Vorgeschichte des politischen Antisemitismus. Paul W. Massing

Vorgeschichte des politischen Antisemitismus - Paul W. Massing


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Lamprecht, Deutsche Geschichte, 12 Bde., Berlin 1920–1922, Bd. 10, S. 481.

      3Veit Valentin, Geschichte des Deutschen Revolution von 1848–1849, 2 Bde., Berlin 1930, Bd. 1, S. 344–5.

      KAPITEL I

      Die Liberale Ära (1871-1878)

      Wie in anderen europäischen Ländern, so bildete auch in Deutschland der Kampf um die politische Emanzipation der Juden einen Teil des umfassenderen Kampfes zwischen den alten Feudalmächten und dem aufsteigenden Bürgertum. Erfolge und Mißerfolge der Juden in ihrem Ringen um bürgerliche Gleichberechtigung hingen aufs engste zusammen mit dem Schicksal des deutschen Liberalismus in seinem Streben nach Demokratie und nationaler Einheit. Das Emanzipationsgesetz selbst wurde erst 1869 vom Norddeutschen Bund angenommen. Aber schon in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hatte Deutschland auf seinem Wege zur Verstädterung und Industrialisierung den Juden wirtschaftliche, soziale und kulturelle Vorteile geboten, die ihnen in östlichen und südöstlichen Ländern Europas versagt blieben. Von 1816 bis 1848, also vom Ende der Napoleonischen Kriege bis zur Revolution, stieg die Zahl der jüdischen Bevölkerung von 300 000 auf 400 000. Jüdische Namen hatten Klang in Handel und Bankwesen, in Literatur und Politik. Eduard Simson, ein getaufter Jude und Professor der Rechte, wurde im Oktober 1848 Vizepräsident, im Dezember Präsident der Frankfurter Nationalversammlung. In der Periode der politischen Reaktion hingegen, die der Niederlage der Revolution folgte, sahen die Juden ihre bürgerlichen Rechte von fast allen deutschen Staaten wieder beschnitten.

      Bismarcks Plan der Einigung Deutschlands unter dem König von Preußen machte politische Zugeständnisse und Garantien notwendig. Es galt, uralte Ressentiments und Beschwerden gegen das orthodox-protestantische, feudale Preußen zu überwinden. Die Katholiken im Süden, die Hannoveraner (»Annexionspreußen«) im Norden und die Liberalen im Westen verlangten Schutz vor Übergriffen des Staates. Bismarck konnte nicht hoffen, die so ungleichen Teile der Nation unter einen Hut zu bringen, ohne ihnen Gleichheit vor dem Gesetz zu gewähren und das Recht, sich an der Regierung zu beteiligen.

      Im Zuge der notwendigen Konzessionen an den Liberalismus erreichten die deutschen Juden ihre Gleichberechtigung. Am 3. Juli 1869 wurden alle Juden im Norddeutschen Bund von jeglicher politischen Unterdrückung befreit. Das vom preußischen König als Bundespräsidenten verkündete und von Bismarck gegengezeichnete Gesetz erklärte:

      »Alle noch bestehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte werden hierdurch aufgehoben. Insbesondere soll die Befähigung zur Teilnahme an der Gemeinde- und Landesvertretung und zur Bekleidung öffentlicher Ämter vom religiösen Bekenntnis unabhängig sein.«

      Unter den süddeutschen Staaten hatte Baden 1862 die letzten Beschränkungen jüdischer Bürgerrechte aufgehoben, Württemberg 1864. Die bayrischen Juden errangen Rechtsgleichheit, als Bayern während des Krieges von 1870/71 dem Norddeutschen Bund beitrat.

