderen Lebensbereiche übergetreten, wo er eine inflationäre Anwendung findet und das bezeichnet, was technisch, ästhetisch oder funktionell als besonders avanciert, modern, neu und innovativ gelten soll. Die Trennung zwischen Avantgarde und Kitsch (sofern diese je bestanden hat, was bezweifelt werden darf), wie sie noch Clement Greenberg10 vorgenommen hat, wurde endgültig aufgehoben. Die Avantgarde ist in der „Ästhetisierung der Lebenswelt“11 zum Status Quo geworden, Neuheit und Avanciertheit, die einst nur punktuell aufblitzten, sind mittlerweile im Zuge des heute waltenden „Kreativitätsimperativ[s]“12, nach dem jeder kreativ sein soll und muss, zur Normalität geworden.
2.3 Die historische Avantgarde
Die Übertragung der Charakteristika des ursprünglich militärischen Begriffs (zeitlich-örtliches Voraussein, Linearität, Kampfbereitschaft, Erkundung eines unbekannten Terrains) auf die aktuelle kommerzielle „Avantgarde“ muss daher scheitern, denn wie kann die Avantgarde eine Vorhut sein, wenn das Gros sie