Der Schlüssel zur anderen Welt. Jörg Kressig

Der Schlüssel zur anderen Welt - Jörg Kressig


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ich die Kette in der Hand hielt, von der meine Großmutter gesagt hatte, dass sie mir zugedacht war, überwältigten mich Gefühle. In einer Serie von Blitzen schossen mir die Bilder, die sie mir kommuniziert hatte, durch den Kopf. Jetzt begriff ich, was sie mir hatte sagen wollen. Die roten Rosen waren ihre Art anzuerkennen, dass sie geliebt wurde, weil sie zu Dutzenden von Leuten niedergelegt worden waren, die sie kannten und denen sie wichtig war. Der Marienkäfer war eine Erinnerung, dass sie immer bei uns sein würde. Und die tiefste Einsicht war, dass meine Großmutter darum gewusst hatte, dass bestimmte Familienmitglieder ihren Besitz zu ihrem Gewinn plündern würden, statt in einer Zeit des Verlusts als Familie zusammenzukommen. So ließ sie uns wissen, dass die enttäuschenden Entscheidungen der Lebenden ihren Frieden auf der anderen Seite nicht störten.

      In dem Moment verstand ich, dass die Symbole und ihr Kontext oft viel tiefere Botschaften in sich bergen, als es zunächst den Anschein hat. Mehr als alles andere führte es mir vor Augen, dass mein verzweifelter Wunsch, mich in der Nacht ihres Todes von meiner Großmutter zu verabschieden – ein Gefühl, das wohl viele nachvollziehen können, die sich einem Verlust gegenübersehen – unnötig gewesen war. Der Tod bedeutet nicht, dass man Lebewohl sagen muss.

      In den Jahren nach dem Tod meiner Großmutter änderte sich mein Leben stark. Ich machte meinen Tagesablauf durch und war mir der Welt um mich herum bewusst, aber ich begann auch, neue Eindrücke und Bilder zu erfahren. Sie unterschieden sich in ihrer Beständigkeit – manchmal kamen sie im Traum, manchmal im Wachen. Manchmal sah ich viele an einem Tag; zu anderen Zeiten konnten Wochen ohne bemerkenswerte Visionen oder Einsichten vergehen. Ich wusste irgendwie, was geschah, oder hatte doch eine Vermutung. Es war jedoch nur eine bizarre, scheinbar willkürliche Fähigkeit. Es gab kein Benutzerhandbuch, das mir gesagt hätte, worum es sich dabei handelte oder wie ich sie benutzen sollte.

      Ich war dankbar, dass ich meine Großmutter hatte loslassen dürfen, aber ich war auch überrascht, dass sie keine Botschaften für meine Mutter oder meinen Vater geschickt hatte. Sie betrauerten ihren Verlust noch immer zutiefst. Wie ich später lernen sollte, machen manche Individuen nach ihrem Tod einen Prozess durch, bei dem sie »Funkstille« mit unserer Daseinsebene halten. Sie gehen ihr Leben noch einmal durch, um ein tieferes Verständnis der Wirkung, die sie hinterlassen haben, zu erlangen. Die Zeit, die dieser Prozess in Anspruch nimmt, ist bei jedem Individuum anders und davon abhängig, wie sie sich nach ihrem Hinübergehen auf den neuen Zustand einstellen. Ich habe erfahren, dass es nach dem Tod völlig normal sein kann, aus mehreren Gründen von seinen Lieben abgekoppelt zu fühlen. In anderen Fällen erleben Menschen Zeichen von ihren Lieben schon kurz nach deren Tod. Die Art, wie ein Individuum von der anderen Seite sich entscheidet, Kontakt aufzunehmen, kann variieren. Ich bin immer wieder überrascht, wie sehr die Verstorbenen das Wesen derer widerspiegeln, die sie im Leben waren.

      Auch wenn ich nur wenige bekannte Gesichter in meinen medialen Sitzungen gesehen habe, kamen doch um so mehr Fremde durch. Sie versuchten, ihre Botschaften mit mir zu teilen, manchmal erfolglos. Die meisten dieser frühen Visionen kamen in einer Form, die wir alle kennen: in Träumen. Meine Jahre in der Mittelschule waren voll nächtlicher Schrecken und frustrierender Träume, die anstrengender waren als das Wachen, und zwar weil ich während der meisten innerlich wach war. An den wenigen Morgen, an denen ich mich nicht an die Träume der vergangenen Nacht erinnern konnte, fühlte ich mich kurz normal und erleichtert. Anfangs war es faszinierend, mit kristallklarem Bewusstsein in die unterschiedlichsten Situationen versetzt zu werden, aber bald fühlte es sich mehr wie eine Plage an statt wie eine nützliche Fähigkeit. Alles, was ich mir wünschte, war davon frei zu sein.

