.
jemand auf die Idee kommen könnte, sich für meine Arbeit zu revanchieren. Ich hatte mir als Chefanklägerin des internationalen Strafgerichtshofs (ICTY, manchmal auch das »Kriegsverbrechertribunal« der UN genannt) für das ehemalige Jugoslawien ein paar mächtige Feinde gemacht und stand unter dem Schutz der Bundespolizei. Ich ließ mögliche Attentate nicht von meinen Gedanken Besitz ergreifen. Selbst der Sprengstoffanschlag in Sizilien von 1989 war nur noch eine verblassende Erinnerung. Doch nach Buenos Aires wollte ich von der Öffentlichkeit vergessen werden, nur noch bei meiner Familie gefragt sein.
Von der Terrasse aus konnte ich ganz Ascona überblicken. Hätte ich noch geraucht, wäre dies wohl ein idealer Moment gewesen, doch ich hatte meiner früheren Lieblingsbeschäftigung abgeschworen und alle Aschenbecher aus meiner Nähe verbannt. Das hat man davon, wenn man die Schwester von Ärzten ist. Sie reden einem pausenlos ins Gewissen.
Auch auf der Terrasse war ich seitlich durch eine Scheibe geschützt, an der jede Kugel abprallt. Gott sei gedankt für Panzerglasscheiben! Einmal war ein Wagen beschossen worden, in dem ich saß. Der Schuss war nicht zu hören, wohl aber sieht man den Aufschlag, wenn das Fenster splittert. An so etwas gewöhnt man sich nicht. Und dann die Beschimpfungen. Der damalige Justizminister Serbiens hatte mich in einem Schmähbrief als »die Hure Del Ponte« tituliert. Entlang einer serbischen Autobahn stand auf Werbeplakaten »Karla, die Hure« (mich störte eher, dass mein Name in Serbisch mit »K« geschrieben war). Die Mafiosi hatten mir den Übernamen »La Puttana« verpasst. Und im Tessin hatte der Präsident der Lega dei Ticinesi, Giuliano Bignasca, mir als Staatsanwältin den Kosenamen »Carlita la peste« verliehen.
Ich war keine Anpasserin und bin es gewohnt, gegen den Strom zu schwimmen. Madeleine Albright, die Außenministerin der USA, hatte einmal nach einem überstürzten Meeting am Flughafen Heathrow einige Karteikarten vergessen. Darauf standen Eintragungen, wie mit der Del Ponte am besten umzugehen ist. Einige Zeit später ließ ich es mir nicht nehmen, ihr die »Betriebsanleitung für Del Ponte« zurückzugeben. Ich sagte ihr, dass ich – aus »historischem Interesse« – eine Kopie behalte. Denn es war schon eine lesenswerte Lektüre, wie politisch unangepasst ich sei.
»Wie lange soll das Engagement denn dauern?«, wollte ich wissen. Jetzt war Alexandre Fasel am Apparat, unser Schweizer UNO-Botschafter in Genf; heute ist er unser Botschafter in Großbritannien. Sämtliche Diplomaten schienen meine Privatnummer zu haben. »Drei, maximal acht Monate«, sicherte er mir zu. Den grünen Rasen von Ascona mit den ausgedörrten Wüsten von Syrien tauschen? Ich las ja noch immer mit Vorliebe die Berichte aus Den Haag, wo die Prozesse des Jugoslawien-Tribunals zum Abschluss gebracht wurden. Die Anstrengungen zur Festnahme des untergetauchten Serbenführers Radovan Karadžić und seines Generals Ratko Mladić waren noch nicht von Erfolg gekrönt. Beide liefen frei herum. Ich stand in Kontakt mit meinem Nachfolger am Kriegsverbrechertribunal. Nur eine Frage der Zeit, dessen war ich mir gewiss, bis unsere Strategie zum Ziel führen würde. Und als die Nachricht kam, dass man Karadžić festgesetzt hatte, war ich überglücklich. Er hatte unbehelligt in Belgrad als »Alternativmediziner« gearbeitet. Es war tatsächlich das einzige Mal, dass ich bereute, nicht mehr dazuzugehören. Nur zu gern hätte ich ihn einvernommen, 12 Jahre, nachdem sein Haftbefehl ausgestellt worden war. Wer waren Ihre Fluchthelfer? Das hätte ich ihn gern selbst gefragt. Schließlich hatten wir mehrere Male Kenntnis von seinem Aufenthaltsort, doch stets wurde er vor dem Zugriff gewarnt. Seine Völkermordtaten brachten ihm 40 Jahre ein. Eine geringe Genugtuung für die Menschen von Srebrenica.
Auf dem Balkan und als Chefanklägerin im Ruanda-Prozess hatte ich viele schlimme Dinge gesehen. Und doch, meine Psyche hatte offenbar nichts zu verarbeiten. Da tauchten keine Bilder vor meinem geistigen Auge auf, nachts schlief ich wie ein Murmeltier. Doch wollte ich wirklich wieder an Massengräbern stehen, Exhumierungen von Leichen aus Senkgruben anordnen? Ich hatte ja praktisch erst meine Koffer ausgepackt, war noch nicht ganz zu Hause angekommen.