      Die geschichtlichen Umstände, unter denen in Deutschland die Emanzipation der Juden zustande gekommen war, übten einen nachhaltigen Einfluß aus auf ihre gesellschaftliche Stellung. Die konservativen Mächte hatten zwar die staatsbürgerliche Gleichberechtigung nur unter politischem Druck gewährt, erwarteten aber gleichwohl Dankbarkeit und Gehorsam für das, was sie lieber als einen Akt christlicher Großmut betrachteten. Die Bitterkeit ihrer späteren Anklagen gegen nicht-konservative Juden glich den Gefühlen eines Wohltäters gegenüber einem Undankbaren. Überhaupt behielt die Emanzipation, da sie nicht das Resultat einer revolutionären Veränderung gewesen war, den Charakter eines Gnadenaktes: die Durchführung des Emanzipationsgesetzes sagte die Wahrheit über seinen Ursprung. In Preußen zum Beispiel unterließ es die Regierung, die Beamtenlaufbahn jüdischen Bewerbern zugänglich zu machen; sie zog es vor, auf feudale Traditionen Rücksicht zu nehmen. Juden waren als Anwälte zugelassen, aber nur ausnahmsweise als Richter; als Lehrer in Schulen, aber nur selten als Universitätsdozenten. Ein ungeschriebenes Gesetz hielt sie fern von der Staatsverwaltung, dem aktiven Armeedienst und fast allen öffentlich-rechtlichen Stellungen, außer wenn sie durch die Taufe – manchmal auch durch Namensänderung – bekundeten, daß sie auf ihre konfessionelle Identität verzichteten.

      »Nach der Konsolidierung des Reiches hatte es den Anschein, als ob das Gespenst der Judenfrage aus dem geeinten Deutschland endgültig verscheucht sei. Es war dies die Zeit, da die Juden in die höchsten deutschen Kreise Zutritt fanden und auf allen Gebieten des wirtschaftlichen Lebens festen Fuß faßten. Bei dem Bau von Eisenbahnen, der Gründung von Fabriken und der Errichtung von Handelshäusern spielte das jüdische Kapital eine führende Rolle. Die jüdische Intelligenz kam in den freien Berufen sowie in den den Juden zugänglichen Zweigen der Staatsverwaltung zur Geltung.«2)

      Diese Erfolge errangen die deutschen Juden in einer Zeit wirtschaftlicher und nationaler Aufwärtsbewegung. Eine bisher nicht gekannte Hochkonjunktur schien die Behauptung zu rechtfertigen, daß ungehemmter wirtschaftlicher Liberalismus die Interessen aller fördere. Schnell wurde der für den liberalen Kapitalismus notwendige gesetzgeberische und verwaltungstechnische Apparat aufgebaut. Die Gewerbeordnung von 1869 hatte bereits das Prinzip der Gewerbefreiheit statuiert. Nachdem durch die »Aktiennovelle« von 1870 alle hemmenden Vorschriften aufgehoben waren, konnten sich die Aktiengesellschaften frei entfalten. Die Reichsmünzgesetze von 1871 und 1873 führten den Goldstandard ein und spornten die deutsche Geschäftswelt an, ihre Position auf dem Weltmarkt zu verbessern.

      Der Optimismus der deutschen Unternehmer, der schon mit den schnellen Fortschritten der chemischen und Montanindustrie, der Eisenbahn, des Bankwesens und des Außenhandels ins Kraut geschossen war, kannte nach dem siegreichen Kriege von 1870/71 keine Grenzen mehr. Die unerwartet schnelle Bezahlung der französischen Kriegsentschädigung von fünf Milliarden Goldfranken gab dem Selbstvertrauen Deutschlands, und besonders dem des deutschen Bürgertums, neue Nahrung. Von 1866 bis 1873 stieg der industrielle Verbrauch von Roheisen auf über das Doppelte. Während des Jahres 1872 wurden in Preußen zweimal soviel Aktiengesellschaften gegründet wie in der ganzen Periode von 1790 bis 1867, darunter 49 Banken und 61 Unternehmen der chemischen Industrie. 1871 entstand die Deutsche Bank, 1873 die Dresdner Bank.

      Es war die Blütezeit des freien Unternehmertums in Deutschland. Ungeahnte wirtschaftliche Möglichkeiten schienen nur darauf zu warten, ausgenutzt zu werden. Noch nie war es so leicht gewesen, schnell reich zu werden, und wer nur konnte, stürzte sich in Börsengeschäfte. Die Ideologien für diese »Gründerzeit«, die Max Wirth in seiner »Geschichte der Handelskrisen«3) anschaulich dargestellt hat, wurden von den beiden liberalen Parteien geliefert, der Fortschrittspartei (4) und den Nationalliberalen; diese waren, unter dem Hannoveraner Rudolf von Bennigsen, Bismarcks zuverlässigste Verbündete (5).

      Die Weltmarktkrise von 1873 traf dieses optimistische, vorwärtsstrebende, wild spekulierende Reich wie ein Blitzschlag. Ein Börsenkrach, der viele schnell erworbene Vermögen zusammen mit einer Unzahl kleiner,


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