      Eines Morgens wachte ich auf, nachdem mich eine Frau mit einer spezifischen Nachricht für meine Mutter besucht hatte. Ich war im Tiefschlaf und wie immer innerlich wach, als eine kurzhaarige Brünette vor mir auftauchte. Sie war nicht viel älter als meine Eltern. Anders als meine Großmutter, die in meiner ersten Version als Jugendliche auftrat, projizierte diese Frau das Alter, in dem sie gestorben war. Da ich mir nicht sicher war, ob sie mit mir reden würde, versuchte ich so viele Hinweise wie möglich über das Leben dieser Frau und die Ereignisse, die zu ihrem Tod geführt hatten, zu sammeln. Mir fielen ihre langen Ohrringe auf, die ihr fast bis auf die Schultern herabhingen. Sie trug Stoffe in den unterschiedlichsten Farben und es faszinierte mich, wie kompliziert und detailverliebt ihr Erscheinungsbild war. Besonders faszinierte mich die Tatsache, dass jene, die mich nachts besuchten, so gekleidet waren, als seien sie niemals gestorben. Von allen Fragen, die sich mir stellten, machte mich die Tatsache, dass Verstorbene bestimmte Kleidung trugen, am neugierigsten und verblüffte mich zugleich auch.

      Nein, in der geistigen Welt wird kein Polyester hergestellt. Wie ich später herausfand, hängt das Erscheinungsbild eines Verstorbenen gegenüber einem Medium damit zusammen, wie er sich zu präsentieren entscheidet. Normalerweise zeigen sich die Seelen auf eine Art, mit der wir etwas anfangen können – ganz so wie im Leben, da das Erscheinungsbild eines Menschen uns intime Details seiner Persönlichkeit verraten kann.

      Im Fall der Frau, die vor mir stand, konnte ich aufgrund der leuchtenden Farben, mit denen sie sich schmückte, sagen, dass es sich bei ihr um jemanden handelte, den man als »Charakter« bezeichnen würde. Mit rauer Stimme sagte sie: »Sag deiner Mutter, dass eine Blume für sie bei meiner Beerdigung bereitliegt. Sie wird sie erkennen.«

      Bevor ich die Botschaft verarbeiten oder um zusätzliche Details bitten konnte, wachte ich plötzlich auf. Mein Gesicht war heiß und verschwitzt. Erschöpft öffnete ich die Augen und die Sonne schien zum Fenster herein. Meine Mutter stürmte ins Zimmer, wie so oft. Da ich meine Botschaft für sie nicht vergessen wollte, platzte ich, ohne nachzudenken, mit dem heraus, was ich vor nur einigen Augenblicken gesehen hatte. Was folgte, war einer der Wendepunkte unserer Beziehung, sie bekam eine Bestätigung auf die persönlichste Art, die man sich vorstellen kann.

      Die Haare auf den Armen meiner Mutter richteten sich auf und sie sah auf einmal nicht länger geistesabwesend aus, sondern völlig aufmerksam. Unsicher, wie sie reagieren sollte, setzte sie sich still hin. Plötzlich rannte sie aus dem Zimmer und ein paar Sekunden später kam sie wieder – mit einer schwarzen Seidenblume und einem Foto. In diesem Moment erst bemerkte ich, dass meine Mutter ganz in Schwarz gekleidet war. Sie erklärte mir, dass sie gerade von der Beerdigung einer langjährigen Freundin nach Hause gekommen sei. Wir starrten einander an. Meine Mutter hatte niemandem erzählt, dass sie auf die Beerdigung einer Freundin ging, ganz zu schweigen davon, dass sie beim Nachhausegehen eine Blume mit einer Notiz bekommen hatte, die lautete: »Danke für deine Freundschaft.« Ich beschrieb ihr, dass die Frau eine rauchige Stimme und kurzes braunes Haar gehabt hatte und alle Skepsis, die meine Mutter vielleicht noch hätte hegen können, war dahin. Obwohl sie nicht begriff, wie ich wissen konnte, was ich wusste, war ihr anzusehen, dass die unbezweifelbare Nachricht von ihrer Freundin sie tröstete. Sie musste meine Fähigkeit nicht verstehen, um dank ihrer loslassen zu können. Ganz davon abgesehen gab es keine Erklärung für das, was ich durchmachte.

      Dass ich diesen Teil meiner selbst nicht begriff, hielt mich nicht davon ab, Fragen zu stellen, und das tut es auch heute nicht. Ich stellte fest, dass sich aus jeder Antwort zahllose neue Fragen ergaben und es verlorene Liebesmüh war, alles bewusst herausfinden zu wollen. Ich würde diese blitzartigen Einsichten haben, ob ich sie nun begriff oder nicht, und konnte nicht umhin, es faszinierend zu finden, was die einzelnen Zeichen und Symbole bedeuteten, besonders dann, wenn sie sich wiederholten.

      Mein Ringen im Traum holte mich später auch im Wachen ein. Der Unterschied bestand darin, dass es kein Erwachen gibt, wenn die Visionen am Tag kommen. Ich musste lernen, Haltung zu bewahren, wenn mich eine Welle von Visionen heimsuchte. Anfangs war es schwierig, meine Reaktion auf das, was ich sah, zu verbergen. Glücklicherweise achtete niemand wirklich auf meine Momente geistiger Abwesenheit, weil ich noch so jung war. Ich habe auch heute noch nicht gelernt, den Informationsfluss auszublenden, aber ich habe herausgefunden, wie ich ihn aufs geistige Abstellgleis schieben kann. So konnte ich mich in den meisten Fällen, ohne allzu abgelenkt zu sein, auf das konzentrieren, was in meinem täglichen Leben geschah. Wie man sich denken kann, war das nicht notwendigerweise ein reibungsloser Prozess – es gab oft Zeiten in der Schule, da ich mit jemandem redete und plötzlich völlig den Faden verlor. Ich konzentrierte mich auf das, was ich um die Person her sah, statt auf das,


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