Die Mito-Medizin. Lee Know

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Signal allerdings schneller reagieren, so würde ihre DNA sich ausbreiten und irgendwann die „normalen“ Mitochondrien in der Zelle ersetzen. Wichtig ist dabei die Erkenntnis, dass derartige Mutationen eher dann auf alle Zellen im gleichen Gewebe übergreifen, wenn sie die Mitochondrienfunktion nicht sonderlich beeinträchtigen (wenn beispielsweise die Komponenten der Elektronentransportkette noch normal sind). Andernfalls würden solche Zellen einfach absterben.

      Mitochondrienmutationen im Codierungsbereich hingegen können innerhalb von bestimmten Zellen verstärkt werden, erfassen aber selten mehr als ein Prozent der Zellen in einem Gewebe. Das liegt daran, dass solche Mutationen mit hoher Wahrscheinlichkeit die Atmungskette beeinträchtigen, für die sie wichtige Untereinheiten codieren. Das Ergebnis wären mehr ausgetretene freie Radikale. Im Gegensatz zum normalen Ablauf könnte das Signal, mehr neue Komplexe zu erzeugen, das Defizit allerdings nicht beheben, weil alle neuen Proteine ebenfalls fehlerhaft wären. Das wäre eine Katastrophe – oder? Im Rahmen der modernen Version der Mitochondrien-Theorie zur Alterung trifft dies nicht zu. Hier würden defekte Mitochondrien dem Nukleus (Zellkern) signalisieren, dass sie nicht mehr richtig funktionieren. So kann die Zelle sich anpassen.

      Dieses Signal von den Mitochondrien an den Nukleus wird als retrograde Reaktion bezeichnet, weil sie der normalen Befehlskette (vom Zellkern an den Rest der Zelle) entgegenläuft. Letztlich geht es darum, das Stoffwechselproblem zu beheben. Beim retrograden Signal schaltet die Zelle auf anaerobe Energieproduktion um, die ohne Mitochondrien und Sauerstoff abläuft. Zugleich stimuliert dieser Schalter die Entstehung weiterer Mitochondrien, die mitochondriale Biogenese, welche die Zelle zugleich vor weiterem metabolischem Stress bewahrt. Langfristig ist dies die einzige Option, mit der eine Zelle ein bioenergetisches Defizit tatsächlich korrigieren kann.

      Die Mitochondrienpopulation ist ständig im Fluss. Bei einem eher leichten Energiedefizit teilen sich die Mitochondrien, und die Zellen vermehren die am wenigsten geschädigten Mitochondrien – weil diese noch am besten funktionieren. Defekte Mitochondrien sterben so irgendwann aus. Abgestorbene Mitochondrien werden im Rahmen der Mitochondrienversion der Apoptose (sogenannte Mitophagie) ordnungsgemäß zerlegt und ihre Bestandteile recycelt. So werden die am stärksten geschädigten, dysfunktionalen Mitochondrien unablässig aus der Gesamtmenge entfernt. Auf diese Weise können die meisten Zellen ihr Leben dank kontinuierlicher Korrektureingriffe rein theoretisch schier endlos ausdehnen.

      Habe ich gerade den Jungbrunnen enthüllt? Schon möglich. Doch wenn es ganz so einfach wäre, würde ich nach wie vor aussehen wie ein gut trainierter Mittzwanziger (wenn ich dies wollte), und das trifft definitiv nicht zu. Denn wir können die zerstörerischsten Mitochondrienmutationen zwar eliminieren, aber es gibt keine natürliche Methode, um sie auch zu ihrer vormaligen jugendlichen Frische zurückzuführen. Vielleicht werden wir eines Tages in der Lage sein, unbeschädigte, schlummernde Mitochondrien aus Stammzellen zu entnehmen und in jede andere Zelle einzuschleusen. Bis dahin werden aber wohl noch etliche Jahre ins Land gehen. Was hingegen möglich erscheint, ist die Fähigkeit, den Alterungsprozess hinauszuzögern oder sogar Krankheiten vorzubeugen, die mit dem altersbezogenen Verfall der Mitochondrien einhergehen.

      Wenn wir älter werden, verlassen sich die Zellen mehr und mehr auf defekte Mitochondrien. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Spirale rasch an Fahrt aufnimmt. Die Zelle und ihre Mitochondrien können ihr Verhalten nämlich anpassen, um die Kontrolle zu behalten und ein neues Gleichgewicht herzustellen. In den meisten Studien zum Nachweis geschädigter Proteine, Lipide und Kohlenhydrate wurden keine ernsthaften Unterschiede zwischen jungen und alten Zellen entdeckt. Stattdessen deutet einiges darauf hin, dass das Spektrum der operativen Gene in Mitleidenschaft gezogen wird, und das beeinflusst die Aktivität der Transkriptionsfaktoren. Inwiefern einige der wichtigsten Transkriptionsfaktoren aktiv werden, hängt von ihrem Redoxstatus ab, also ob sie oxidiert oder reduziert sind. Viele werden von freien Radikalen oxidiert und von speziellen Enzymen wieder reduziert. Dieses empfindliche Gleichgewicht zwischen beiden Redox-Zuständen bestimmt über ihre Aktivität. (Die Redox-Medizin ist ebenfalls ein vielversprechendes neues Forschungsthema.)