Sollte ich den Posten annehmen, würden irgendwo bestimmt neue Karteikarten ausgestellt werden: Del Ponte, Carla, unangepasst. Aber ich musste mir eingestehen: Menschenrechtsverletzungen – egal wo auf der Welt – würden immer Teil meines Lebens bleiben, und diese Art von Arbeit verlangte nach einer unangepassten Person. Ich sagte dem EDA zu. Besprach mich mit niemandem. Schließlich, so dachte ich mir, wäre die Aushilfe bei der UNO nur eine Art »Teilzeitbeschäftigung«. Ich war gespannt, welchen Schimpfnamen man sich dieses Mal für mich einfallen lassen würde.
* United Nations, Zusammenschluss von 193 Staaten als United Nations Organization (Organisation der Vereinten Nationen). Abgekürzt als UNO oder kurz UN.
Im Auftrag des UNHRC
Als ich im März 2012 zur UN nach Genf reiste, zogen sich die UN-Beobachter gerade aus Damaskus zurück. Rebellen hatten das Stadtzentrum mit Mörserbeschuss belegt und um ein Haar ihr Hotel getroffen. Die Arabische Liga hatte ihre Beobachter aus der Syrien-Mission bereits abgezogen. Die UN und die Arabische Liga hatten daraufhin den ehemaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan zum Sondergesandten für Syrien ernannt. Er sollte zwischen den Kriegsparteien vermitteln. Ein kleines Kommando von 250 unbewaffneten UN-Soldaten sollte eine Waffenruhe beobachten (die umgehend gebrochen wurde). Der UN-Sicherheitsrat scheiterte ein ums andere Mal beim Versuch, eine Resolution zur Verurteilung der Gewalt zu verabschieden. Russland und China hielten zu Assad und blockten dies mit ihrem Veto ab. Währenddessen debattierte in Brüssel die EU, ob nach dem Embargo, das bis Mai bestehen sollte, Waffen an die Rebellen geliefert werden könnten (Frankreich und Großbritannien waren dafür).
Nicolas Sarkozy hatte die Assad-Regierung scharf für den Tod von französischen Journalisten kritisiert. Die Arabische Liga hatte Syrien aus der Mitgliedschaft entlassen. Recep Tayyip Erdoğan hatte alle türkischen Staatsbürger aufgefordert, Syrien zu verlassen. An der Grenze zu Israel kam es zu Schusswechseln zwischen israelischen Truppen und einem syrischen Militärposten. Kurz: Die Destabilisierung der Region war in vollem Gang.
Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki-moon, bezifferte die Zahl der bisherigen Opfer mit 70 000. Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Navanethem Pillay, hatte Assad den Tod Tausender Zivilisten vorgeworfen. Und: Pillay hatte dem UN-Sicherheitsrat empfohlen, den Internationalen Strafgerichtshof anzurufen. Die Frau hatte verstanden, worum es ging. Just zu diesem Zeitpunkt betrat ich die Bühne – Ex-Strafanklägerin, Ex-Bundesanwältin. Reaktivierte Verbrecherjägerin.
Von den Vorgängen im fernen Syrien war in den Räumen des Genfer Palais Wilson nichts zu spüren. Auf den sonnendurchfluteten Fluren, über marmorne Treppen mit schmiedeeisernen Geländern, waren UNO-Mitarbeiter ohne erkennbare Hektik unterwegs. Sie trugen Akten von einer Etage in die andere, unterhielten sich mit leisen Stimmen und taten, was man als Angestellter einer globalen Organisation mit 193 Staatsmitgliedern zu tun hat. Der direkt am See liegende, wertbeständige Gebäudekomplex unterhielt das Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (UNHCHR). Und die Hochkommissarin – ich kannte »Navi« aus Den Haag, wo sie die Robe einer Richterin getragen hatte – flüsterte mir zu: »Carla, kannst du uns in der Schweiz nicht ein anderes Gebäude finden? Dieses wird zu klein!« Die Schweiz hatte der UN den ehrenwerten Palais mietfrei überlassen, doch er platzte aus allen Nähten. Der Bund hatte aber keinen anderen Palast in petto, den er zum Nulltarif zur Verfügung stellen konnte.
Dieser Bau sollte während der kommenden Monate die Basis unserer Kommission sein. Noch war meine Aufgabe nicht genau formuliert und meine Aufnahme in dieses Gremium unbestätigt. Paulo Sérgio Pinheiro hieß mich höflich willkommen. Der 1944 geborene Brasilianer war 2011, verhältnismäßig bald nach Ausbruch der Kämpfe, zum Kopf dieser Kommission gemacht worden. Er hatte bereits eine lange UNO-Karriere hinter sich. Noch länger war seine akademische Laufbahn. Ich lernte die andere Frau in der Kommission kennen, Karen Koning AbuZayd. Sie war dem Präsidenten treu ergeben. Die 1941 geborene Amerikanerin hatte sich in UN-Kreisen einen Namen in Flüchtlingsfragen gemacht. Neu für die Kommission vorgeschlagen war zusätzlich der Thailänder Vitit Muntarbhorn – er war einige Jahre jünger als der Rest von uns, galt jedoch bereits als Experte auf dem Gebiet der Menschenrechte. An der Universität Bangkok lehrte er Rechtswissenschaften. Die UNO hatte ihn 2004 für sein Engagement in der Lehre der Menschenrechte ausgezeichnet.
Ein recht illustres Grüppchen also,