      Redoxsensitive Transkriptionsfaktoren können die Zellen wie ein Radarsystem auf Gefahren hinweisen und zu passenden Gegenmaßnahmen befähigen. Wenn sie oxidieren, werden Veränderungen angestoßen, die jede weitere Oxidation verhindern. Nrf-1 zum Beispiel ist ein nukleärer Transkriptionsfaktor („aus dem Nukleus“), der die Expression von Genen für die mitochondriale Biogenese koordiniert. Wenn immer mehr Zellbestandteile oxidieren, wird Nrf-1 aktiviert, der die Mitochondrien zur Teilung auffordert, um erneut einen ausgewogenen Redox-Status herzustellen. Zugleich induziert Nrf-1 die Expression diverser anderer Gene zum Schutz der Zelle, bis mehr Mitochondrien erzeugt werden.

      Je oxidierender die innere Umgebung einer Zelle wird, desto mehr verlagern diese redox-sensitiven Transkriptionsfaktoren die Aktivität der nukleären Gene – weg von der „Alltagsbürokratie“ und hin zum „Krisenmanagement“ der Stressabwehr. Dieses Umschwenken erzeugt in der Zelle ein neues Gleichgewicht, bei dem für das Krisenmanagement mehr Ressourcen abgestellt werden als für die eigentlichen Aufgaben. Dieses neue Gleichgewicht kann Jahre bis Jahrzehnte stabil bleiben. Da sich zumeist nur die am wenigsten geschädigten Mutationen replizieren, bestehen normalerweise keine offensichtlichen Hinweise auf Mitochondrienmutationen oder -schäden. Wir sterben also nicht gleich, aber wir registrieren, dass wir schneller müde werden, nach Krankheiten länger brauchen, um wieder gesund zu werden, oder vergesslicher werden.

      Die Mitochondrien-Theorie der Alterung erklärt, warum es nicht zu der Katastrophenspirale kommt, die uns gemäß der Freie-Radikale-Theorie oder den anderen ursprünglichen Mitochondrien-Theorien blühen müsste. Freie Radikale sollen auf Gefahren hinweisen, damit die Zelle sich anpassen kann. Die Mitochondrien-Theorie der Alterung erklärt auch, warum die Zelle nur so viele Antioxidantien enthält, wie sie braucht – bei einem Übermaß könnte sie nicht sensibel genug auf Veränderungen des Redox-Status‘ reagieren. Ohne freie Radikale würde das gesamte System versagen, und die Mitochondrien könnten sich weder an veränderte Umweltbedingungen noch an neue Anforderungen anpassen. Das würde sicherlich zu einer hohen Mutationsrate führen und uns allen ein rasches Ende bereiten.

      Nachdem sich die Zellen aber viele Jahrzehnte immer wieder an ein neues Gleichgewicht angepasst haben, gehen ihnen leider irgendwann die gesunden, normalen Mitochondrien aus. An diesem Punkt bleibt der Zelle bei dem Signal, die Mitochondrien zu erneuern, keine Wahl. Sie muss die defekten Mitochondrien vermehren. Am Ende übernehmen diese defekten Mitochondrien die Zelle.

      Wenn wir nun aber ein Organ oder Gewebe untersuchen, dass nicht mehr richtig funktioniert, finden wir keineswegs eine Fülle an Zellen mit fehlerhaften Mitochondrien, sondern es sind immer nur einige Zellen betroffen. Denn wenn die Zelle schließlich voller unbrauchbarer Mitochondrien steckt, erfolgt das Signal, sich durch Apoptose aus dem Organismus zu entfernen. Einerseits sehen wir deshalb auch in alterndem Gewebe keine größeren Mengen defekter Mitochondrien, andererseits beobachten wir einen langsamen, aber stetigen Rückgang der Gewebedichte und Gewebefunktion (zum Beispiel bei Osteoporose oder Sarkopenie). Und das ist ein entscheidender Beitrag zu Alterung, Krankheit und schließlich zum Tod. Die Sache ist jedoch noch komplizierter (was wiederum Hoffnung weckt!), denn in jüngster Zeit wurde nachgewiesen, dass Mitochondrien die mtDNA besser reparieren können, als man bisher glaubte. Angesichts der fünf bis zehn Kopien mtDNA, die normalerweise in jedem Mitochondrium vorliegen, ist jederzeit für jedes Gen noch eine gute Kopie vorhanden. Diese Kopie dient als Vorlage für die Rekombination (Reparatur) des beschädigten Gens. Was diese Entdeckung für das neueste Urteil zur Mitochondrien-Theorie der Alterung bedeutet, steht allerdings noch nicht fest.

      Nach wie vor entspricht die moderne Mitochondrien-Theorie der Alterung nicht nur aktuellen wissenschaftlichen Daten, sondern gewährt auch tief greifende Einblicke in die Pathologie degenerativer Alterskrankheiten, ihre Prävention und möglicherweise gar ihre Heilung.

      Jede Säugetierspezies hat eine theoretische maximale Lebenserwartung. Dank erheblicher Fortschritte in Medizin und Gesundheitswesen ist die durchschnittliche Lebenserwartung deutlich angestiegen, doch an der maximalen menschlichen Lebenserwartung von etwa 120


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